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Ein Fenster zur Welt der Erinnerungen

„Das Schweigen meines Vaters“ von Mauricio Rosencof
Gaby Küppers

Züge – sofern es sich nicht um solche der Deutschen Bundesbahn handelt – stehen für Fortbewegung, Mobilität, Geschwindigkeit. Vor gut 200 Jahren war die Eisenbahn schlicht eine geniale Erfindung. Schon bald revolutionierte sie das Lebensgefühl der Menschen und eröffnete ihnen ungeahnte Möglichkeiten. Rund 100 Jahre später verdrängte eine geradezu umgekehrte Assoziation die Vorstellung von der Entgrenzung von Zeit und Raum. Der Nazistaat ließ jüdische Menschen millionenfach in die Viehwaggons von Zügen pferchen und in Vernichtungslager deportieren. Rampen und Riegel, Soldatenstiefel und Schreie zeigten die entsetzliche Seite der Eisenbahn, produzierten Alpträume und Schuldgefühle. Sie lassen niemanden mehr los. Auch Mauricio Rosencof nicht. Die gesamte Literatur des 1933 geborenen Theater- und Prosaautors, Lyrikers und ehemaligen Guerillakämpfers umkreist das Trauma der jüdischen Vernichtung, der Davongekommenen.1

So auch sein gerade auf Deutsch erschienenes Buch, „Das Schweigen meines Vaters“ (deutsch 2024, original 2022), ein schmaler Band aus kaum eine Seite langen Texten. In ihnen werden Themen wie Motive vorheriger Romane wieder aufgenommen, gedreht und gewendet, in neues Licht gestellt.2 Der Vater ist Mauricios Vater Isaac, dessen Schweigen bringt Sohn Moishe (jiddisch für Mauricio) wortwörtlich zur Sprache, bis die Gründe für das Schweigen zum Vorschein treten und die Konturen zwischen Vater und Sohn verschwimmen, weil so viele Gemeinsamkeiten in den Leben zur Ineinssetzung führen.

Der Zug spielt dabei eine zentrale Rolle. In einen solchen stieg Isaak Rozenkopf Anfang der 1930er-Jahre in Belzyce im Westen Polens, durchquerte Europa, gelangte bis ins italienische Genua und stieg dort auf ein Schiff Richtung Südamerika. In Uruguay wurde aus Isaak Rozenkopf dann Isaac Rosencof. Die Schneiderwerkstatt seiner Familie blieb zurück, in der er als Maßnehmer gearbeitet hatte und die man auf dem Umschlagfoto der deutschen Ausgabe tatsächlich sehen kann. Tagtäglicher Hunger im Nachkriegseuropa und die heraufziehende tödliche Pogromstimmung hatten Isaak zur Flucht bewogen, „bewaffnet mit Fingerhut und Nadel“. In der Fremde, so hoffte er, würde er genügend Geld verdienen, um Ehefrau Rosa und Sohn León nachzuholen. Was gelang. Aber der Rest der Verwandtschaft kam nicht.

Mit dem Zug fährt der Vater zum Sohn, der Staatsgeisel

Vierzig Jahre später steigt Isaac wieder in einen Zug. Er will von der Hafenstadt Montevideo aus nach Paso de los Toros im Norden Uruguays fahren, um seinen Sohn Mauricio in der Kaserne zu besuchen, wo er festgehalten wird. Sechs Stunden Fahrt für zehn Minuten Besuchszeit, vielleicht. Beladen ist er mit Obst und neuen Schuhen, die vermutlich ohnehin in den Taschen – beziehungsweise an den Füßen – der Wachen landen. Eine wahre Geschichte: Mauricio Rosencof war als Führungsmitglied der Guerilla Staatsgeisel. Die Militärdiktatur hielt neun MLN-Tupamaros und -Tupamaras (die Frauen werden in der Erzählung oft vergessen) gefangen. Sie drohten, die Guerilleras und Guerilleros umzubringen, sollte die Organisation bewaffnete Widerstandsaktionen unternehmen. Die grauenhafte, jahrelange Einzelhaft sollte die Gefangenen zudem psychisch brechen, ebenso die Familien, die von den geheimen Verlegungen weit weg vom Wohnort aus purer Schikane nie unterrichtet wurden.

Isaac betritt ein Zugabteil. „Dann richtete sich das Universum vor dem Fenster ein.“ (S. 15) Der Zug fährt an, die Landschaft zieht vorbei. Die Scheibe wird zur Mattscheibe. Szenen aus der Vergangenheit tauchen auf ihr auf, schieben sich übereinander. Szenen aus dem Gedächtnis des Vaters, dem Gedächtnis des Sohnes? Erinnerungen vermischen sich, durchdringen sich, lösen sich ineinander auf. Wer spricht? Wer ist das Ich? Der Vater? Der Sohn? Wer sitzt später auf welcher Seite des Besucherrahmens im Kerker? In welcher Sprache unterhalten sie sich eigentlich, wenn einer fast nur Jiddisch und der andere fast nur Spanisch spricht?

Das Fenster des Zugs wird zum Ort, in dem sich Erinnerungen versammeln und in die Gegenwart übertragen. „In der Erinnerung werden alle Verben in der gleichen Zeitform konjugiert. Die Zeitform der Erinnerung ist immer das Jetzt.“ (S.19) Die Erzählinstanz verwandelt sich in den gefangenen Sohn und dieser in den Vater, indem der Jüngere das zur Sprache bringt, was der Ältere ihm nie sagte. So macht der Vater sich Vorwürfe, weil er seine Verwandten aus Polen nicht nachholen konnte und diese fast alle in Konzentrationslagern ermordet wurden. Und wie in einer allmählichen Überblendung wird daraus der Sohn, der sich Vorwürfe macht, weil er die Abschiebung seiner Eltern in ein Altersheim nicht verhindern konnte, da er in Einzelhaft sitzt.

Jede von uns ist jeder

„Das Schweigen meines Vaters“ ist nicht nur ein Stück wunderbar gelungener Literatur des mittlerweile 91-Jährigen, der weiterhin innovativ aus kaum eine Seite langen Miniaturen ein stimmiges Ganzes schafft. Es ist auch nicht nur ein wichtiger Beitrag zu einer Erinnerungskultur, die die Schrecken des Holocausts spüren lässt. Es ist auch tröstlich, nicht nur in Momenten, wenn Isaac das aufbrechende Ei in der Vogelvoliere betrachtet, wenn er dem Hund Zapi Stoffreste zum Kuscheln ins Körbchen legt oder wenn die Katze Miska durch die Werkstatt streicht. Wenn solidarische Aktionen der Nachbarn oder im Zug Verbundenheit gegen die Militärs bezeugen. Oder wenn die Erwähnung der kommunistischen, in Uruguay auf Jiddisch erscheinenden Tageszeitung „Unzer Fraint“ eine aktive, kämpferische Note einbringt, die noch lauter wird, als Rosencof die in Uruguay berühmte Szene erwähnt, in der er sich mit zwei weiteren Staatsgeiseln, Ñato und Pepe, per Klopfzeichen durch die Zellenwände unterhält.3 Und schließlich die Möglichkeit der familiären Normalität: „Setz dich. Hast Du gegessen?“ fragt Mutter Rosa, als Sohn Mauricio in den Speisesaal des Altersheim tritt – was nur im Kopf der Staatsgeisel möglich war.

Mehr als in der Summe der einzelnen Erinnerungen und Imaginationen ist der Roman vor allem auch tröstlich durch die Versöhnung, die er sprachlich inszeniert. Sehr anders als der bürgerliche Bildungsroman braucht dieser nicht das Sich-am-Vater-ab-Schreiben, damit der Sohn sich verwirklichen kann. Er setzt dem die Identifikation der Schicksale entgegen. Durch die Vergleichbarkeit der Geschichten, aber auch sprachlich durch die dialogische Überlagerung des Ich und des Du. Ja, mehr noch:„ Jede von uns ist jeder und alle anderen.“ (S. 34). Es geht nicht um Distanznahme, sondern umgekehrt um die Auflösung der Distanz. Um die Vergangenheit in der Gegenwart.

Auf das Leben, Ruso

Es geht um das Trauma: In kursiv gesetzten Abschnitten, die in die übrigen Texte in Normalschrift eingestreut sind, berichtet KZ-Nummer A24737 von der Deportation nach Auschwitz. Lakonisch, unsentimental, fast ironisch. Anders ist das erlebte Grauen nicht beschreibbar. Ein Mensch unter Unmenschen. A24737 ist Zofia, erfahren wir irgendwann, noch später im Buch, dass es sich um Mauricio Rosencofs Cousine Zofia handelt. Am Ende des Buchs ihr Foto mit dem vollen Mädchennamen: Zofia Lederman Rozenkopf. Sie hat überlebt und konnte 1994 in den USA die hier abgedruckten Zeugnisse ablegen. Die Legende, die das zweite der beiden Fotos am Ende des Buches begleitet, das gleiche wie auf dem Umschlag, spricht die Bände, die in Rosencofs Roman kondensiert sind: Es geht um die Menschen in der Schneiderwerkstatt der Rozenkopfs. Auch Zofia ist zu sehen, kommentiert das „Ich“. Es gibt auch das reale Überleben.

Das Buch spricht selbstverständlich für sich. Aber der schön gestaltete Band gewinnt noch durch das informative und liebevoll geschriebene Vorwort des Verlegers Theo Bruns, „Das Leben des Mauricio Rosencof“. „Auf das Leben, Ruso!“, schreibt er am Ende. Ruso, Russe, werden in Lateinamerika alle genannt, die aus dem russisch-slawischen Sprachraum kommen. Ja, Ruso, auf das Leben!

  • 1. siehe sein Lebenswege-Interview in ila 168 sowie Interview in ila 218
  • 2. etwa in der Erzählung „Die Briefe, die nie angekommen sind“, übersetzt von Erich Hackl, Salzburg und Wien- Residenz Verlag 1997, erweitert zum Roman „Die Briefe, die nicht ankamen“, übersetzt von Willi Zurbrüggen, Edition Köln 2004
  • 3. Eleuterio Fernández Huidobro und José Mujica. Letzterer wurde 2010 zum Präsidenten Uruguays gewählt und amtierte bis 2014.