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Vom Aargau in die Karibik und zurück

Martin R. Deans Roman „Tabak und Schokolade“
Gert Eisenbürger

Was hat die Schweiz mit der Republik Trinidad & Tobago zu tun? Für die meisten sicherlich wenig, für den Schweizer Autor Martin R. Dean (Jahrgang 1955) dagegen sehr viel. Schließlich stammen sein Vater und sein Stiefvater aus Trinidad und er selbst hat die ersten fünf Lebensjahre auf der Karibikinsel verbracht. Damit sind wir schon mitten in Deans neuem Roman „Tabak und Schokolade“, in dem er seine Familiengeschichte reflektiert.

Sowohl Trinidad & Tobago als auch die Schweiz gelten in ihren Regionen als „reich“. Die Inselrepublik besteht aus dem größeren Trinidad und dem kleinen Tobago und zählt zu den wohlhabendsten Staaten der Karibik, dank seiner – inzwischen weitgehend erschöpften – Öl- und den – noch reichlich vorhandenen – Gasvorkommen. Die Republik ist Ziel zahlreicher Migrant*innen von den Nachbarinseln, in jüngerer Zeit auch aus Venezuela, vor dessen Küste die Inseln liegen. Über das Image der Schweiz in Sachen Vermögen braucht man keine Worte zu verlieren.

Reichtum ist indes nie gleich verteilt. Beide Länder sind durch große gesellschaftliche Unterschiede gekennzeichnet. Während in Trinidads Hauptstadt Port of Spain SUVs und Luxuskarossen das Straßenbild bestimmen und es große Areale mit schicken, hochgesicherten Häusern und Appartements gibt, sind andere Viertel von Armut und Gewalt geprägt. Deshalb gilt Port of Spain als eine der gefährlichsten Städte der Welt, wo sich nach Einbruch der Dunkelheit nur noch Wenige auf die Straßen trauen. Von solchen Verhältnissen ist die Schweiz weit entfernt, aber auch dort gibt es soziale Verwerfungen. Es findet sich viel gediegener Wohlstand, aber auch zahlreiche Menschen, die sich jeden Monat fragen, wie sie die hohen Mieten und Lebenshaltungskosten bezahlen sollen.

Beides spiegelt der Roman „Tabak und Schokolade“. Die klassische Unterscheidung zwischen Autor und Ich-Erzähler ist darin nur bedingt zu treffen, zumindest auf den ersten Blick. Martin R. Dean rekonstruiert seine Familiengeschichte und illustriert sie an einigen Stellen sogar mit Familienfotos. Seine Erzählung beginnt vor der eigenen Geburt. Die Mutter stammt aus einem Arbeiterhaushalt in einer Kleinstadt im Süden des Kantons Aargau, in der Nähe von Luzern. Studieren war für sie finanziell nicht drin, aber die junge Frau wollte weg, sich nicht mit dem vorgezeichneten Weg als Verkäuferin abfinden. Deshalb ging sie Anfang der 1950er-Jahre als Au-pair nach London.

Zu dieser Zeit warb die britische Regierung in den karibischen Kolonien Arbeitskräfte an. Auch wenn dunkelhäutige Menschen in Großbritannien aufgrund seiner Kolonialgeschichte längst nicht so auffielen wie in der Schweiz oder der jungen Bundesrepublik, bedeutete die Ankunft Tausender junger Männer aus Jamaica, Trinidad und den kleineren Inseln für die britische Gesellschaft ein Novum. Sicher gab es rassistische Abwehrreaktionen; jüngere Leute, speziell Frauen, begegneten den Neuankömmlingen jedoch häufig mit – auch erotischem – Interesse, das auf Seiten der karibischen Migranten, die ganz überwiegend ohne Familien gekommen waren, ebenso vorhanden war (vgl. die Besprechung des Romans „Die Taugenichtse“ von Samuel Selvon in der ila 440).

Auch Deans Mutter lernte in London einen Trinidader kennen und wurde, gerade 18-jährig, von ihm schwanger. Sie kehrte mit ihm zunächst in die Schweiz zurück, wo sie einen Jungen entband. Der Erzähler/Autor kann nur vermuten, dass dem Elternpaar und dem dunkelhäutigen Kind viele Vorbehalte und Ablehnung entgegengebracht wurden, gesprochen wurde darüber in der Familie nie. Bald zogen sie gemeinsam nach Trinidad.

Dort erwies sich der Vater als Trinker und als gewalttätig. Um sich und das Baby zu schützen, floh die Mutter nach wenigen Monaten vor ihrem Partner. Sie kam zunächst auf einer Plantage einer Neuseeländerin unter. Später fand sie einen Job an der „University of the West Indies“, wo sie eine neue Beziehung mit einem trinidadischen Medizinstudenten einging. Mit ihm ging sie fünf Jahre später nach Europa. Sie und ihr Sohn zogen direkt in ihren Heimatort, ihr Mann beendete zunächst sein Studium in Heidelberg. Danach übersiedelte auch er in die Schweiz und ließ sich als Arzt nieder. Die Mutter war nun die Gattin eines Mediziners mit gutgehender Praxis. Das steigerte ihr soziales Prestige nur bedingt, denn ihr zweiter Mann wurde zwar fachlich geschätzt, blieb aber wegen seiner dunklen Hautfarbe dennoch ein Fremdkörper im Ort.

Spurensuche in Trinidad…

Erst viel später, nach dem Tod beider Väter und der Mutter, beginnt sich der längst erwachsene Autor mit seinen Wurzeln auseinanderzusetzen. Bei der Auflösung des Haushalts seiner Mutter findet er ein Fotoalbum mit Bildern aus seiner frühen Kindheit in Trinidad, einer Phase im Leben von Mutter und Sohn, die in der Familie weitgehend tabuisiert war. Bereits nach dem Tod seines leiblichen Vaters, Jahre vor dem der Mutter, hatte der Sohn Kontakt zu dessen Familie bekommen. Wenige Wochen nach dem Begräbnis der Mutter reist er zusammen mit einem in London lebenden Vetter nach Trinidad, um die dortigen Verwandten und deren Geschichte kennenzulernen.

Trinidad & Tobago ist ein ethnisch differenziertes Land. Die zunächst spanischen, dann britischen Kolonialisten importierten Sklav*innen aus Afrika, die auf den großen Plantagen schuften mussten, um in Europa begehrte Agrargüter anzubauen. Als die Sklaverei im britischen Kolonialterritorium verboten wurde, wollten die Plantagenbesitzer an ihrem Produktionsmodell festhalten. So begannen sie, Vertragsarbeiter in Indien anzuwerben. Hinter diesem nach formalisierten Arbeitsbedingungen klingenden Begriff verbarg sich die faktische Fortsetzung der Zwangsarbeit auf den Plantagen. Schließlich mussten die Inder (die Angeworbenen waren ganz überwiegend Männer; die wenigen Frauen waren von extremer sexueller Ausbeutung betroffen) zum „Abarbeiten“ der Kosten für die Überfahrt bis zu zehn Jahren auf den Plantagen arbeiten. Erst dann konnten sie entweder – weitgehend mittellos – nach Indien zurückkehren oder sie erhielten etwas Land in Trinidad. Letztere Option wählte die Mehrheit von ihnen, auch Deans Vorfahren. Die indischstämmigen Bürger*innen stellen in Trinidad & Tobago sowie in Guyana heute die Bevölkerungsmehrheit, in Suriname (dem früheren Niederländisch-Guyana) die zweitgrößte ethnische Gruppe. In Jamaika und den meisten britisch kolonisierten Inseln der Ostkaribik ist die indischstämmige Community deutlich kleiner, dorthin waren nur relativ wenige Vertragsarbeiter gekommen.

Zur Absicherung ihrer Kolonialherrschaft betrieben Briten und Niederländer eine Politik des „Teile-und-herrsche“. Durch Vergünstigungen und die Vergabe von Jobs in der Kolonialverwaltung wurden einzelne Ethnien bevorzugt (in Trinidad und Guyana meistens die Afroamerikaner*innen). Damit sollten politische und ökonomische Widersprüche vertieft werden, um gemeinsamen Aktionen gegen die Kolonialmächte vorzubeugen. Dennoch kamen in der zweiten und dritten Generation auch manche indischstämmige Familien in Trinidad zu Wohlstand und Einfluss, darunter die von Deans Vater.

Mit seinem Roman entreißt Dean das in Mitteleuropa kaum bekannte Kolonialkapitel der asiatischen Vertragsarbeiter (in Suriname kamen sie aus Indien und Indonesien) dem Vergessen und reflektiert, was das für die auf einen anderen Kontinent verpflanzten und damit entwurzelten Menschen bedeutete. Gerade in diesen Passagen zeigt sich, dass das Buch keineswegs eine Autobiografie, sondern ein wohl kombinierter Roman ist. Nicht der Ich-Erzähler schildert nämlich diese Geschichte, vielmehr setzt sie sich wie ein Mosaik aus den Schilderungen der Verwandten in Trinidad zusammen. Das wirkt keineswegs konstruiert. Hier übernehmen alle Personen einen Part, der sich jeweils wie zufällig ergibt – das ist literarisch toll gemacht.

…und der Schweiz

Während Kolonialismus und ethnische Zugehörigkeit in Trinidad & Tobago bis in die Gegenwart die wichtigsten Gründe für Armut und Benachteiligung darstellen, sind die Mechanismen der sozialen Hierarchisierung in der Schweiz sehr viel subtiler, aber nicht weniger wirkungsvoll. Mit der Geschichte des Schweizer Großvaters und der aus Rügen eingewanderten Großmutter zeigt der Roman, wie in der Arbeitswelt, den Wohnvierteln, den Schulen oder den Vereinen Strukturen existier(t)en, die jedem und jeder klarmach(t)en, wer wo hingehört, vor allem: wer wo nichts verloren hat. Besonders dort, wo Bürger- und Kleinbürger*innen ihr „Schweizertum“ zelebrieren, haben Habenichtse oder Zugewanderte definitiv keinen Platz.

Obwohl „Tabak und Schokolade“ ein sehr persönlicher Roman ist, beleuchtet er ein historisches Panorama, hinter dem fortdauernde soziale wie rassistische Diskriminierungen sichtbar werden. Es handelt sich um ein anregendes Stück Literatur, das zeigt, wie ökonomische und politische Machtstrukturen die Lebensbedingungen der Menschen bestimmen, wie die einzelnen Individuen damit mehr oder weniger gut klarkommen, sich behaupten oder scheitern. Und manche so etwas wie Glück finden. Dabei spielen auch Tabak und Schokolade eine Rolle.