Mit Streiks und Nulltarif gegen die Asbestverseuchung
Bis zu einer Million Personen nutzen täglich die Subte, die U-Bahn von Buenos Aires. Wenn die Subte-Arbeiter *innen streiken, hat das empfindliche Auswirkungen. Dass sie das U-Bahn-Netz lahmlegen können, haben die Kolleg*innen häufig bewiesen. Aber sie praktizieren auch schon lange eine andere Streikform: Sie lassen die Nutzer*innen zum Nulltarif fahren. Der Gewerkschaftsdelegierte Claudio Dellecarbonara hat uns über den Kampf der Subte-Arbeiter*innen gegen die seit 2018 bekannte Asbestbelastung und gegen die derzeitige Regierung berichtet.
Für den 6. Mai hat der Dachverband der Transportarbeiter*innen CATT zu einem Protesttag gegen das geplante Gesetzespaket der Regierung Milei aufgerufen. Die Gewerkschaft der Subte-Arbeiter*innen – AGTSyP, kurz: Metrodelegadxs – ist selbstverständlich dabei. Von acht bis zehn Uhr öffnen sie an fünf der wichtigsten Stationen die Türen zu den Bahnsteigen, sodass die Passagiere die Drehkreuze, die sich nur nach Bezahlung öffnen, umgehen können. Claudio steht an der Station Federico Lacroze, beantwortet Fragen der Presse und hält den Fahrgästen die Tür auf. Er ist 51 Jahre alt, arbeitet seit 28 Jahren bei der Subte und ist im Leitungsgremium der Betriebsgewerkschaft. Er war schon in den 90er-Jahren dabei, als sich Kolleg*innen organisierten, um gegen die „Bürokraten“, wie in Argentinien die sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsapparate genannt werden, eine wirkliche Interessenvertretung aufzubauen. Daraus entstanden die Metrodelegadxs, die neue Gewerkschaft. Leider sind einige seiner damaligen Mitstreiter inzwischen selbst zum Bremsklotz geworden: „Wir waren damals jünger und kämpferischer. Compañeros, die damals dabei waren und jetzt in der Gewerkschaftsleitung sind, haben auf dem Weg dahin die progressiveren kämpferischen Methoden aufgegeben und begonnen, die Bürokraten zu kopieren. Sie haben selbst die Haltungen übernommen, die wir damals kritisiert und bekämpft haben. Das passiert sehr oft, zumindest hier in Argentinien. Die Führer der großen Gewerkschaften in Argentinien vertreten nicht mehr die Interessen der Arbeiter*innen, weil sie Geschäfte mit den Unternehmensleitungen machen oder einer Regierungspartei angehören“, sagt Claudio. Um eine solche Entfremdung von der Basis zu vermeiden, lehnt seine Fraktion in der Gewerkschaft die Freistellung von der Arbeit ab. Trotz seiner Gewerkschaftsverpflichtungen arbeitet er weiterhin als Fahrer auf der Linie B.
Die Nutzer*innen einbeziehen
Claudio erklärt uns den Hintergrund der Nulltarifaktionen: „Es gab in Argentinien schon viele Versuche, verschiedene Sektoren zusammenzubringen. Wir sind Arbeiter*innen im ÖPNV, und die meisten Personen, die ihn nutzen, sind ebenfalls Arbeiter*innen. Unsere Kampfmaßnahmen betreffen Personen, die genau wie wir zur Arbeit oder nachhause oder in die Schule kommen müssen. Wir haben deshalb überlegt, erstmal mit Flugblättern über die Situation und unsere Forderungen zu informieren. Dann haben wir Lautsprecher aufgebaut, wir standen da am Mikro und haben den Leuten die Lage erklärt. Der nächste Schritt war die Öffnung der Drehkreuze. Das hatten sie früher schon bei Zügen gemacht. In den 70er-Jahren gab es in Argentinien viele neuartige Kampfformen, und wir haben viel von diesen früheren Erfahrungen übernommen. Die Bourgeoisie und die Regierungen versuchen immer, uns Arbeiter*innen dieses kollektive Gedächtnis zu nehmen.“
Diese schöne Kampfmaßnahme lässt sich nicht einfach übertragen, aber sie könnte ein Anlass sein, auch hier in Deutschland über kund*innenfreundliche Streikformen nachzudenken. Die Nutzer*innen einzubeziehen, kann bei Streiks im öffentlichen Dienst sehr sinnvoll sein. In den letzten Tarifrunden im ÖPNV hat ver.di sich mit Fridays for Future in der Kampagne #WirFahrenZusammen verbündet, um klarzumachen, dass gute Arbeitsbedingungen im ÖPNV für alle gut sind. Die Kolleg*innen der Subte haben schon vor mehr als 20 Jahren in ihrem Kampf um den Sechsstundentag großen Wert darauf gelegt, ihre Ziele zu erklären und Verbündete zu suchen. Den Hetzkampagnen, sie seien privilegierte Faulpelze, konnten sie entgegentreten, indem sie ihre Arbeitsbedingungen öffentlich machten. Die Arbeit im U-Bahn-Tunnel ist extrem belastend: kein Tageslicht, schlechte Luft, Staub, Lärm, Hitze, Magnetfelder, Strahlung und Vibrationen. Deshalb galt vor der letzten Diktatur in Argentinien (1976-83) für Subte-Arbeiter*innen der Sechsstundentag. Danach dauerte es bis 2003, bis sie diese Arbeitszeitreduzierung wieder durchsetzen konnten. Die Forderung nach zwei freien Tagen steht noch aus. Bislang arbeiten sie sechs Tage pro Woche.
Asbest raus aus der Subte!
Seit 2018 bekannt wurde, dass die Subte mit Asbest verseucht ist (siehe Kasten), steht dieses Thema im Mittelpunkt des Kampfes gegen die Gesundheitsgefährdung bei der Arbeit. Und in diesem Fall sind auch die Nutzer*innen direkt betroffen. Was hat die Kampagne gegen das Asbest bisher erreicht? „Den wichtigsten Erfolg finde ich, dass wir Bewusstsein geschaffen haben, bei unseren Kolleg*innen, in Teilen der Gesellschaft“, meint Claudio. „Dass wir ein Problem bekannt gemacht haben, das es in der Subte gibt, aber auch in vielen anderen Bereichen. Da waren wir Pioniere. Eine so große Kampagne gegen Asbest hat es in Argentinien noch nicht gegeben. Es hat einige Zeit gedauert, unseren Kolleg*innen den Ernst der Lage klarzumachen, und als wir dann mit den Maßnahmen angefangen haben, war es auch nicht einfach, nach außen zu gehen, an die öffentliche Meinung. Aber letztes Jahr haben wir eine starke Kampagne hinbekommen, mit Arbeitskampfmaßnahmen, Öffnung der Drehkreuze und Streiks. Wir haben geschafft, so viel Druck auf das Unternehmen und die Stadtverwaltung aufzubauen, dass sie sich gezwungen sahen, weitere Arbeiten zur Asbestbeseitigung durchführen zu lassen. Das ist ein großartiger Erfolg. Aber noch lange keine Lösung, denn die Nutzer*innen und wir sind weiterhin dem Asbest ausgesetzt, das in der Infrastruktur, in Wänden und Decken steckt und in der Luft rumfliegt. Auf der Linie B, wo ich arbeite, sind zwei Zugmodelle im Einsatz, ein japanisches und das aus Spanien, und beide sind voll mit Asbest.“
Martín Paredes ist einer der 86 Subte-Arbeiter*innen mit asbestbedingten Erkrankungen. Nachdem er 17 Jahre lang die Züge der Linie B durch den Tunnel gefahren hatte, wurde bei ihm 2020 asbestbedingte Staublunge diagnostiziert. Er ist 54 Jahre alt. In einer Reportage von LaIzquierdaDiario sagt er den traurigen Satz „Es gibt hier kaum lebende Rentner“. Diese Feststellung lässt vermuten, dass nicht nur die drei Subte-Kollegen an Asbest gestorben sind, bei denen dies offiziell festgestellt wurde. Das sieht auch Claudio so: „Wir haben ja erst 2018 von dem Asbest erfahren. Vorher gab es schon viele Fälle von Kolleg*innen, die an Krebsarten gestorben sind, die in Verbindung mit Asbest stehen können. Aber da wir nichts davon wussten, gab es keine Untersuchungen, keine Obduktionen. Es sind sicher mehr als die drei.“ Aber auch die anderen ungesunden Arbeitsbedingungen in der Subte tragen dazu bei: „Kolleg*innen, die in Rente gehen, haben in der Regel große gesundheitliche Probleme und nur noch eine sehr kurze Lebenserwartung. Das ist die Folge der Art von Arbeit, die wir machen, und der ungesunden Umgebungsbedingungen.“
Gegen Preiserhöhungen und Sozialkahlschlag
Im Windschatten der antisozialen Maßnahmen des rechtsradikalen Präsidenten Javier Milei hat auch Jorge Macri, Cousin des Expräsidenten Mauricio Macri (2015-2019) und derzeitiger Chef der Stadtregierung von Buenos Aires, einen Angriff auf die Einkommen vorbereitet: die Erhöhung der Ticketpreise der Subte um mehr als 500 Prozent, von 125 auf 757 Pesos. Dagegen öffneten die Subte-Kolleg*innen diesmal nicht selbst die Drehkreuze, sondern sie forderten seit März mehrfach gemeinsam mit Studierenden und Stadtteilversammlungen zu „Molinetazos“ auf: die Drehkreuze (molinetes) zu überspringen. Dass diese Bilder an den Beginn des Aufstands im Oktober 2019 in Chile erinnern, ist kein Zufall. Damals hatten Schüler*innen nach einer Preiserhöhung in der Metro Santiagos mit dieser Nicht-Bezahl-Aktion den Startschuss für den monatelangen Aufstand gegeben. (Da sich in Buenos Aires auch viele ältere Menschen an der Aktion beteiligten, sah die Überwindung der Drehkreuze teilweise nicht ganz so cool aus wie damals in Santiago). Claudio weist darauf hin, dass sie mit der Aktion auch an frühere Bewegungen in Argentinien anknüpfen: „Es gab schon früher Erfahrungen mit Stadtteilversammlungen. In den vorrevolutionären Tagen im Dezember 2001 versammelten sich die Leute spontan an Straßenecken, diskutierten und planten Aktionen. Mit der Regierung von Milei hatten diese Versammlungen ein Revival. Mit ihnen und verschiedenen Gruppen von Student*innen und Arbeiter*innen haben wir die Molinetazos angestoßen. Das waren gute Aktionen, aber es gab noch nicht so viel Beteiligung von den Nutzer*innen. Das war früher schon mal besser.“
Unser Gespräch fand zwei Tage vor dem landesweiten Streiktag gegen die Regierungspolitik am 9. Mai statt. Da alle Gewerkschaften des Transportsektors ihre Beteiligung zugesagt hatten, war klar, dass der Streik das Land lahmlegen würde. Claudio kritisiert jedoch das Fehlen von Mobilisierungen, Versammlungen und einer Strategie: „Wir nennen das Sonntagsstreik: Die Leute bleiben zuhause, gucken Fernsehen oder machen sonst was, so steht alles still, aber es ist kein aktiver Streik. Es gibt keinen Plan für weitere Aktionen, für abgestufte Maßnahmen zur Vorbereitung eines Generalstreiks. Wir sehen die Gewerkschaftsbürokratie als Komplizin der Regierung Milei, weil sie die meisten seiner Maßnahmen problemlos hat durchgehen lassen.“
Das Interview mit Claudio Dellecarbonara führte Alix Arnold am 7. Mai per Videocall.