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Unklare Verhältnisse

Uruguay: Stichwahl wird spannend

Die Umfrageinstitute sollten recht behalten: Es war ein knappes Rennen. Sogar so knapp, dass sich, unabhängig vom Ausgang der Stichwahl zum Präsidentenamt am 24. November, keiner der beiden politischen Blöcke als Sieger sehen kann. Die Wahlberechtigten waren aufgerufen, einen neuen Präsidenten und Vizepräsidenten sowie die Mitglieder von Senat und Abgeordnetenkammer zu wählen. Weder die bisherige Regierungskoalition noch die linke Opposition werden in den nächsten fünf Jahren über eine Mehrheit im Parlament verfügen, die eine Umsetzung ihrer politischen Ziele garantieren würde.

Wolfgang Ecker

Hupkonzerte, spontane Demonstrationen und lautes Böllerknallen gehören in Uruguay normalerweise zu den Ritualen am Ende eines Wahltages, mit denen die Anhänger*innen des siegreichen politischen Lagers dessen Triumph feiern. Nach dem Urnengang am 27. Oktober blieb es jedoch weitgehend ruhig. Das Wahlergebnis dürfte die meisten tendenziell ratlos gemacht haben, was die politische Zukunft des Landes betrifft. Keiner scheint gewonnen zu haben. Yamandú Orsi von der Frente Amplio (Breite Front), dem gemäßigten oppositionellen Linksbündnis, bekam rund 44 Prozent der Stimmen. Da er damit die erforderliche Mehrheit von über 50 Prozent der Stimmen nicht erreichte, zieht er Ende November in die Stichwahl gegen den mit rund 27 Prozent zweitplatzierten Álvaro Delgado von der regierenden konservativen Partido Nacional (PN).

Sicher ist, dass die bisherige Rechtskoalition ihre Mehrheit in beiden Kammern der uruguayischen Legislative, Senat und Abgeordnetenhaus, verloren hat, ohne dass deswegen das Linksbündnis Frente Amplio seinerseits über eine eigene parlamentarische Mehrheit verfügen wird. Zwar gewann die Linke über 100 000 Stimmen hinzu und verfügt künftig über eine Mehrheit im Senat. Im Abgeordnetenhaus fehlen ihr jedoch dazu zwei Sitze. Um eigene Gesetzesvorschläge gegen den bisherigen Regierungsblock durchzusetzen, wäre sie auf die Unterstützung der mit zwei Abgeordneten neu ins Parlament eingezogenen Partei Identidad Soberana angewiesen. In der Praxis dürfte das jedoch kaum eintreten, so definiert sich Identidad Soberana selbst als „anti-systemisch“ und lehnt entsprechend (zumindest bislang) eine Zusammenarbeit mit den etablierten Parteien ab. Hinzu kommt, dass ihre inhaltlichen Positionen kaum Schnittmengen erkennen lassen. Die Partei steht nicht nur für einen ausgeprägten Nationalismus samt dem dazugehörenden konservativen Kulturbild, sondern bedient darüber hinaus Verschwörungstheorien, wie sie auch in der rechtsextremen Szene verbreitet sind, sei es in Bezug auf die Coronapandemie, die Agenda 2030 der Vereinten Nationen oder das Wirken der Freimaurerlogen.

Enttäuschte Gewinner, zufriedene Verlierer

Vor diesem Hintergrund zeigten sich die meisten Vertreter*innen der Frente Amplio über den Wahlausgang enttäuscht. Zwar wurde das Minimalziel erreicht, mit einer Mehrheit im Senat künftig im Gesetzgebungsprozess nicht mehr übergangen werden zu können. Fest steht aber auch, dass alle mehr erwartet hatten. Bis zuletzt wurde tatsächlich bei Wahlveranstaltungen die Hoffnung genährt, das Bündnis könne die absolute Mehrheit der Stimmen gewinnen und damit bereits im ersten Wahlgang auch das Präsidentenamt. Dieses Ziel wurde deutlich verfehlt.

Die Reaktionen auf das Wahlergebnis von Regierungsseite waren hingegen uneinheitlich. Vor allem Vertreter*innen aus den Reihen der konservativen Partido Nacional und der liberalen Partido Colorado spielten den Verlust von rund 200 000 Stimmen, und damit der eigenen Parlamentsmehrheit, herunter und verwiesen darauf, dass die Koalitionäre in ihrer Gesamtheit immer noch gut 70 000 Stimmen mehr erhalten hatten als die Frente Amplio. In der Freude darüber überschritten einzelne sogar die Grenze zur Realitätsverweigerung. So kommentierte der ehemalige Verteidigungsminister und künftige Senator der Partido Nacional, Javier García, das Wahlergebnis mit den Worten, dass „in Uruguay die Mehrheit der Bevölkerung die Koalition erneut bestätigt“ habe. Auch seine Parteikollegin, die ehemalige Spitzenkandidatin der Koalition bei den Regionalwahlen in Montevideo, Laura Raffo, sprach von einem „großartigen Votum“, angesichts dessen sie vor „Freude explodiert“ sei.

Debakel für Rechtsextreme

Eine Ausnahme in der Interpretation bildeten die Vertreter*innen der rechtsradikalen Koalitionspartei Cabildo Abierto. Für sie gab es nichts zu beschönigen. Die Partei erlebte ein regelrechtes Debakel. Cabildo Abierto war kurz vor den Wahlen 2019 von dem ehemaligen Befehlshaber der Streitkräfte, Guido Manini Ríos, und einigen Mitstreiter*innen, die oftmals zuvor Karriere im Militärapparat gemacht hatten, gegründet worden. Sie bekam auf Anhieb über elf Prozent der Stimmen. Jetzt ist die Partei auf 2,5 Prozent abgestürzt und verliert damit nicht nur neun ihrer vormals elf Mandate im Abgeordnetenhaus, sondern auch alle drei bisherigen Senatssitze.

Obgleich es noch keine detaillierten Angaben zur Wähler*innenwanderung gibt, spricht viel dafür, dass vor allem drei andere Parteien von dem Einbruch profitiert haben dürften. Einerseits die Partido Colorado, deren Auftreten im Wahlkampf von Exponenten des rechten Flügels wesentlich stärker geprägt war als noch vor fünf Jahren, andererseits die bereits erwähnte Identidad Soberana, zu der es einige inhaltliche Überschneidungen gibt. Darüber hinaus dürfte Cabildo Abierto auch an die Frente Amplio verloren haben: Bei den vorangegangenen Wahlen gelang es den Rechtsradikalen, mit ihrem vollmundigen Law-and-Order-Versprechen in den marginalisierten, von ausufernder Alltags­kriminalität heimgesuchten Stadtteilen zu punkten, die zuvor traditionelle Hochburgen der Linken waren. Mit dem Ausbleiben einer spürbaren Verbesserung der Sicherheits­situation verlor die Partei dort schnell wieder an Unterstützung.

Zu dem spektakulärem Absturz der Partei hat zweifelsfrei auch beigetragen, dass sie durch einige Skandale wegen Vetternwirtschaft in den von ihr geleiteten Ministerien schweren Schaden nahm. Das widersprach ihrem selbst inszenierten Klischee von Militärs, die nicht korrupt seien. Inwieweit das Debakel auch das Ende von Maninis politischen Ambitionen sein könnte, muss sich noch zeigen. Als neue, aufstrebende Kraft ist Cabildo Abierto jedoch Geschichte.

Gescheiterte Plebiszite

Zumindest im Hinblick auf die beiden parallel zu den Wahlen abgehaltenen Volksabstimmungen (siehe ila 479) gab es eindeutige Ergebnisse. Beide verfehlten klar die notwendige Mehrheit. Im Fall des von den Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen initiierten Plebiszits zur künftigen Rentenpolitik war das Ergebnis recht absehbar gewesen, da selbst eine Mehrheit innerhalb der Frente Amplio den Vorschlag abgelehnt hatte.

Unerwartet war hingegen das Scheitern einer vom Regierungslager eingebrachten vorgeschlagenen Verfassungs­änderung. Damit sollte mit dem fast 200 Jahre alten Grundsatz gebrochen werden, nächtliche Haus­durchsuchungen durch Sicherheits­kräfte kategorisch zu untersagen. Offensichtlich konnten die Befürworter*innen keine Mehrheit davon überzeugen, dass die Erweiterung der Polizeibefugnisse in diesem Fall mehr Nutzen als Schaden mit sich bringen würde. Das Ergebnis war insofern überraschend, da in Umfragen bislang von einer breiten Unterstützung des Vorhabens ausgegangen wurde. Die Bekämpfung der Alltagskriminalität gilt zudem seit Jahren als eine der, zumindest in entsprechenden Untersuchungen genannten, wichtigsten Forderungen der Bevölkerung an die Politik.

Warten auf die Stichwahl

Alle Augen sind jetzt auf die Stichwahl um das Präsidentenamt am 24. November zwischen Álvaro Delgado und Yamandú Orsi gerichtet. Bis dahin werden sich beide Lager bemühen, Optimismus zu verbreiten. Die Rechte wird auf den zwar geschrumpften, aber immer noch erzielten Vorsprung in absoluten Stimmen in der ersten Runde verweisen. Die Linke kann hingegen auf die Erfahrungen der Urnengänge in den vergangenen Jahrzehnten Bezug nehmen, bei denen es ihr immer gelang, in Stichwahlen deutlich zuzulegen, da Widersprüche zwischen Liberalen und Konservativen immer dazu führten, dass nicht alle Anhänger*innen den Wahlempfehlungen der Parteispitzen Folge leisteten.

Nach dem knappen Ausgang der Parlamentswahlen ist es hingegen praktisch unmöglich, eine seriöse Einschätzung über das zu erwartende Ergebnis der Stichwahl abzugeben. Nur eines scheint sicher: Es wird wieder ein knappes Rennen.