„Falsos positivos“ in Kolumbien – eine offene Wunde
Bei seinem Amtsantritt versprach Präsident Gustavo Petro, die Ausbildung der Streitkräfte radikal zu verändern. Schließlich wurde ihnen bisher in der Ausbildung Hass gegen Andersdenkende vermittelt, was zu vielen Verbrechen führte. Die Regierung Petro hingegen hat sich eine Politik auf die Fahnen geschrieben, die das Recht auf Leben in den Mittelpunkt stellt. Am 23. September stellte das Verteidigungsministerium seine neue Menschenrechtsstrategie vor. Bei der Aufklärung und Ahndung der Verbrechen der Vergangenheit hakt es jedoch an einigen Stellen. Pilar Castillo von der Menschenrechtsorganisation MINGA zeigt dies anhand des Skandals der außergerichtlichen Hinrichtungen auf.
Die kriminelle Praxis der außergerichtlichen Hinrichtungen in Kolumbien erstreckt sich auf zwei wichtige Zeitspannen: auf die Jahre bis 2008 und dann auf die Zeit danach. Die erste Phase war insbesondere die Zeit der „Politik der demokratischen Sicherheit“, die der damalige Präsident Álvaro Uribe Vélez ab 2002 vorantrieb. Auf die Praxis der außergerichtlichen Hinrichtungen machten zunächst zivilgesellschaftliche Organisationen aufmerksam, weil in mehreren Regionen die Morde an einfachen Leuten zugenommen hatten. Die Opfer wurden von der Armee als „im Kampf Getötete deklariert. Später wurden diese Morde unter dem Begriff „falsos positivos“ (falsche Positive) bekannt. Die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) hat von 2002 bis 2008 mindestens 6402 solche außergerichtlichen Hinrichtungen registriert.
Ein Bruch mit dieser Praxis vollzog sich ab 2008. Auslöser war, dass damals die Leichen von 15 Jugendlichen aus Soacha und Bogotá in einem Massengrab in der Stadt Ocaña im Departement Norte de Santander gefunden wurden. Ocaña liegt etwa 15 Stunden auf dem Landweg vom Wohnort der Opfer entfernt. Es gab keine kohärente Erklärung dafür, warum die als vermisst Gemeldeten ausgerechnet dort aufgefunden wurden. Mit diesem Fall wurden die gezielten Tötungen allmählich öffentlich bekannt. Ab September 2008 gingen diese signifikant zurück. Das zeigt, dass der Staat durchaus in der Lage war, dieser kriminellen Praxis einen Riegel vorzuschieben. Doch auch nach 2008 gab es weitere emblematische Fälle. Einer davon ist das Massaker im Weiler Alto Remanso am 28. März 2022 während der Regierungszeit von Präsident Iván Duque. Dieses versuchte das Militär anfangs damit zu rechtfertigen, dass die Opfer angeblich illegalen bewaffneten Gruppen angehörten. Es wurde aber klar nachgewiesen, dass an diesem Tag in der Ortschaft, die zum Munizip Puerto Leguízamo im Amazonas-Departement Putumayo gehört, ein Gemeindefest stattfand und dass die Opfer Zivilpersonen waren. Deshalb erhob die Staatsanwaltschaft im August dieses Jahres Anklage gegen 24 Soldaten, die für diese Taten verantwortlich sein sollen.
Unter der Regierung von Präsident Petro gibt es bisher keine exakten Angaben über außergerichtliche Hinrichtungen. Allerdings haben Meldungen über schwere Menschenrechtsverletzungen in mehreren Landesteilen infolge der starken Präsenz von illegalen bewaffneten Gruppen zugenommen. In vielen Fällen wird nach wie vor eine Zusammenarbeit zwischen illegalen bewaffneten Gruppen und Militärs, die die Übergriffe zulassen, vermutet. Laut aktuellen Zahlen des kolumbianischen Menschenrechtsprogramms „Somos Defensores“ gab es im ersten Quartal 2024 insgesamt 124 Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger*innen, darunter 30 Morde.1 Das zeigt, wie angespannt die Lage in Kolumbien für Menschenrechtsverteidiger*innen und soziale Anführer*innen weiterhin ist.
Aufklärung der Verbrechen
Die außergerichtlichen Hinrichtungen, die in Kolumbien bis vor 2016 verübt wurden, werden vornehmlich von der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) untersucht. Die „Falsos Positivos“ werden dort als „Makro-Fall Nr. 3“ geführt und definiert als Fälle von „Morden und gewaltsamem Verschwindenlassen, die von Staatsbediensteten als ‚im Kampf Getötete‘ (bajas en combate) präsentiert wurden“ (insgesamt behandelt die JEP elf solcher Makro-Fälle). Dank des Beitrags zur Wahrheitsfindung einiger vor Gericht erscheinender Militärs konnte die JEP bestimmte Muster von Makrokriminalität nachweisen, die mit früheren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft übereinstimmen. Unter anderem die gezielte und vom Staat bezahlte Rekrutierung der Opfer, das Entwenden ihrer Ausweisdokumente, ihre „Anwerbung“ in weit entfernten Gebieten (oft wurde ihnen dabei Arbeit versprochen), die Nutzung von bei Militäroperationen erbeuteten Uniformen und Waffen, um sie den Opfern anzuziehen beziehungsweise umzuhängen und damit eine bewaffnete Konfrontation zu simulieren, sowie die Manipulation der Tatorte.
Sorge bereitet, dass die JEP entschieden hat, einige Regionen bevorzugt zu untersuchen, wodurch andere, etwa die Departements Putumayo oder Arauca, außen vor gelassen werden. Dabei hat die JEP selbst festgestellt, dass die Praxis der außergerichtlichen Hinrichtungen mit Ausnahme der Inseln San Andrés und Providencia im gesamten Staatsgebiet Kolumbiens Anwendung fand. Auch werden bei den Untersuchungen bestimmte Zeiträume priorisiert. Für die restlichen Regionen respektive Zeiträume bleibt also unklar, wie die Verbrechen juristisch aufgearbeitet werden können.
In der gegenwärtigen nationalen Ermittlungsphase steht bezüglich der eidesstattlichen Aussagen der einberufenen Zivilpersonen noch immer die des Politikers Sergio Jaramillo aus. Sie wurde bereits zweimal verschoben. Seine Aussage ist deshalb wichtig, weil er eine der Personen war, die die „Politik der demokratischen Sicherheit“ mit entwickelt haben, die damals für die Ausbildung der Streitkräfte zuständig war. Dass das Datum seiner Vorladung noch nicht feststeht, gilt als problematisch.
Insgesamt hat die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden Schwierigkeiten mit dem Zugang zu Information und einer effektiven Kommunikation mit den jeweils zuständigen Gerichtskammern (Salas de Justicia) sowie den Sektionen des Friedenstribunals. Ein Beispiel dafür ist der Fall aus dem Departement Norte de Santander. Elf Hauptverantwortliche (zehn Militärangehörige und ein Rekrutierer) wurden identifiziert, in 2007 und 2008 für insgesamt 120 außergerichtliche Hinrichtungen in der Region Catatumbo verantwortlich zu sein. Obwohl dieser Fall der am weitesten fortgeschrittene sein soll, hat das Friedenstribunal bisher kein Urteil gefällt.
Die Fälle, die von der JEP nicht priorisiert wurden, sollten eigentlich von der ordentlichen Gerichtsbarkeit unter Federführung der Generalstaatsanwaltschaft vorangetrieben werden. Allerdings sind seit 2018, als die Übergangsjustiz in Kraft trat, die Ermittlungen dazu und wesentliche Entscheidungen eingestellt worden. Die meisten Fälle befinden sich aktuell in einem juristischen Schwebezustand.
Forderungen von Menschenrechtsorganisationen
Als Vertretung der Opfer fordern Menschenrechtsorganisationen wie MINGA von der JEP, dass sie die vor Gericht Aussagenden dazu drängt, tatsächlich zur Wahrheitsfindung beizutragen. Die JEP hat in den vergangenen sechs Jahren ihrer Arbeit festgestellt, dass es Widersprüche zwischen den Versionen hochrangiger Funktionsträger (meist Militärs) und der ihrer Untergeordneten gibt. Während erstere in den meisten Fällen ihre Verantwortung aufgrund von „Unterlassung“ akzeptieren (also die Verbrechen nicht verhindert zu haben), konstatieren einige ihrer Untergebenen, dass sie von ihren Vorgesetzten direkt angewiesen wurden, diese Taten auszuführen und zu vertuschen. Die tatsächlichen Hauptverantwortlichen müssen einbezogen werden. In den meisten Fällen hat die JEP bisher nur die ausführenden Täter vorgeladen und es versäumt, die Drahtzieher und eigentlichen Verantwortlichen einzubeziehen. Für die Opfer ist das sehr belastend, weil sie befürchten, dass sich die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden zu einer Gerichtsbarkeit für Straffreiheit entwickeln könnte. Die JEP bleibt daher hinter den Erwartungen der Opfer zurück, auch im Hinblick auf mögliche Maßnahmen für Wiedergutmachung. Den Betroffenen ist zwar bewusst, dass es sich um eine Übergangsjustiz handelt, bei der Sanktionen und Strafen anders gestaltet sind. Doch es kann nicht sein, dass die JEP nur den Angeklagten zugutekommt, die einige wenige Informationen preisgeben, sich öffentlich reuevoll zeigen und dadurch eine erhebliche Strafminderung erreichen.
Vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit wurden bisher nur Militärangehörige bis zum Rang eines Oberst angeklagt und verurteilt. Bei der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden ist in priorisierten Fällen, wie dem zitierten von Norte de Santander, als Hauptverantwortlicher ein General, konkret General Paulino Coronado Gámez, vorgeladen worden. Er ist der ranghöchste Militär, der bisher erschienen ist und seine Verantwortung mittels „Unterlassung“ akzeptiert hat. Der Fall wird jetzt vom Friedenstribunal (Tribunal para la Paz, Organ der JEP) verhandelt. Die JEP hat einen nationalen Fall eröffnet, von dem erwartet wird, dass die hinter den Verbrechen stehenden ranghöchsten Offiziere zur Verantwortung gezogen werden. Aber dieser Fall geht sehr langsam voran. Wir befürchten, dass das Mandat der JEP nach zehn Jahren enden könnte, ohne dass alle Hauptverantwortlichen zur Rechenschaft gezogen worden sind.
Übersetzung: Valerie Systermans