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Verachtet, vernachlässigt, ermordet

Nekropolitik gegenüber trans Personen: Travestizide in Lateinamerika

Wann hat das angefangen, dass Androgynität, also das Verschmelzen von männlichen und weiblichen Attributen, und auch das Verständnis für unterschiedliche Perspektiven, egal ob männlich, weiblich oder uneindeutig dazwischen, ihre Magie verloren? Warum stoßen trans Menschen auf derart viel Ablehnung und Hass und warum sind sie so sehr von Gewalt und Ausgrenzung bedroht, dass Aktivist*innen gar von „travesticidio“, Travestizid, sprechen? Transfeindlichkeit ist ein Fakt, sei es vonseiten „radikaler“ Feministinnen (terfs), die trans Personen nicht als ihresgleichen akzeptieren, sei es von Religiösen, die sie als Sodomiten und widernatürlich ansehen, oder aus der schlichten Ablehnung gegenüber der Vorstellung heraus, dass es mehr als nur zwei Geschlechter gibt.

Charlotte Fischer

Transfeindlichkeit in Lateinamerika ist ein Import aus Europa. Das behaupten viele Stimmen, unter anderem indigene two-spirit Aktivist*innen in Nordamerika und Wissenschaftler*innen wie María Lugones1, die die „Kolonialität des Geschlechts“ in den Andenregionen untersucht haben. Man kann davon ausgehen, dass es in den Amerikas vor der Kolonisation eine Art Patriarchat gab, das sich samt seiner Rollenvorstellungen durch den Kolonialismus veränderte und verstärkte. Dokumente lassen darauf schließen, dass die Kolonisatoren nur bereit waren, mit den männlichen Bewohnern einer Region zu verhandeln und Handel zu treiben. Dadurch entstanden Handelsbeziehungen und Komplizenschaften zwischen indigenen Männern und den europäischen Siedlern, während Frauen davon ausgeschlossen waren. Sofern sie vorher in der Öffentlichkeit gestanden hatten, wurden sie durch solche „Männerbünde“ ins Private zurückgedrängt. Die wenigen Rechte und Befugnisse, die die indigenen Bevölkerungen noch hatten, galten nur noch für die Männer und platzierten die indigenen Frauen am unteren Ende der Hierarchie. Die Vorstellung von der männlichen Vorherrschaft setzte sich wohl kontinentweit in den Köpfen der indigenen Bevölkerungen fest und prägte von da an auch die mestizischen Gesellschaften. Dieses koloniale Patriarchat steht für eine duale Geschlechterordnung, die jegliche Form queeren L(i)ebens verneint und die Existenz fluider Geschlechteridentitäten negiert. Dabei belegen wissenschaftliche Untersuchungen deren Existenz in den präkolonialen Amerikas. Ein bekanntes Beispiel sind die „two spirits“ in Nordamerika. Sie nahmen während oder bereits vor der Pubertät die soziale Rolle des anderen Geschlechts an, wurden dabei unterstützt und auf das Erwachsenenalter vorbereitet. Sie genossen ein hohes Ansehen, schließlich wurden ihnen übernatürliche Fähigkeiten zugesprochen sowie das Potenzial, verschiedene Perspektiven einnehmen zu können. Sie galten weder als männlich noch weiblich, sondern als eine eigene Gruppe. Außerdem gibt es Überlieferungen über trans Personen aus den Andenregionen, die Fruchtbarkeitsriten und andere schamanische Rituale begleiteten. Diese Beispiele für Geschlechtsidentität jenseits der patriarchalen Dualität dokumentierten die spanischen Chronisten als unnatürlich und heidnisch. Sie verschwanden langsam aus der Öffentlichkeit. In den Kolonien setzten sich weitestgehend Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität nach europäischen Vorbild durch.

Trans Personen und travestis heute

Travestis und trans Personen sind jedoch keineswegs ganz aus Lateinamerika verschwunden. Aufgrund der Diskriminierung führen sie häufig ein Leben im Verborgenen. Der Begriff „travesti“ wurde lange als Beleidigung verwendet. In den letzten Jahrzehnten eigneten ihn sich jedoch lateinamerikanische Aktivist*innen an und feiern nun die Kraft der Dualität, die diese Identität mit sich bringt.

Warum ist die Rede von „travesticidio“, wenn die Lebens­bedingungen von trans Menschen thematisiert werden? Die Endung -cidio, aus dem Lateinischen „caedere“ (töten, morden, metzeln), bezeichnet zunächst das Sterben dieser Personengruppe aufgrund struktureller Ungleichheiten beziehungsweise das „Sterbenlassen“ durch die Politik, indem ihr Tod bewusst in Kauf genommen wird. Viele travestis in Lateinamerika leben in schwierigen Verhältnissen. Sie werden stigmatisiert und haben häufig nur eingeschränkten Zugang zum Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen. Etwa 77 Prozent werden, nachdem sie sich als trans Personen zu erkennen geben, aus ihrem Elternhaus verbannt und sind auf sich alleine gestellt. Häufig brechen sie die Schule zu früh ab und besitzen keine gültigen Ausweispapiere, um sich ein neues Leben aufzubauen. Um möglichst viel Anerkennung zu erlangen, beugen sich viele travestis dem weiblichen Schönheitsideal. Dabei geht es vor allem um möglichst große Rundungen. Eine geschlechtsangleichende Operation ist sehr kostspielig und wird, anders als in Deutschland, nicht als notwendig für die mentale Gesundheit angesehen. Aufgrund der Kosten und der Tatsache, dass sie sich von den Gesundheitseinrichtungen nicht verstanden fühlen, greifen sie zu anderen Mitteln: Selbstmedikation mit Hormonen und Experimente mit flüssigem Silikon, das eine günstige Alternative zu Implantaten ist. Das Silikon wird häufig zuhause, mitunter von erfahreneren travestis injiziert. Es kann passieren, dass es sich im Körper ausbreitet, in die Blutbahn gelangt und zu Entzündungen und Verwachsungen führt. Nicht selten sterben sie an den Spätfolgen.

Das Schlechteste aus beiden Welten

Aufgrund der Tatsache, dass travestis sowohl als männlich als auch als weiblich wahrgenommen werden, haben sie mitunter doppeltes Pech. Für die Polizei sind sie männlich genug, um physische Gewalt zu erleben und in Männergefängnissen inhaftiert zu werden. Im engen sozialen Kreis (etwa in der Familie) gelten sie als weiblich genug, um Unterdrückung, Viktimisierung und Demütigung zu erfahren. Hinzu kommen nicht selten Beziehungen zu gewalttätigen, machistischen Partnern.

Da sie auf dem Arbeitsmarkt stark diskriminiert werden, ist Prostitution beinahe die einzige Option für viele travestis. Eine Studie aus Salvador da Bahia ergab, dass 71 Prozent der Studienteilnehmer*innen arbeitslos waren oder sich prostituierten. Sexarbeit wiederum bringt besondere Risiken mit sich: Sexuell übertragbare Krankheiten, Kriminalisierung, Stigmatisierung sowie Gewalt durch Freier und Polizei. HIV/AIDS ist die häufigste Todesursache von travestis unter 35 Jahren, Hassverbrechen die häufigste zwischen 20 und 25 Jahren.
Wie viele travestis Opfer von travesticidios werden, ist schwer auszumachen. Zum einen sterben sie aufgrund struktureller Diskriminierung und Vernachlässigung, zum anderen werden sie ermordet. In vielen Ländern Lateinamerikas haben (meist zivilgesellschaftliche) Organisationen begonnen, die Morde zu dokumentieren, um das Ausmaß zu erfassen. Ein wichtiger Schritt besteht darin, den Tatbestand als solchen anzuerkennen und unter hohe Strafe zu stellen, wie es Argentinien und Mexiko-Stadt gemacht haben. Das Gesetz, das in Mexiko-Stadt bei travesticidios greift, trägt den Namen Ley Paola Buenrostro. Paola Buenrostro, die 2016 starb, war zwar nicht das erste Opfer von travesticidios in Mexiko, aber ihr Fall war der erste, der als solcher anerkannt wurde. Zu verdanken ist das unter anderem einer ihrer Freundinnen, Kenya Cuevas. Die Aktivistin kämpfte gegen die Straflosigkeit beim Mord an ihrer Freundin und dafür, dass Gewalt an trans*Frauen als solche anerkannt und verurteilt wird. Nach wie vor setzt sie sich für die Rechte von travestis ein und gründete 2019 „La Casa de las Muñecas Tiresias“ in Mexiko-Stadt. Das Haus ist ein Zufluchtsort für travestis und bietet Schutz, Gesundheitsversorgung und psychische Unterstützung. Sie selbst saß zehn Jahre lang im Gefängnis für eine Tat, für die sie später als unschuldig befunden wurde. Buenrostros und Cuevas Fälle sind beispielhaft für das Leben von travestis in Lateinamerika, aber auch weltweit. Wenn ihre Fälle als Folgen einer andauernden Transfeindlichkeit anerkannt werden, ist dies ein erster Schritt zur Bekämpfung der Travestizide.

  • 1. Lugones, María, Colonialidad y Género. Tabula Rasa. 2008, Nr. 9 , S. 73-102