Denk mal!
Eine Ankündigung im Bonner Generalanzeiger über eine Lesung in der Buchhandlung Böttger in Bonn am 23. August 2024 machte mich neugierig. „Unterwegs“ heißt das gerade erschienene Buch, aus dem gelesen werden sollte. Es enthält elf Essays der Historikerin Ruth Schlette. Ausgesucht haben die Aufsätze aus den Jahren 1969 bis 2016 ihr Mann, der Philosoph Heinz Robert Schlette, sowie Alfred Böttger, der umtriebige Inhaber der gleichnamigen Buchhandlung. Beide stellten das Büchlein an dem Abend auch vor.
Ruth Schlette, die am 26. Januar dieses Jahres im Alter von 90 Jahren in Bonn gestorben ist, kennen viele Bonner*innen als akribische Forscherin über die Schicksale verfolgter Juden und Jüdinnen, als Gründungsmitglied der Beueler Initiative gegen Fremdenhass und – vor allem Menschen mit Lateinamerikabezug – als Mitbegründerin der Bonner Kinderhilfe Chile. Am 4. April 2016 zeichnete die chilenische Regierung Ruth Schlette für ihren jahrelangen, unermüdlichen Einsatz für verfolgte Chilen*innen mit dem Orden „Al Mérito de Chile“ aus, der höchsten Auszeichnung, die die Republik Chile an Ausländer*innen verleiht.
Die Bonner Kinderhilfe Chile war eine Frauengruppe, die die Familien politischer Gefangener unterstützte. Kurz nach dem Putsch Pinochets gegründet, blieb sie auch dann noch für die Menschenrechte und die Opfer des Staatsterrors aktiv, als sich der größte Teil der linken Gruppen längst nicht mehr für Chile interessierte. Die ila arbeitete seit ihren Anfängen mit Ruth Schlette zusammen, gelegentlich veröffentlichte sie auch Beiträge in unserer Zeitschrift. In der ila 375 ist die bewegende Ansprache veröffentlicht, die sie anlässlich der Verleihung des Ordens gehalten hat. „Zu viel der Ehre – zu viel des Lobes – zu viel für eine einzelne“, sagte sie damals. Sie nennt andere Weggefährt*innen, spricht über den Schmerz und die Trauer dieser Jahre, aber auch über die Erfahrung von Solidarität. Am Ende trägt sie ein Gedicht von Antonia Torres vor, „Denkmal“: „Wenn du genau darüber nachdenkst/ ist hier eine Erinnerung/ halte inne/ denk genau darüber nach/ eine Folterkammer ein Kerker/ einige rauchende Soldaten“.
Ich ging also zu der Lesung. Dicht gedrängt lauschten zahlreiche, überwiegend ältere Menschen gebannt den Redner*innen, die einzelne Aufsätze aus dem Buch vorlasen. Auf den ersten Blick wirkt der Band wie zufällig zusammengestellt: Aufsätze über mutige Frauen und Männer der Weimarer Zeit (über die Schriftstellerin Lily Braun, über ihren Mann, den sozialistischen Politiker Heinrich Braun, über Otto Braun, über die Kunsthistorikerin Julie Braun-Vogelstein), über die mühsame Spurensuche zum Schicksal von Beueler Juden und Jüdinnen, wie Karola Frank oder Max und Bella Weis, ein Arztehepaar, das nach Folterungen und Irrfahrten den Nazis entkommen konnte und einsam und vergessen in Cardiff, Großbritannien, verstarb. Sie waren unter den 900 Juden und Jüdinnen, die 1938 versuchten, mit der MS St. Louis nach Havanna oder in die USA auszureisen (wofür sie sehr viel Geld bezahlen mussten) und die nirgendwo anlanden durften (wie sich das Schicksal von Geflüchteten wiederholt!). Auch über diese dramatische Reise der MS St. Louis findet sich ein Artikel in dem Buch. Und einer über Ruth Schlettes Arbeit in der Bonner Kinderhilfe, wo sie sehr persönlich ihre Erfahrungen beschreibt: „Diese Gruppe war anders als alle anderen Gruppen oder Vereine, die ich kannte.“ Der überraschendste Beitrag, der ebenfalls an dem Abend vorgelesen wurde, war der über die argentinische Lyrikerin, Feministin und Journalistin Alfonsina Storni, mit der sich Schlette lange und intensiv beschäftigt hatte. Diese Frau, die als mittellose Immigrantin und alleinstehende Mutter keine guten Voraussetzungen hatte, kämpfte ihr Leben lang, arbeitete in den unterschiedlichsten Berufen, schrieb, diskutierte, nahm nie ein Blatt vor den Mund und bestimmte auch ihren Tod selber: Sie sprang wegen einer unheilbaren Krankheit ins Meer. In Argentinien wird sie verehrt, hier wird sie erst langsam bekannt, vor allem dank der unermüdlichen Arbeit von Hildegard E. Keller.1 „Lyrik als Grenzüberschreitung“ heißt der Aufsatz von Ruth Schlette über Storni. Vorangestellt hat sie ihm eine Zeile aus einem Gedicht Stornis: „… auf der Suche nach Sonnen, Morgenröten, Sturm, Vergessen“.
- 1. Hildegard E. Keller betreute in den vergangenen Jahren Werkausgaben von Alfonsina Storni Literatur: Ultrafantasía (Gedichte), Chicas (Aufsätze für Frauen), Cuca (Geschichten), Cardo (Interviews), Cimbelina (Theaterstücke). Am 27. September erscheint in der Edition Maulhelden, wo auch alle anderen Werke erschienen sind, eine zweibändige Biografie von Alfonsina Storni.