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Der Weg zur Macht

Claudia Sheinbaum wird erste Präsidentin Mexikos

Am 2. Juni 2024 gewinnt die Tochter jüdischer Einwander*innen mit großem Vorsprung die Präsidentschaftswahlen in Mexiko. Claudia Sheinbaum ist damit die erste regierende Frau in 200 Jahren mexikanischer Staatsgeschichte. In gerade einmal neun Jahren ist die Physikerin und promovierte Energiewissenschaftlerin zur einflussreichsten Frau Mexikos aufgestiegen. Ein einzigartiger Werdegang in Mexikos Politik.

Dalila Sarabia

Wir Frauen können Präsidentinnen sein! Und damit lade ich höflich dazu ein, dass wir von nun an PräsidentIN sagen. So wie wir RichterIN, AnwältIN, WissenschaftlerIN, IngenieurIN sagen; denn was benannt wird, existiert, und was nicht benannt wird, existiert nicht.“ Das waren die ersten Worte von Claudia Sheinbaum, nachdem sie zur Präsidentin Mexikos gewählt worden war. Die 62-jährige Diplom-Physikerin und promovierte Energiewissenschaftlerin ist die erste Frau, die dieses Amt bekleiden wird. Die erste Frau im seit 200 Jahren unabhängigen Mexiko, nachdem 65 Männer den Präsidentenstuhl besetzt hatten. Ihr Triumph war überwältigend. Sie erhielt 35,9 Millionen Stimmen und hatte damit einen Vorsprung von 32 Prozentpunkten vor Xóchitl Gálvez, der Oppositionskandidatin und ihrer größten Herausforderin.

Der Weg in den Nationalpalast war – trotz der großen Unterstützung in der Bevölkerung – nicht einfach. Denn obwohl die Spitzenkandidatinnen beide Frauen waren, war der gesamte Wahlkampf von geschlechtsspezifischer politischer Gewalt geprägt. Sheinbaum wurde in den sozialen Netzwerken ständig angegriffen und beschimpft, weil sie eine Frau ist. Darunter fielen Kommentare zu ihrer Figur, ihrer Art zu sprechen, ihrer Kleidung. Sie habe „kein Charisma“, sei „kalt“, und habe „kein Herz“. Vor allem wurde sie als eine Kopie des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador beschimpft, die nicht selbst denkt und nur das tut, was er, eine männliche Person, ihr aufträgt. „Wir haben einen Wahlkampf voller Verleumdungen, schmutziger Kriege, Lügen und misogyner Argumente überstanden. Im konservativen Diskurs war von „Kopie“ oder „Klon“ die Rede. Aber das mexikanische Volk hat mit Kraft und Entschlossenheit gesagt: ‚Es ist Zeit für Frauen und es ist Zeit für Wandel‘“, sagte sie ein paar Tage nach ihrem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen. Schon während des Wahlkampfes versuchte man, sie mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung zu bringen, ein Diskurs, den auch die Oppositionskandidatin in einer Präsidentschaftsdebatte im nationalen Fernsehen bemühte.

Im Vergleich zu anderen Persönlichkeiten wuchs Sheinbaum nicht in der Welt der Politik auf, obwohl ihr diese Sphäre nicht fremd war, da ihre Eltern gute Beziehungen zu Intellektuellen und Politiker*innen pflegten. Von Kindheit an wurde ihr die Liebe zu Wissenschaft, Forschung, Kunst und Sport zu Hause beigebracht. Sie besuchte Ballettkurse, lernte Jarana, eine Art kleine Gitarre, und begann an der Universität mit dem Rudern. Sie hatte die Weichen gestellt, um ihr Leben der Forschung und der Lehre zu widmen. Doch im Jahr 2000 stellte eine Begegnung mit Andrés Manuel López Obrador, dem derzeitigen Präsidenten Mexikos, das Schicksal der jungen Frau auf den Kopf.

In der jüngeren Geschichte Mexikos gab es in der Politik noch nie ein Profil wie das von Sheinbaum, nicht nur, weil sie eine Frau mit einem Hochschulabschluss ist, sondern auch, weil sie erst 2015 in die Politik und die öffentliche Verwaltung eingestiegen ist. Da erklärte sie sich bereit, bei einer Wahl für eines der 16 Bürgermeisterämter in Mexiko-Stadt zu kandidieren: Tlalpan, der Bezirk, in dem sie seit 30 Jahren lebte. In nur neun Jahren nahm ihr Leben eine 180-Grad-Wende. Und nun wird ihr Name in die mexikanischen Geschichtsbücher eingehen, denn sie wird die erste weibliche Präsidentin des Landes sein.

Obwohl sie sich für soziale Bewegungen interessierte und mit linken Ideen sympathisierte, war Claudia Sheinbaum nie aktiv in der Politik tätig. Als sich 1989 die „Partido de la Revolución Democrática“ (Partei der Demokratischen Revolution, PRD) gründete, wurde sie Mitglied der Parteibasis. Sie bekleidete keine Posten und nahm nur sporadisch an einigen Versammlungen teil. Ende der 1990er-Jahre wurde sie von dem Chemiker Mario Molina, der 1995 den Chemie-Nobelpreis erhalten hatte, in sein Team eingeladen, um die Luftverschmutzung in Mexiko-Stadt zu untersuchen. Diese Arbeit öffnete ihr die Tür zur Politik.

Der Tag, der ihr Leben veränderte

Im Jahr 2000 gewann der von der PRD unterstützte Andrés Manuel López Obrador die Wahlen und wurde Regierungschef des damaligen Distrito Federal (heute Ciudad de México). Wenige Tage nach seinem Sieg begann er, sein Kabinett zusammenzustellen. Für den Bereich Umwelt brauchte er eine Person mit wissenschaftlicher Expertise, die ihm helfen sollte, die Luftverschmutzung in der Hauptstadt zu bekämpfen. Der Physiker José Barberán, ein Freund von López Obrador und Claudia Sheinbaums Eltern, empfahl umgehend die damals 38-jährige Wissenschaftlerin. Das erste Mal traf Sheinbaum den damaligen Präsidenten López Obrador in einem Restaurant, das Treffen dauerte nur etwa 15 Minuten. Die beiden tranken Kaffee. López Obrador erklärte ihr, dass er eine Expertin für Luftverschmutzung benötige und bot ihr die Position an, woraufhin Sheinbaum nickte. Obwohl sie vorher keine politischen Ambitionen gehabt hatte, steht Sheinbaum seit diesem Gespräch vor 24 Jahren fest an López Obradors Seite. Sie ist nicht nur eine seiner engsten Vertrauten, sondern auch seine Nachfolgerin an der Macht geworden.

Von 2000 bis Anfang 2006 war Claudia Sheinbaum Leiterin des Umweltsekretariats von Mexiko-Stadt. In dieser Zeit wurde sie wegen der von ihr geförderten Projekte immer wieder kritisiert. Sie war Angriffen ausgesetzt, weil sie für den Bau des zweiten Stocks des Periférico, einer der Hauptverkehrsstraßen von Mexiko-Stadt, verantwortlich war. Die Bevölkerung fand es widersprüchlich, dass sie als Verantwortliche für die Verringerung der Luftverschmutzung gleichzeitig den Bau weiterer Straßen für Privatfahrzeuge veranlasste. Mit der Zeit wurde dieses Projekt zu einem ihrer Wahlkampfslogans: „der zweite Stock der vierten Transformation“.1 Das erste Stockwerk, erklärte sie in Wahlkampfveranstaltungen, habe ihr Mentor und derzeitige Präsident Andrés Manuel López Obrador errichtet.

Im Jahr 2006 verließ Sheinbaum das Umweltministerium von Mexiko-Stadt und wurde Wahlkampfsprecherin von Andrés Manuel López Obrador, der sich von der linken Partei PRD für das Präsidentenamt aufstellen ließ. AMLO verlor die Wahl gegen Felipe Calderón von der PAN mit weniger als einem Prozent Stimmenunterschied, woraufhin Sheinbaum als Professorin an die Nationale Autonome Universität von Mexiko (UNAM), Mexikos renommierteste Universität, in die Wissenschaft zurückkehrte. Im Jahr 2012 unterstützte sie López Obrador erneut bei den Präsidentschaftswahlen. Er verlor gegen Enrique Peña Nieto von der PRI, brach mit der PRD und gründete seine eigene Partei: die Bewegung der Nationalen Erneuerung (Morena). Am Gründungsprozess war Claudia Sheinbaum aktiv beteiligt.

Morena wurde am 9. Juni 2014 offiziell als politische Partei gegründet. Von nun an war Claudia Sheinbaums Aufstieg nicht mehr aufzuhalten. Im Jahr 2015 übernahm sie das Bürgermeisteramt für Tlalpan und gewann 2018 die Wahl zur Regierungschefin von Mexiko-Stadt. Damit wurde sie die erste Frau auf diesem Posten. Sie beendete ihre sechsjährige Amtszeit nicht, denn am 15. Juni 2023 kündigte Claudia Sheinbaum in einer großen Veranstaltung am Revolutionsdenkmal an, dass sie sich auf unbestimmte Zeit vom Amt der Regierungschefin zurückziehen würde. Sie würde ihren Weg zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 antreten, um als erste Frau, die Mexiko regiert, Geschichte zu schreiben. In einem internen Verfahren setzte sie sich gegen fünf Männer durch und wurde so zur Präsidentschaftskandidatin von Morena. Am 2. Juni 2024 gewann sie schließlich die Präsidentschaftswahlen mit einem historischen Ergebnis: 35 924 519 Stimmen, insgesamt 59,76 Prozent.

„Ich komme nicht allein, sondern zusammen mit allen Frauen“

Frauen durften in Mexiko zum ersten Mal 1955 an einer Bundeswahl teilnehmen. Der Einzug von Claudia Sheinbaum in das Präsidentenamt ist also kein individueller Triumph, sondern das Ergebnis eines jahrzehntelangen Kampfes: „Ich komme nicht alleine, sondern zusammen mit allen Frauen.“

Ihre Rede, nachdem sie die Wahl gewonnen hatte, widmete sie nicht nur all den Frauen, die jahrelang von ihren Schützengräben aus für die Verteidigung ihres Heimatlandes gekämpft haben, sondern auch den unsichtbaren Frauen, die jeden Tag dafür kämpfen, ihre Familien voranzubringen. „Ich lasse diejenigen erscheinen, die zum Verschwinden gebracht werden sollten, diejenigen, die für ihren Traum gekämpft und ihn erreicht haben; diejenigen, die gekämpft haben und gescheitert sind; diejenigen, die ihre Stimme erheben konnten und diejenigen, die es nicht taten; diejenigen, die schweigen mussten und dann alleine schrien; diejenigen, die am meisten an den Rand gedrängt waren; unsere Großmütter und Urgroßmütter, die nicht lesen und schreiben lernten, weil die Schule nichts für Mädchen war; unsere Tanten, die in ihrer Einsamkeit einen Weg fanden, stark zu sein; unsere Mütter, die uns erst das Leben schenkten und uns dann alles gaben“, sagte Sheinbaum mit brüchiger Stimme. Claudia Sheinbaum wird am 1. Oktober als verfassungsmäßige Präsidentin Mexikos vereidigt und für die nächsten sechs Jahre im Amt sein.

  • 1. AMLO bezeichnete sein politisches Projekt als „Vierte Transformation“ (4T). Es sollte die vierte große Veränderung des politischen Systems Mexikos sein, nach der Unabhängigkeit (1821), den modernisierenden Reformen unter Benito Juárez (1854 und 1876) und der Mexikanischen Revolution (1910).

Dalila Sarabia ist Journalistin beim mexikanischen Onlinemedium Animal Político.

Übersetzung: Inga Triebel