Am 27. September hat sich Ayotzinapa zum zehnten Mal gejährt. Der Name steht für das Verschleppen, Ermorden und Verschwindenlassen von 43 Lehramtsstudenten einer ländlichen Hochschule, der Escuela Normal Rural de Ayotzinapa im mexikanischen Bundesstaat Guerrero.
Ayotzinapa steht außerdem für das beispiellose Verschleiern von Verantwortlichkeiten und für das Versagen des mexikanischen Rechtsstaats. Schließlich herrscht in diesem Fall bis heute Straflosigkeit. Die bei dem Verbrechen genutzten G36-Sturmgewehre zeigen zudem eine direkte Verbindungslinie zur deutschen Waffenindustrie.
Als Lateinamerikamagazin berichten wir seit den 1970er-Jahren über die verstörende Praxis des Verschwindenlassens, die vor allem von diktatorischen Regimen perfektioniert wurde. Verschwindenlassen ist eine Strategie des Terrors, die für ein Gefühl der Unsicherheit in der ganzen Gesellschaft sorgt. Auch in modernen Narco-Staaten wie Mexiko ist diese Praxis gängig.
Die 43 aus Ayotzinapa waren jung, zwischen 17 und 25 Jahre alt, stammten aus ärmeren Verhältnissen und waren Indigene. Sie sind gestorben, weil sie unterwegs zu Protesten waren, weil sie im Weg standen und womöglich einen Drogentransport hätten auffliegen lassen. Der mexikanische Staat hat sie sterben lassen, weil sie zu einer historisch ausgegrenzten Bevölkerungsgruppe gehörten und somit „überflüssig“ waren. Ayotzinapa zeigt, wofür Nekropolitik steht: eine Politik des Todes, des Sterben-Machens, besonders gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen.
Verschwindenlassen und Töten sind Elemente dieser Politik, um Macht zu erlangen, sie zu erhalten und zur Schau zu stellen. In Mexiko werden im Durchschnitt neun Frauen täglich umgebracht. Diese Politik betrifft bestimmte Gruppen wie Frauen oder Migrant*innen besonders, aber auch die Gesellschaft als Ganzes. Ayotzinapa findet täglich statt, und zwar an vielen Orten. Immer wieder auch in der Wüste oder im Meer.
Dabei ist der Staat bei weitem nicht der einzige Akteur, aber auch er ist erbarmungslos. Den Opfern – seinen Feinden – nimmt dieser Staat nicht nur das Leben. Er rächt sich mitunter an ihren Körpern, indem er sie wahlweise verschwinden lässt oder zur Schau stellt. Damit verhindert er, dass sie in Würde bestattet werden können. Diese Politik hat schon vor langem ihren Kompass für (Mit)Menschlichkeit verloren.
Nekropolitik betreibt einen für alle sichtbaren, mal wahllosen, mal gezielten, vor allem: immer präsenten Terror. Sich damit zu beschäftigen ist schwer auszuhalten, immer wieder stellt sich Verstörung ein. Timo Dorsch schreibt in dieser Ausgabe, dass die Politiken des Todes der passende Ausdruck für den todgeweihten, aber nicht sterben wollenden Kapitalismus sind.
Und doch entsteht daraus manchmal etwas, das trotz allem Hoffnung aufkeimen lässt. Auch als Reaktion auf die lateinamerikaweite Epidemie der Feminizide hat sich der Feminismus als aktuell schlagkräftigste soziale Bewegung herausgebildet. Angehörige sind hartnäckig und unbequem, wenn es um die Suche nach Verschwundenen, um Aufklärung und Gerechtigkeit geht. Und andere Unermüdliche stellen sich allen Widrigkeiten zum Trotz dem Sterben auf dem Mittelmeer entgegen.
Ayotzinapa hat sich derart ins internationale Gedächtnis eingebrannt, weil Angehörige und zivilgesellschaftliche Organisationen darum kämpfen, dass die 43 nicht vergessen werden. Weltweit haben Künstler*innen und Schriftsteller*innen auf das tragische Ereignis reagiert: So entstanden Wandmalereien, Gedichte, Performances, Theaterstücke, Filme, Bücher und Ausstellungen. Diese Kunst sammelt Beweise, klagt an, trägt zur Verarbeitung der Trauer bei. Einer dieser Künstler ist Rafael Lozano-Hemmer. Auf sein Werk ist die ila-Redaktion bei einem Museumsbesuch in Montevideo gestoßen. Die Installation „Nivel de confianza“ (Vertrauenslevel) besteht aus einem Bildschirm, vor dem sich die betrachtende Person positioniert, und einer Gesichtserkennungssoftware, wie sie von Sicherheitskräften verwendet wird, um Straftäter zu überführen. Der Künstler hat die Überwachungstechnologie auf den Kopf gestellt: Statt nach Schuldigen zu suchen, stehen die Opfer im Mittelpunkt. Das System führt eine Gesichtserkennung durch und vergleicht die betrachtende Person mit den 43 Studenten: Mit welchen davon stimmst du am meisten überein? Nach kurzer Zeit wird dir dein Match angezeigt. Du ähnelst diesem 19-Jährigen mit dem schmalen Gesicht? Vielleicht, weil er die gleichen Augenbrauen wie du hat? Ein Gefühlsmix bricht sich Bahn: Ungläubigkeit, Empathie, Trauer, Solidarität. Dieser erste Moment ist wichtig. Aber es braucht mehr, es braucht den aktiven Kampf gegen die Politik des Todes.