Absurd real
Nach der Klimaapokalypse ist nirgends auf der Erde mehr Leben möglich. Nirgends, außer hier. In dem ehemaligen Kloster findet eine Gruppe von Frauen Zuflucht vor der Zerstörung. Und zerstört sich stattdessen selbst.
Die argentinische Autorin Agustina Bazterrica hat 2023 ihren neuen Roman „Las Indignas“ vorgelegt, der jetzt im September in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Die Nichtswürdigen“ bei Suhrkamp erschienen ist. Gerade einmal 196 groß beschriebene Seiten ist der Roman lang. Und trotzdem ist es schwer, ihn in einem Rutsch zu lesen. Er beschreibt mit solcher Brutalität die aktuelle und die kommenden Welten, dass jede Seite den Magen herausfordert. Aber er entwickelt auch einen so starken Sog in dieses Universum des Terrors, dass man das Buch dann doch nicht aus der Hand legen mag.
Schon lange hatte es auf der Erde keine Bäume mehr gegeben. Nicht einmal die neue Göttin der Idee, die Absolute Künstliche Intelligenz, hatte einen rettenden Einfall. Und dann kam der große Stromausfall, von dem sich die Welt nicht mehr erholt hat. Die Erde ist verseucht, es gibt kaum noch Nahrung und Wasser. Menschen tun sich schreckliche Dinge an. Halb tot schleppt sich die Erzählerin, deren Namen wir nie erfahren, in das ehemalige Kloster. Wer noch brauchbar aussieht, wird in die Schwesternschaft aufgenommen, die anderen werden ihrem Schicksal überlassen oder getötet. Es ist eine streng hierarchische Gesellschaft. An der Spitze steht die Schwester Oberin, ihr folgen die Erleuchteten und die Auserwählten, die man verstümmelt hat, damit ihre Heiligkeit nicht durch weltliche Sinneseindrücke getrübt werde. Ganz unten stehen die Nichtswürdigen und die Dienerinnen. Erniedrigung und Folter füllen nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Herzen. Alle machen begierig mit in dem Zirkus aus gegenseitiger Demütigung, geiern nur darauf, den anderen Schmerzen zufügen zu können. Es ist verboten, die alte Sprache zu sprechen, den alten Namen zu benutzen, den alten Gott zu erwähnen. Denn hier herrscht ein neuer Gott: Er. Man sieht nie sein Gesicht, doch Er ist omnipräsent. Im Hintergrund zieht er die Fäden in diesem weiblichen Horrorkabinett. Das Gleichgewicht gerät ins Wanken, als eine neue Schwester das Kloster betritt. Lucía ist anders. Und ganz langsam riecht man die Knospen von so etwas wie Zärtlichkeit, von Mitgefühl – und von Rebellion. Ist die Welt da draußen doch noch nicht verloren?
„Die Nichtswürdigen“ ist Agustina Bazterricas dritter Roman. Spätestens mit ihrem zweiten, „Wie die Schweine“ von 2017, hat sie sich einen Platz in der Generation der jungen dystopischen Schriftstellerinnen aus Lateinamerika erobert. Das Verstörende an Bazterricas Romanen ist nicht, wie absurd sie sind, sondern wie nah sie in ihrer Absurdität an unserer Wirklichkeit sind. „Nichts, was ich erzähle, ist fiktiv, alles passiert so in der echten Welt“, sagte die Schriftstellerin in einem Interview mit der ecuadorianischen Tageszeitung „El Universo“. Das Klima der Zwietracht, das im Kloster herrscht, kenne sie aus ihrer Zeit in einer von deutschen Nonnen geführten Schule in Argentinien, erzählte sie dem Onlinemedium infobae. Die psychologische Gewalt, die ständige Angst und das Misstrauen, die mit Gottesglauben rechtfertigt würden, seien für sie normal gewesen. So wie für die Unterworfenen im Roman. Und die verseuchte Erde, das Wasser, das nicht trinkbar ist – es ist vor allem im monokulturgeplagten Argentinien heute schon Realität. Die Analyse, dass beides zusammengehört, patriarchale Gewalt und die Unterwerfung der Natur, gehört zum Kern dieser starken literarischen Stimme.
Bazterrica hält ihren Roman nicht für ein abgeschlossenes Werk. Jede Leserin habe eigene Interpretationen, könne ihre eigenen Verknüpfungen zu anderen Texten ziehen. Die Verbindung zu Margaret Atwoods „The Handmaid’s Tale“ (Der Report der Magd), in dem die wenigen noch fruchtbaren Frauen zu Gebärmaschinen für die Reichen werden, liegt nahe. Wie nah allerdings das Cover der deutschen Ausgabe an der Ästhetik der auf Atwoods Roman beruhenden Serie ist, kann trotzdem irritieren. Irritierend ist auch die Schreibweise des Textes, aber auf eine gute Art. Immer wieder sind Worte und ganze Sätze durchgestrichen. Die Passagen verweisen auf Überbleibsel aus der alten Welt, auf verbotene Gedanken. Es ist ein gelungenes Stilmittel. Geteilter Meinung kann man in manchen Teilen über die Sprache sein. Was Bazterrica selbst als poetisch bezeichnet, grenzt manchmal an Kitsch, wobei unklar ist, wie viel daran an der ansonsten federleichten Übersetzung liegt. Und vielleicht tut ein bisschen Kitsch dieser kalten Welt ohnehin gut.