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Ein offenes Rennen

Uruguay vor den Wahlen

Am 27. Oktober wird in Uruguay gewählt. Während die aktuelle liberalkonservative Regierung eine ernüchternde Bilanz vorzuweisen hat, mangelt es der linken Opposition an einem klaren Profil. Ein paar konkrete sozialpolitische Maßnahmen stehen im Programm der linken Frente Amplio, doch das meiste sind vage Formulierungen. Folgenreich ist etwas anderes: Die Uruguayer*innen wählen nicht nur eine neue Regierung, sondern stimmen auch in zwei Plebisziten über die künftige Sicherheits- und Rentenpolitik ab. Ein Blick zurück und nach vorne.

Wolfgang Ecker

Vor fünf Jahren war der Jubel innerhalb der uruguayischen Rechten groß. Bei den Wahlen verbuchte sie einen Erdrutschsieg, der ihrer Coalición Republicana, einer Koalition aus fünf Parteien, eine komfortable Mehrheit im Parlament sicherte. Als sich einen Monat später noch der Kandidat der konservativen Partido Nacional, Luis Lacalle Pou, in der Stichwahl knapp gegen den Kandidaten der Linken durchsetzte, schien für sie die Welt wieder in Ordnung. Nach fünfzehn Jahren Regierungszeit des Linksbündnisses Frente Amplio erklärten sie das Experiment für begraben. Uruguay war wieder „normal“ geworden und stand erneut unter der Führung der beiden traditionellen Parteien – Konservative und Liberale –, die die Politik des Landes zuvor über 150 Jahre lang geprägt hatten. Versprochen wurde der Bevölkerung nicht weniger als „die besten fünf Jahre deines Lebens“.

Das waren jetzt die besten Jahre unseres Lebens?

Die Bilanz ist heute ernüchternd. Nicht zuletzt, weil es der Regierung nicht gelungen ist, in den Wahlkampfthemen Kriminalität sowie Wirtschafts- und Steuerpolitik eine spürbare Verbesserung herbeizuführen. Im Gegenteil, trotz erhöhter Polizeipräsenz, erweiterter Befugnisse für die Sicherheitskräfte und Verschärfungen im Strafrecht befindet sich die Zahl der Tötungsdelikte weiterhin auf Rekordniveau, während sich der Einfluss großer Drogenkartelle im administrativen und politischen Bereich sogar weiter vergrößert haben dürfte. Unter anderem nährt die wachsende Bedeutung des Hafens von Montevideo als Umschlagsplatz für Kokainlieferungen nach Europa diese Befürchtung. Und auch die makroökonomischen Zahlen geben keinen Anlass zum Jubel. Die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie hinkt derer anderer Länder in der Region hinterher (mit Ausnahme Argentiniens). Staatsdefizit und Arbeitslosigkeit sind zwar wieder etwas gesunken, doch bewegt sich beides auf demselben Niveau wie fünf Jahre zuvor, als die Rechte die Zahlen noch als „Katastrophe“ interpretierte. Tendenziell verschlechtert hat sich die Einkommenssituation der Beschäftigten, da die Reallohnverluste, die während der Pandemie von Unternehmen betrieben und von der Regierung keineswegs verhindert wurden, bis heute noch nicht vollständig ausgeglichen sind.

Vor diesem Hintergrund ist auch die soziale Bilanz der vergangenen Legislaturperiode größtenteils negativ. Heute leben knapp 50 000 Personen mehr als vor fünf Jahren unterhalb der Armutsgrenze, und auch extreme Armut, also wenn das Einkommen nicht für die Ernährung reicht, gibt es wieder häufiger. Dabei galt diese Form der lebensbedrohlichen Prekarität bis vor Kurzem in Uruguay als praktisch beseitigt. Hinzu kommt, dass Haushaltskürzungen im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen sich vor allem auf die Lebensverhältnisse der ärmeren Bevölkerung nachteilig ausgewirkt haben.

Darüber hinaus wurde in der vergangenen Legislaturperiode eine äußerst unpopuläre Reform des Rentensystems verabschiedet. Entgegen einem expliziten Wahlversprechen beschloss die Regierungsmehrheit, das Renteneintrittsalter schrittweise von 60 auf 65 Jahre anzuheben, wobei gleichzeitig die zu erwartenden Renten gekürzt wurden (siehe ila 461).

Mehr Polizei, weniger Pressefreiheit

Begleitet wurden die sozialen Einschnitte von einem Abbau von in den Jahren zuvor durchgesetzten demokratischen Rechten. Zwar verzichtete das Regierungslager darauf, die wichtigsten Errungenschaften der Vorgängerregierungen, allem voran die Liberalisierung des Abtreibungsrechts, direkt anzugreifen, obwohl ihr rechtsradikaler respektive fundamental-religiöser Rand das gefordert hatte. Durchgesetzt hat sie trotzdem eine Vielzahl von Gesetzesänderungen, die nicht nur die Befugnisse der Sicherheitskräfte im Alltag erhöhen, sondern sich auch negativ auf das Demonstrations- und Streikrecht ausgewirkt haben.

Deutlich verschlechtert hat sich ebenso die Pressefreiheit. Galt Uruguay bis vor dem Regierungswechsel in dieser Hinsicht als regionales „Musterland“, da es unter anderem in den jährlichen Berichten von „Reporter ohne Grenzen“ stets unter den zwanzig bestbewerteten Ländern gelegen hatte, ist es mittlerweile auf Platz 51 abgerutscht. Mit dem vor einigen Wochen verabschiedeten neuen Mediengesetz dürfte sich dieser Trend weiter fortsetzen. Es sieht vor, dass große Medienunternehmen wieder mehr Sendelizenzen besitzen dürfen. Das hatte die Vorgängerregierung mit Verweis auf Monopolisierungstendenzen eingeschränkt. Das aktuelle Regierungslager schüchtert außerdem Medienvertreter*innen ein, die offensiv die diversen Korruptionsskandale angesprochen hatten, die einige Minister*innen das Amt gekostet und sich durch die gesamte Legislaturperiode gezogen hatten.

Und was macht die Opposition?

Angesichts dieser Bilanz könnte man vermuten, dass die Regierung kaum Chancen hat, wiedergewählt zu werden. Zumal mit Álvaro Delgado, der rechten Hand des scheidenden Präsidenten, der aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat der Rechten explizit für die Kontinuität der bisherigen Politik steht. Dem ist jedoch nicht so. Die meisten Prognosen sagen ein sehr knappes Rennen voraus, eines der wichtigsten Umfrageinstitute sogar einen deutlichen Sieg der Rechtskoalition. Als Grund dafür wird oft angeführt, dass die Regierung sich trotz aller Fehlentwicklungen auf die bedingungslose Unterstützung der großen Medienunternehmen (im Besonderen auf die drei großen privaten Fernsehkanäle) verlassen und so stets das Bild vermitteln konnte, mit dem Land gehe es sukzessive aufwärts. Es stimmt zwar, dass die Privatmedien parteiisch sind, aber als Erklärung greift das zu kurz. Dass sich das Linksbündnis Frente Amplio nicht als zwingende Alternative anbietet, hat auch mit selbstverantworteten Problemen zu tun. Als Opposition war sie lange Zeit außerhalb von Parlamentsdebatten und juristischen Klagen kaum wahrnehmbar, bei öffentlichen Protestaktionen und Kampagnen spielte sie bestenfalls eine Nebenrolle. Die internen Diskussionen, mit denen die Niederlage bei den vorangegangenen Wahlen aufgearbeitet werden sollte, führten zu keinem klaren Ergebnis. Am Ende war man sich lediglich einig, dass in den Regierungsjahren der Kontakt zur Basis teilweise verloren gegangen war. Konkrete politische und administrative Fehlentscheidungen in der Regierungspolitik, die zu dem Vertrauensverlust in der Bevölkerung geführt hatten, wurden indes, zumindest in der Öffentlichkeit, nicht eingestanden.

Ein Umstand, der nicht nur Zweifel daran aufkommen lässt, dass es der Linken gelingen kann, verlorengegangene Wähler*innen zurückzugewinnen, sondern auch in Bezug auf den Handlungsrahmen, sollte sie die künftige Regierung stellen. Zwar bemüht sie im aktuellen Wahlkampf wiederholt das Bild von zwei unterschiedlichen „Modellen“ für das Land, die zur Abstimmung stünden. Worin das eigene Modell besteht, bleibt jedoch im Unklaren, zumal radikale, antikapitalistische Ansätze in dem sowohl strömungs- als auch klassenübergreifenden Zusammenschluss nur von einer Minderheit vertreten werden. Für große strukturelle Veränderungen im Rahmen des Bestehenden scheint der gemeinsame Wille zu fehlen. Dabei hatte das Bündnis in der Vergangenheit durchaus Modernisierungsprojekte vorangetrieben, die auch international als Vorbild galten, sei es die Digitalisierung des Unterrichts in den öffentlichen Schulen oder die konsequente Umstellung der Stromerzeugung auf erneuerbare Energieträger.

Die Wahlkampfstrategie: möglichst wenig Inhaltliches

In dem kürzlich vorgestellten „Regierungsprogramm“ sucht man vergeblich nach solchen Zukunftsprojekten. Stattdessen werden stichpunktartig Einzelmaßnahmen aufgelistet, die zwar konkrete soziale Verbesserungen versprechen (wie eine deutliche Erhöhung der Sozialhilfe), sich in der Mehrzahl jedoch auf vage, technokratische Formulierungen beschränken. Teilweise könnten sie sogar von der Rechten unterschrieben werden, zumindest was die Aufrüstung der Polizei und die stärkere Einbindung des privatwirtschaftlichen Sektors in staatliche Wirtschaftsgremien betrifft. Zu wichtigen gesellschaftspolitischen Themen, wie einer sozial gerechten Gestaltung der Altersversorgung oder einer besseren Personalausstattung des Gesundheitssystems, findet sich indes nichts.

Von dem Präsidentschaftskandidaten der Frente Amplio, Yamandú Orsi, sind kaum klarere Positionierungen zu erwarten. Im Gegenteil, Orsi wurde von einer großen Mehrheit der in der Frente Amplio zusammengeschlossenen Organisationen unterstützt, gerade weil er als moderat, nach allen Seiten gesprächsoffen und somit mutmaßlich als „wählbarer“ galt als seine internen Konkurrent*innen. Entsprechend unkonkret sind seine Aussagen. So lehnt er beispielsweise zwar die Rentenreform der Regierung ab, aber anstelle eigene Positionen zu präsentieren, verweist er lediglich darauf, dass es einen letztendlich ergebnisoffenen „nationalen Dialog mit allen Beteiligten“ brauche.

Plebiszit zur Rentenpolitik …

Ob das Fehlen eindeutiger Positionen die Wahlchancen der Frente Amplio tatsächlich erhöht, bleibt abzuwarten. Unzweifelhaft Schaden genommen hat dadurch jedoch das Verhältnis zu traditionell wichtigen Verbündeten in den sozialen Bewegungen. Ein Zusammenschluss aus dem Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT, der Studierendenorganisation FEUU und dem Genossenschaftsverband FUCVAM vertraut bei der Rentenpolitik nicht mehr auf die künftigen Mehrheiten im Parlament. Stattdessen stellen sie jetzt eigene Forderungen zur Abstimmung. Mittels eines Plebiszits streben sie eine Verfassungsänderung an, mit der das Renteneintrittsalter auf 60 Jahre festgeschrieben wird. Die Mindestrente soll um knapp 20 Prozent auf das Niveau des Mindestlohns steigen und die in Uruguay obligatorische Einbindung profitorientierter Finanzdienstleister in das Rentensystem beendet werden.

Der Initiative wurden von Anfang an geringe Erfolgsaussichten attestiert. Um ein Plebiszit einzuberufen, bedarf es entweder der Unterschriften von zehn Prozent der Wahlberechtigten oder die Zustimmung von 40 Prozent der Abgeordneten aus beiden Kammern des Parlaments. Die Renteninitiative wird jedoch nicht nur vonseiten der Regierungsparteien abgelehnt, sondern auch von der Mehrheit der Organisationen innerhalb der Frente Amplio, inklusive dem Präsidentschaftskandidaten. Dass es den Initiator*innen jedoch problemlos gelungen ist, die notwendigen Unterschriften für die Einberufung der Volksabstimmung zusammenzutragen, ließ aufhorchen. Offenbar gab es in der Bevölkerung unabhängig von parteipolitischen Prioritäten genug Unmut darüber, dass die beschlossene Rentenreform ausschließlich zu Lasten der Beschäftigten und Rentner*innen geht, ebenso wie eine tiefe Skepsis, dass sich daran unter einer Frente Amplio-Regierung grundsätzlich etwas ändern würde. Entsprechend sind die Umfragen zum Ausgang der Abstimmung im Moment alles andere als eindeutig: Befürworter*innen und Gegner*innen halten sich in etwa die Waage – und viele sind noch unentschieden.

… und zu neuen Polizeibefugnissen

Ein deutlicheres Ergebnis wird bei einem zweiten Plebiszit erwartet, das auf Initiative der Parlamentsfraktionen der Regierungskoalition zur Abstimmung gestellt wird. Eine Mehrheit der Befragten gibt seit Monaten an, die angestrebte Änderung des Artikels 11 der Verfassung zu unterstützen. Damit soll das grundsätzliche Verbot nächtlicher Hausdurchsuchungen aufgehoben werden. Vornehmlich geht es ihnen um Häuser und Wohnungen, die von Kleindealer*innen als Verkaufsräume genutzt werden.

Kritiker*innen sehen darin einen Anachronismus, der eine effektive Verfolgung der Drogenkriminalität behindert. Menschenrechtsaktivist*innen und Jurist*innen äußerten in den vergangenen Wochen vermehrt Einwände gegen das Projekt. Der tatsächliche Nutzen von solchen Hausdurchsuchungen wurde in Frage gestellt und dem Regierungslager vorgeworfen, kurz vor den Wahlen mit einer Scheindebatte von den eigenen Versäumnissen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung ablenken zu wollen. Zudem wurde das Vorhaben zuletzt auch von einer Seite kritisiert, von der es auf den ersten Blick nicht zu erwarten war: Vor wenigen Tagen riefen verschiedene Polizeigewerkschaften zu einer Protestkundgebung auf, bei der auch explizit eine Ablehnung der Verfassungsreform proklamiert wurde, vor allem aufgrund von Sicherheitsbedenken. Schon bei Tageslicht sind Einsätze in Stadtvierteln, in denen bewaffnete Banden aktiv sind, mit einem hohen Risiko für die Sicherheitskräfte verbunden. Nachts in spärlich bis gar nicht beleuchteten Straßen zu agieren, würde dieses Risiko potenzieren.

Die sich formierende Kritik an ihrem Vorhaben scheint das Regierungslager zumindest etwas aus dem Konzept gebracht zu haben, ging es doch bislang davon aus, dass es sich dabei um einen Selbstläufer handelt. Entsprechend wurde auch nicht sichtbar dafür geworben. Das könnte sich rächen, zumindest deuten die letzten Umfragen darauf hin, dass die sichergeglaubte Mehrheit langsam schwindet. Sollte diese Tendenz anhalten, ist nicht auszuschließen, dass bis zum 27. Oktober auch für diesen Urnengang dasselbe gilt wie für die anderen Abstimmungen: Es ist ein offenes Rennen.