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Auf der Suche nach Leben auf den Wegen des Todes

Die Nekropolitik des Grenzregimes in Mexiko

Mexicali ist Hauptstadt und mit knapp 700 000 Einwohner*innen nach Tijuana die zweitgrößte Stadt des Bundesstaates Baja California. Laut der mexikanischen Migrationsbehörde Unidad de Política Migratoria, Registro e Identidad de Personas leben im Jahr 2024 in der nordmexikanischen Grenzstadt etwa 30 000 Migrant*innen. Dieses Jahr sind bereits 118 527 Personen aus den USA nach Mexiko abgeschoben worden, davon etwa allein ein Viertel (28 418) nach Baja California.

Ximena Juárez Villalpando

Im Sommer erreichen in Mexicali die Temperaturen zwischen 40 und 50 Grad Celsius. Mexicali ist Nachbarstadt von Calexico in den USA und eine der heißesten und gegensätzlichsten Städte Mexikos. Nicht weit von der Grenzübergangsstelle zwischen Calexico und Mexicali entfernt, etwa 20 Minuten mit dem Auto, erreicht man die Straße Zuazua. Diese Straße ist bekannt für ihre vielen Bars und Kneipen sowie den berühmten Treffpunkt Parque del Mariachi. Zuazua ist ein Ort für die Verlassenen und Vergessenen. Hier treiben abgeschobene Menschen, Migrant*innen, Obdachlose und Drogenabhängige dahin.

Das Schicksal der Deportierten: Vergessen und verloren

Es gibt zwar keine exakten Daten, aber die Anzahl der Obdachlosen in Mexicali wird auf etwa 5000 Menschen geschätzt, darunter Migrant*innen und Abgeschobene. Einer von ihnen ist El Chiricuas, der häufig im Parque del Mariachi anzutreffen ist. Er ist Anfang 40, kommt aus Michoacán und hat zehn Jahre lang in den USA in der Holzindustrie gearbeitet. Als er einmal auf einer Party für Unruhe sorgte, wurde er verhaftet und seine Dokumente wurden kontrolliert. Die Polizei stellte fest, dass sie gefälscht waren. Er musste ein Jahr im Gefängnis verbringen. Sieben Monate später wurde er nach Mexicali abgeschoben.El Chiricuas war kaum drei Monate in Mexicali, als ihn Ernesto Hernández Sánchez im August 2017 für eine Forschungsarbeit interviewte.

Zu dem Zeitpunkt war er körperlich und psychisch erschöpft. Einen Monat lang hatte er sich von Resten aus Mülleimern, aus Restaurants und von dem ernährt, was er ab und zu stehlen konnte. Die Kirche hatte ihm einen Job angeboten, den er aufgrund eines Unfalls nicht mehr ausüben konnte, da sein Bein schwer verletzt war. Daraufhin erkrankte er und konnte die Miete nicht mehr bezahlen. Er landete auf der Straße. Er fing an, Heroin zu konsumieren, und wurde schnell abhängig. Um seinen Konsum und ein wenig Essen zu finanzieren, sammelte und verkaufte er Pappe. Die Wunden auf seiner Haut durch die infizierten Einstichstellen, die nie verheilte Verletzung von dem Unfall und seine Heroinsucht machten ihn ständig krank. Er war nicht in der Lage, einen besser bezahlten Job auszuüben. Vom Staat vergessen, fand er Zuflucht an einem Ort, an dem er permanenter Gefahr und Gewalt ausgesetzt ist.

Geschichten wie die von El Chiricuas gibt es viele. Migrant*innen und Deportierte sind ständig Räumen des Todes ausgesetzt, wo es weder Zugang zu Wohnraum und Gesund­heitsversorgung noch Sicherheit gibt. In diesen Räumen wirken die Politiken des Todes.

Die nekropolitischen Prozesse bei der Migration zeichnen sich dadurch aus, dass nicht aktiv getötet, sondern „sterben gelassen“ wird. Die mexikanische Philosophin Sayak Valencia beschreibt Grenzstädte (wie Mexicali) als Orte, die sich durch exzessiven Konsum einerseits und extreme Gewalt andererseits auszeichnen. Dort werden Körper besonders stark zur Ware. Akteure wie kriminelle Banden profitieren davon. Diejenigen Menschen, die vom Staat vergessen wurden, sind dem organisierten Verbrechen ausgeliefert.

Fentanyl und Drogenkrise an der Grenze

In letzter Zeit sind die Migrationsbewegungen auch zu einem Thema für die öffentliche Gesundheit geworden, da der Konsum von Fentanyl zugenommen hat. Fentanyl ist ein Opiat, das 50-mal stärker als Heroin und bis zu 100-mal stärker als Morphium ist. Daher ist das Risiko für eine nahezu sofortige Abhängigkeit sowie für Überdosierung äußerst hoch.

Die Vernachlässigung der Migrant*innen und der Abge­schobenen öffnet eine Tür für den Drogenmarkt. In Tijuana und Mexicali ist bereits ein exzessiver Konsum von Fentanyl zu beobachten. Die Kartelle nutzen die Verletzlichkeit der Menschen aus, indem sie den Konsum leicht machen. Manchmal bieten sie die ersten Proben kostenlos an, manchmal mischen sie Fentanyl in andere Drogen (auch als „China white“ bekannt), um die Konsumierenden schneller abhängig zu machen. Sie profitieren vom Tod. Das Nachrichtenportal Animal Político berichtete von einer forensischen Untersuchung in Mexicali im Sommer 2022: Etwa 30 Prozent der untersuchten Leichen wiesen Fentanylreste im Körper auf. Der American Dream ist zum Albtraum geworden.

Die Geschichten, die Gefahren, das Leid und die Grausamkeiten an der Nordgrenze, eine der meistfrequentierten Grenzen der Welt, kennen alle Mexikaner*innen. Aber warum spricht man in Mexiko so wenig über die Gewalt gegenüber denjenigen Menschen, die den gleichen Traum teilen wie die mexikanischen Deportierten?

Transfeindlichkeit und Migration an der Südgrenze

Die Grenze im Süden Mexikos ist mindestens genauso gefährlich und gewaltsam wie die Grenze zu den USA. Menschen, die wegen extremer Gewalt aus ihrem Land fliehen müssen, setzen ihr Leben aufs Spiel, um die Grenze nach Mexiko zu überqueren. Sie klettern auf den berühmten Güterzug „La Bestia“ und sind meist sehr bald kriminellen Banden, wie der Mara Salvatrucha, Menschenhändlern und korrupten, gewalttätigen Polizisten ausgesetzt. Frauen und trans Frauen erleiden sexuelle Gewalt.

Tapachula liegt im südlichsten Zipfel von Chiapas. Die Stadt mit etwa 200 000 Einwohner*innen ist 18 Kilometer von Guatemala entfernt. Sie ist eine der wichtigsten Aufnahmestädte für Migrant*innen im Süden Mexikos. Dieser Ort veränderte das Leben von Fragancia. Die trans Frau ist vor der Gewalt und Transfeindlichkeit in ihrem Land, Guatemala, geflohen. Sie war 30 Jahre alt, als es ihr gelang, die Grenze zu überqueren. Sie hatte gerade den mexikanischen Boden betreten, als sie von Menschenhändlern aus Tapachula entführt wurde. Ein halbes Jahr lang verbrachte sie unter deren Gewalt und wurde zur Sexarbeit gezwungen. In einem Interview mit Gianmaria Lenti und Bernardo López Marín im Jahr 2019 erzählt sie, wie sie ungeschützt Sex haben musste, ohne Bezahlung. Sie hauste in einem schmutzigen, dunklen Raum, in dem sie nur einmal am Tag Essen bekam. Lediglich nachts durfte und musste sie raus, um der Prostitution nachzugehen. Dabei wurde sie ständig überwacht. Wenn sie eine bestimmte Summe für die Nacht nicht erreichte, gab es Prügel.

Eines Tages gelang ihr die Flucht. Sie fand Zuflucht in einer Einrichtung für Migrant*innen, die Opfer von Gewalt sind. Zum Zeitpunkt des Interviews stellte sie einen Antrag, um in ein sicheres Drittland zu gelangen. Sie befürchtete, dass ihre Verfolger sie finden könnten. Fragancia hatte Glück, dass sie entkommen und überleben konnte. Viele trans Frauen mit einer ähnlichen Geschichte füllen als weitere Fälle von verschwundenen Frauen die Statistiken.

Allerdings gibt es keine genauen Zahlen und keine geeignete Methode, um zu dokumentieren, wie viele trans Migrant*innen genau sterben und verschwinden. Die Transfeindlichkeit in ihren Familien und Gesellschaften bringt sie dazu, schon in jungen Jahren von zu Hause zu fliehen, wo sie dann auf der Straße Gewalt erleben. Sexarbeit ist meistens die einzige Chance für finanzielle Unabhängigkeit. Bei der Migration sind trans Personen ähnlichen Risiken ausgesetzt wie andere Migrant*innen, aber die Gefahren sind noch größer, da sie zur Zielscheibe von Drohungen, Erniedrigungen und sexueller Aggression werden, die durch transfeindlichen Hass motiviert sind. Im Verlauf des Migrationsprozesses werden sie von Institutionen diskriminiert, die sich weigern, ihre Geschlechtsidentität zu akzeptieren. Transfeindlichkeit ist eine weitere Praxis der Nekropolitik (siehe Artikel auf S. 24), bei der Ausgrenzung und Gewalt gegenüber trans Frauen legitimiert wird und gleichzeitig Straflosigkeit für Gewalt und Mord herrscht.

Grenzpolitik, die zum Sterben verurteilt

Der in Massachussetts lehrende kolumbianische Wissen­schaftler Andrés Fabián Henao Castro beleuchtet einen wichtigen nekropolitischen Prozess, der an den Grenzen stattfindet, den „Apparat der Entsorgbarkeit“. Das Konzept erklärt, wie undokumentierte Migrant*innen zu „entsorgbaren“ Menschen werden. Sie werden als Menschen behandelt, die keinen Wert haben, die ohne Konsequenzen ausgelöscht werden können. In dieser Hinsicht gehen Staat und Organisiertes Verbrechen Hand in Hand. Der Staat, der durch seine Vernachlässigung Migrant*innen an Gewaltakteure ausliefert, und das Organisierte Verbrechen, das an der Zerstörung von Körpern durch den Drogenkrieg, an Menschenhandel, Hinrichtungen, Verschwindenlassen, Trans- und Femiziden beteiligt ist.

Die Geschichte von El Chiricuas, Fragancia und vielen anderen Migrant*innen zeigt die brutalen Auswirkungen der Nekropolitik an den Grenzen Mexikos. Während sie vor Gewalt und Hoffnungslosigkeit fliehen, enden sie in einem System, das sie als überflüssig betrachtet – zwischen tödlichen Drogen, illegalen Märkten und einem Staat, der darin versagt, Menschenleben zu schützen.