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Alle gegen X

Brasiliens X-Verbot zeigt: Es braucht vereinte Kräfte gegen den Datenkapitalismus

Es hat geknallt in Brasilien. X, ehemals Twitter, ist im hohen Bogen rausgeflogen. Die Plattform von Multimilliardär Elon Musk sollte Konten sperren und Posts mit Falschinformationen löschen. Weil Musk sich weigerte, ordnete der Oberste Gerichtshof an, dass nun endgültig Schluss mit den rechten Parolen sei. X ging in Brasilien vom Netz. Was die Geschichte über die Verteidigung von digitaler Souveränität erzählt.

Joyce Souza Maldonado

Am 31. August 2024 ordnete der Minister des brasilianischen Obersten Gerichtshofs (STF), Alexandre de Moraes, an, die Plattform X (ehemals Twitter) landesweit zu sperren. Zuvor hatte das Unternehmen von Milliardär Elon Musk sein Büro in Brasilien geschlossen und einen Gerichtsbefehl ignoriert, nach dem es einen Rechtsvertreter im Land ernennen sollte. Außerdem hatte X Geldstrafen von über 18 Millionen Reais (etwa 3 Millionen Euro) für den Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften nicht bezahlt.

Die Geschichte geht auf den schicksalhaften 8. Januar 2023 zurück, nachdem Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte und „eine von neofaschistischen Großgrundbesitzern, fundamentalistischen Pastoren und Militärs angestachelte Menge in den Regierungssitz eindrang“. So erklärt es Sérgio Amadeu da Silveira, Soziologe und Politikwissenschaftler. „Der Oberste Gerichtshof ermittelte zu dem Putschversuch. Die X-Blockade ist das Ergebnis dieser Ermittlungen“, sagt der Wissenschaftler. Die brasilianische Bundespolizei stieß bei ihren Ermittlungen auf als gesetzeswidrig eingestufte Konten und Hass-Posts auf der Plattform X. Daraufhin wies Richter de Moraes X unter Androhung von Geldstrafen an, diese Konten und Inhalte von der Plattform zu entfernen.

Elon Musk, seit 2022 Eigentümer von X, behauptete, die Maßnahmen würden gegen die Meinungsfreiheit verstoßen und könnten daher nicht umgesetzt werden. Laut Silveira positioniert sich Musk damit als Verbündeter der extremen Rechten und Treiber des Putsches in Brasilien. Mit Blick auf die brasilianische Internetregulierung und die Verfassung blieb de Moraes gar nichts anderes übrig, als Sanktionen gegen X zu verhängen, folgert Silveira. Dass X schließlich gesperrt wurde, sei nur folgerichtig gewesen.

Am 18. September 2024 konnten Nutzer*innen in einigen Bundesstaaten plötzlich wieder auf die Plattform zugreifen, weil X die IP-Adressen verändert hatte. Das sei keine Absicht gewesen, erklärte das Unternehmen nachher. Man arbeite daran, die Plattform „in Kürze“ wieder unzugänglich zu machen.

Ein Konservativer will die Demokratie retten

Der Konflikt zwischen X und dem Obersten Gerichtshof geht jedoch über die Sperrung eines sozialen Netzwerkes hinaus. Er zeigt, wie große Tech-Unternehmen sich in technologisch abhängigen Ländern wie Brasilien durchsetzen und dabei den politischen und wirtschaftlichen Interessen ihrer historisch imperialistischen Herkunftsländer dienen. Der Fall X in Brasilien macht deutlich, wie sie dabei den Aufstieg der extremen Rechten erleichtern und die Demokratie untergraben.

Dieses Szenario hat sich derart verschärft, dass inzwischen selbst konservative Persönlichkeiten entschiedener die Demokratie verteidigen. Ein Beispiel ist der konservative Minister Alexandre de Moraes. Seine Haltung festigte sich während der Amtszeit von Jair Bolsonaro (2019-2022). Der ehemalige Präsident stellte sich mehrfach über das Gesetz und koordinierte über eine Gruppe von Beratern das sogenannte „Kabinett des Hasses“. Untersuchungen zeigen, dass diese Gruppe verantwortlich für Fake-Profile auf Plattformen wie X war. Unter Aufsicht von Bolsonaro und seinem Sohn Carlos wurde von diesen Fake-Profilen Desinformation gestreut und politische Gegner*innen angegriffen. „Sie behaupteten, Lulas Sieg sei Wahlbetrug gewesen“, erklärt Soziologe Silveira. „Als Präsident der Wahljustiz stellte sich de Moraes dem entschieden entgegen. Er spielte eine entscheidende Rolle bei der Verteidigung des Wahlprozesses und wurde so zu einer Symbolfigur der Demokratie.“

Datenraub am Amazonas

Und es gibt eine weitere Verbindung zwischen Elon Musk und dem Aufstieg der extremen Rechten in Brasilien: die Ausbreitung seines Unternehmens Starlink. Seit Anfang 2022 bietet Starlink in Zusammenarbeit mit der Regierung des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro schnelles Satelliten-Breitbandinternet sogar in den abgelegensten Regionen wie dem Amazonas an.

Das wirft grundsätzliche Fragen über den Verlust der digitalen Souveränität Brasiliens auf, vor allem in Bezug auf Infrastruktur und digitale Daten. Durch die Präsenz von ausländischen privaten Satelliten verliere Brasilien teilweise die Kontrolle über die eigenen Kommunikationssysteme, so Rodolfo Avelino, Doktor der Geistes- und Sozialwissenschaften und Experte für Cybersicherheit. „Dadurch ist Brasilien in strategischen Regionen von externen Unternehmen abhängig.“ Das ist vor allem im Amazonasgebiet alarmierend. Dort nutzen illegale Gruppen wie Goldsucher das Internet von Starlink, um Informationen auszutauschen und Geld zu verschicken. Das hindert die Regierung daran, effektiv gegen Umweltverbrechen vorzugehen.

Durch die Ausbreitung von Starlink können externe Akteure jenseits staatlicher Kontrolle sensible strategische Informationen abrufen und manipulieren. „Das hat ernsthafte Auswirkungen auf die Cybersicherheit und die digitale Souveränität Brasiliens“, warnt Rodolfo Avelino. Vor allem deswegen, weil die Kontrolle dieser Technologien mit dem politischen Einfluss von Persönlichkeiten wie Musk auf die extreme Rechte in Brasilien zusammenhängt. In Regionen, die für das internationale Kapital von großem wirtschaftlichem und ökologischem Interesse sind, muss die Regierung dringend Maßnahmen ergreifen, um die Demokratie und die Souveränität des Landes zu schützen.

Was gegen den Datenkapitalismus hilft

Was Unternehmen wie X und Starlink machen, sollte man also nicht als Einzelphänomene betrachten. Die technologische Abhängigkeit von Starlink und die durch X entstehenden Sicherheitslücken hängen direkt mit der Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit zusammen. Besonders jetzt, wo Brasilien vor immer größeren Herausforderungen steht, seine digitale Infrastruktur und Daten zu schützen. Noch gibt es kein Gesetz, das die Aktivitäten dieser Plattformen reguliert. Sérgio Amadeu da Silvera sagt deswegen: „In Brasilien muss ein Gesetz zur Regulierung von Plattformen verabschiedet werden. Solange das nicht der Fall ist, werden die Plattformen weiterhin den Diskurs der extremen Rechten begünstigen und Desinformation als ihre Hauptstrategie zur Machterlangung einsetzen.“

Die Informations- und Datensicherheit, insbesondere in Satellitennetzen, ist ebenfalls ein dringendes Thema. Cyber-Experte Avelino betont: „Wir müssen in eine robuste Verschlüsselung investieren, die gewährleistet, dass die Informationen zwischen dem Satelliten und den Nutzer*innen vor unbefugtem Zugriff geschützt bleiben. Strategien wie eine strenge Käufer*innenregistrierung und Geofencing-Technologien1 könnten verhindern, dass Satellitenantennen in die falschen Hände geraten, insbesondere in sensiblen Gebieten wie dem Amazonas. Die Welt wird zunehmend von diesen Plattformen beherrscht. Da braucht es einen ganzheitlichen Ansatz, um die digitale Souveränität und den Schutz der kollektiven Rechte zu gewährleisten.“

In diesem Sinne ist es alarmierend, dass wirtschaftliche Ressourcen und Wissen in den Händen großer Tech-Unternehmen konzentriert sind. Es ist dringend notwendig, diese Unternehmen zu besteuern und sie sozial verantwortlich zu machen, weil sie Informationen nutzen, um Gewinne in imperialistischen Ländern zu erzielen. Diese Praktiken schwächen die Demokratie und unterstützen die extreme Rechte. Die Situation ist so ernst, dass am 17. September mehr als 50 Akademiker*innen und Intellektuelle aus verschiedenen Ländern einen offenen Brief veröffentlicht haben, in dem sie den Druck von Elon Musk auf Brasilien kritisieren und alle, die demokratische Werte verteidigen, auffordern, das Land zu unterstützen. Die Verteidigung der Demokratie und der Souveränität der digitalen Infrastruktur und Daten ist nicht nur eine Aufgabe für Brasilien, sondern für alle abhängigen Länder.

  • 1. Geofencing ist eine Technologie, die auf geografischer Datenanalyse und Datenverarbeitung basiert. Geofencing definiert virtuelle geografische Grenzen und sendet Benachrichtigungen aus, wenn ein Gerät diese Grenzen überschreitet.

Joyce Souza Maldonado ist Wissenschaftlerin am Laboratorium für Freie Technologien der Universidade Federal do ABC in São Paulo, Brasilien.