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Ein kleines Buch für ein großes Land

Das neue Brasilienbuch von Andreas Nöthen
Laura Held

Als ich in der Ankündigung las, in dem neuen Sachbuch des Journalisten und Buchautors Andreas Nöthen gehe es um das riesige, widersprüchliche und faszinierende Land Brasilien, seine Gesellschaft, Kultur und Politik, erwartete ich ein gewichtiges und umfangreiches Handbuch. Aber das Taschenbuch mit dem weißen Cover, das eine sich auflösende brasilianische Flagge zeigt, hat nur 241 Seiten. Ich war skeptisch. So einfach Brasilien verstehen, dieses riesige Land voller komplexer Probleme: die extreme politische Polarisierung, das Erstarken der Evangelikalen, die allgegenwärtige Korruption, das Nichtfunktionieren des Staates trotz der hervorragenden Gesetzeslage, der scheinbar unausrottbare Rassismus, die mächtigen Drogenbanden und Milizen, die politischen und wirtschaftlichen Ambitionen des Landes auf der Weltbühne – das alles in nur 14 kurzen Kapiteln? Die Musik, der Alltag, die riesigen Unterschiede zwischen den einzelnen Lebensrealitäten?

Es gelingt erstaunlich gut: fundiert, voller bekannter und unbekannter Fakten, leicht lesbar, mit weiterführenden Fußnoten belegt und mit einer umfassenden Literaturliste. Die Kapitel sind so geschrieben, dass man sie auch einzeln lesen kann. Das führt manchmal zu Wiederholungen, macht das Buch aber noch benutzbarer: Man kann sich zwei, drei Themen herauspicken und ist zu diesen nach der Lektüre rundum informiert.

Das Kapitel über „Frauen in der Politik“ ist etwas dünn, es beschränkt sich auf die Teilnahme von Frauen an der offiziellen Politik, und das auch nur anhand von einzelnen Frauen: Carlota Pereira de Queirós, die erste gewählte Abgeordnete 1933, die erste Präsidentin des Landes, Dilma Rousseff (2011-2016, in einem umstrittenen Verfahren des Amtes enthoben), die 2018 von Milizen ermordete Schwarze Politikerin Marielle Franco, die rechtsradikalen Pro-Bolsonaro-Frauen. Zuletzt wird die Rolle der „primeiras damas“, der Präsidentengattinnen, beleuchtet. Es fehlen die vielfältigen, überall in Stadtvierteln und auf dem Land aktiven Frauenbewegungen. Überhaupt geht es in dem ganzen Buch sehr wenig um die wichtige aktive Zivilgesellschaft, Gewerkschaften, Kleinbäuer*innenvereinigungen, Quilom­bolas1, indigene Organisationen oder kirchliche Basis­gruppen.

Schwere Themen: Bolsonarismo, Desinformation, Rassismus

Es wird nüchtern und betont objektiv, oft anhand von Personenporträts und immer mit einer genauen historischen Analyse das jeweilige Faktum erklärt. Wie hat es sich entwickelt, wo kommt es her, wer gewinnt und wer verliert – und warum verschwindet es nicht? Das gelingt besonders gut bei den Kapiteln Bolsonarismo (dem noch wirkmächtigen rechtsextremen politischen Programm von Ex-Präsident Jair Bolsonaro), Korruption, Evangelikale, Drogenbanden und Milizen sowie Rassismus. Die Kapitel sind als umfassender erster Einstieg sehr geeignet. Es ist erfrischend, auch weniger erwartbare Themen zu finden, wie „Ein tierisches Kulturgut“. Da geht es um das verbotene Glücksspiel „jogo do bicho“: Wie es 1892 entstanden ist, Brasilien im Sturm eroberte, später die Sambaschulen infiltrierte und Teil der Organisierten Kriminalität wurde. Das ist „leichter“ als die vielen bedrückenden und ernsten Themen und zudem erhellend.

Gleiches gilt für das Kapitel über die in Brasilien ungeheuer populäre Musikrichtung „Sertanejo“ mit ihren oft sexistischen und frauenfeindlichen Inhalten und für das Kapitel „Von Menschenfressern und Auswandererströmen“, wo die gesamte Migration aus dem deutschsprachigen Raum nach Brasilien in geraffter Form erzählt wird. Es beginnt mit dem Söldner Ulrich Schmiedel aus Straubing, der von 1535-54 in Brasilien war, und dem in Brasilien sehr bekannten Hans Staden aus Homberg, der mit der „Historia“ 1557 das erste Buch über Brasilien veröffentlichte. Dann beschreibt es die massenhafte Auswanderung im 19. Jahrhundert, die bis heute von Blumenau bis Petrópolis sichtbar ist, und endet mit den vor den Nazis geflüchteten Juden und Jüdinnen, die sich in Brasilien oft Tür an Tür mit den vielen über die Rattenlinie2 ins Land geflohenen Nazis wiederfanden.

Bei den beiden wirtschaftlichen Kapiteln „Zwischen Abhängigkeit und Führungsanspruch“ (zur Außenpolitik) und „Warum Brasilien immer wieder den Anschluss verpasst“ (zur Deindustrialisierung) zeigt sich ein sehr europäischer Blick auf Brasilien. Auch diese Kapitel sind faktenreich und umfassend, aber der Blickwinkel ist verengt. Der EU nur „gutartige Vernachlässigung“ in Richtung Brasilien zu unterstellen, verschleiert die knallharten wirtschaftlichen Interessen der EU, „gutartig“ ist sie dabei nicht. Bei dem nach 20 Jahren immer noch nicht ratifizierten Handelsabkommen EU-Brasilien, das zurecht wegen fehlender Umwelt-, Menschen- und Arbeitsrechte kritisiert wird, drängt der Autor aus „globaler Sicht“, sprich wegen der Konkurrenz von China und den USA, die Europa „abgehängt“ haben, auf rasche Unterzeichnung eines für Brasilien unvorteilhaften Deals. (er hat wohl die ila nicht gelesen, d.Säz.)

Wem gehört Amazonien?

„Amazonien“ ist ein weiteres gelungenes Kapitel. Es beginnt mit der wegen der Vieldeutigkeit notwendigen Definition (er meint das gesamte Amazonasbecken). Ausführlich werden die neueren Erkenntnisse rezipiert: In der Region lebten vor der Kolonisierung sehr viel mehr Menschen als lange angenommen – bis zu zehn Millionen. Sie waren erfinderisch an den Urwald angepasst, hatten Fischzuchten, angepassten Ackerbau, weitreichende Kompostierung, ein ausgefuchstes Informationssystem. In dem Kapitel werden auch die zahlreichen von Invasoren verursachten Umweltkatastrophen und die Genozide an der vorher dort lebenden Bevölkerung nicht ausgespart.

Nöthen legt offen, welche Ideologie des Territoriums dahintersteht, und zwar bis heute. Das Gebiet muss strategisch und militärisch von der Nation kontrolliert und zum Nutzen der Regierung/der Eliten/des Wohlstands aller ausgebeutet werden. Dabei wird jedoch der gesamte Lebensraum unwiederbringlich zerstört. Am Beispiel von Chico Mendes (der international bekannte und einflussreiche Kautschuksammler und Aktivist wurde 1988 ermordet) stellt Nöthen alternative Nutzungsmöglichkeiten vor. Er beschreibt zudem, wie tödlich Umweltschutz in Amazonien ist (1536 Morde wurden ab 1985 offiziell registriert). Zuletzt gibt er einen nicht sehr optimistischen Ausblick auf die dritte Amtszeit des progressiven Luis Ignácio „Lula“ da Silva (seit 2023) und Amazoniens Überlebenschancen: Als die wieder erstarkte Umweltbehörde Ibama dem Energiekonzern Petrobras untersagte, ein Ölfeld vor dem Amazonasbecken zu erschließen, genehmigte Lula es trotzdem. Außerdem hat die Regierung ein umstrittenes Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht. Es erlaubt Bergbau und Wasserkraftprojekte in indigenen Gebieten ohne vorherige Konsultation und gefährdet die seit Jahrzehnten verschleppte Anerkennung indigener und Quilombola-Gebiete endgültig. Die Regierung Lula scheint, trotz neu gegründetem Indigenen-Ministerium, wirtschaftliche und politische Interessen vor indigene und Umweltrechte zu stellen.

Ein gutes Buch für einen fundierten, leicht lesbaren Einstieg zu den genannten Themen. Historisch ausgelegt, mit einem Fokus auf die aktuelle Politik, von Deutschland aus (und mit deutschen Blick), aber großem Insiderwissen geschrieben.

  • 1. selbstorganisierte afrobrasilianische Viertel und Räume, ursprünglich gegründet von Menschen, die sich aus der Sklaverei befreit haben
  • 2. geheime, u.a. von der katholischen Kirche organisierte Flucht­routen für führende Vertreter des NS-Regimes nach Südamerika

Vom selben Autor: Luis Ignacio LULA da Silva. Eine politische Biografie (Mandelbaum Verlag 2022) und: Bulldozer Bolsonaro. Wie ein Populist Brasilien ruiniert (Chr. Links Verlag 2020)