Direkte Demokratie im Fußballstadion
Für Brasiliens Gewerkschaften bilden die Jahre 1978-80 eine Zäsur. Denn da haben die Kollegen 1 der Metall- und Automobilindustrie in den Vorstädten von São Paulo das Streikrecht neu erkämpft – unter den Bedingungen einer Militärdiktatur! Die Streiks jener Jahre haben den Re-Demokratisierungsprozess entscheidend beschleunigt und teilweise der Regie der Militärs entzogen, die bestenfalls einen Übergang zu einer von ihnen kontrollierten „Demokratie“ zulassen wollten.
- 1. Da in den 1970er-Jahren in der Metall-, Erdöl- und Automobilindustrie Brasiliens fast ausschließlich Männer gearbeitet haben, spreche ich da von Kollegen und Arbeitern. In anderen Sektoren und Gewerkschaften waren auch Frauen tätig, weswegen ich da Arbeiter*innen und insgesamt Arbeiter*innenbewegung schreibe.
Anders als etwa in Chile oder Uruguay waren Gewerkschaften während der Diktatur in Brasilien (1964-1985) nicht verboten. Während die Militärs andernorts in Arbeiterorganisationen eine Bedrohung ihrer Herrschaft sahen, betrachteten Brasiliens Generäle die Gewerkschaften als nützliches Instrument zur Garantie des Arbeitsfriedens.
Die Gründe dafür reichen bis in die 1930er-Jahre zurück. Davor waren Brasiliens Gewerkschaften durchaus (klassen-)kämpferisch unterwegs. Unter dem Einfluss eingewanderter (süd-)europäischer Arbeiter*innen waren sie häufig anarchosyndikalistisch und in geringerem Umfang sozialistisch ausgerichtet. Allerdings waren noch relativ wenige Arbeiter*innen in der Industrie oder größeren Dienstleistungsbetrieben beschäftigt, sodass die Gewerkschaften keine politische Kraft von überregionaler Bedeutung darstellten.
Ab 1930 verfolgte der nationalistische Präsident Getulio Vargas eine ehrgeizige Industrialisierungspolitik. In seinem politischen Projekt sollten Unternehmer*innen und Arbeiter*innen gleichermaßen integriert sein, um den „sozialen Frieden“ zu gewährleisten und eine Front gegen diejenigen Teile der Großgrundbesitzeroligarchie zu bilden, die die Industrialisierungs- und Modernisierungsbestrebungen bekämpften. Entsprechend wurden den Arbeiter*innen soziale Verbesserungen (Mindestlöhne, Begrenzung der Arbeitszeiten, Arbeitsschutzbestimmungen) zugesagt. Dafür sollten sie auf Kampfmaßnahmen verzichten und Konflikte in Kooperation mit den Arbeitgebern und der Regierung regeln. Wenige Monate nach Vargas’ Amtsantritt erließ er das Dekret 19770. Danach musste jede Gewerkschaft vom Arbeitsministerium anerkannt werden. Erst dann durfte sie Tarifverhandlungen führen und Tarifverträge abschließen. Das Dekret verlangte von den Gewerkschaften politische Enthaltsamkeit und setzte hohe, kaum zu erfüllende Hürden für die Durchführung legaler Streiks. Gleichzeitig erhielten die Gewerkschaften einen Beraterstatus beim Arbeitsministerium.
Hielt sich Vargas in den ersten Jahren seiner Amtszeit noch an gewisse demokratische Spielregeln, änderte sich das 1937, als er am 10. November den „Estado Novo“ (Neuer Staat) ausrief. Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien wurden außer Kraft gesetzt, demokratische Institutionen aufgelöst, Oppositionelle von der Polizei verfolgt. Das Dekret 19770 wurde konsequent durchgesetzt, kritische Äußerungen und Kampfmaßnahmen von Gewerkschaften kriminalisiert. 1943 trat das Arbeitsgesetzbuch „Consolidação de Leis do Trabalho“ (CLT) in Kraft, das sich an Mussolinis Berufsständegesetz orientierte. Gewerkschaften mussten sich nun zur Zusammenarbeit mit der Regierung und zum Verzicht auf politische Aktivitäten verpflichten. Zu wählende Funktionäre hatten den Nachweis zu erbringen, dass sie keiner verbotenen, das heißt linken, Partei angehörten. Wenn sie sich den Regeln des CLT widersetzten, hatte das Arbeitsministerium das Recht der „Intervention“, sprich ihre Führungen abzusetzen. Die Gewerkschaften konnten zwar noch Tarifverträge abschließen, diese mussten aber vom Arbeitsministerium bewilligt werden. Streiks und Aussperrung waren bereits in der Verfassung des Estado Novo von 1937 verboten worden.
Neben den genehmigungspflichtigen Tarifverträgen blieben den Gewerkschaften nur Serviceleistungen, etwa Rechtsschutz bei Arbeitsgerichtsprozessen gewähren, Konsum- und Kreditgenossenschaften aufbauen, berufsbildende Schulen und Einrichtungen betreiben und bei Arbeitskonflikten schlichten. Dafür wurden sie finanziell gut ausgestattet: Alle Beschäftigten, egal ob Mitglied oder nicht, mussten eine Gewerkschaftssteuer entrichten. Zusätzlich erhielten die Gewerkschaften einen festen Teil der vereinbarten Lohnerhöhungen. Damit waren sie in der Lage, ihre Funktionär*innen gut zu bezahlen, so dass diese ein Interesse hatten, ihre Posten zu behalten und sich nicht mit der Regierung anzulegen.
Nach dem Ende der Diktatur von Getulio Vargas 1945 blieb das CLT in Kraft, wurde aber weniger strikt gehandhabt. Interventionen in Gewerkschaften wurden seltener. Auch linke Parteien, vor allem die Kommunistische Partei, konnten an Einfluss gewinnen, ohne freilich die Struktur des Gewerkschaftssystems grundlegend in Frage zu stellen. Ab 1959 kam es auch wieder zu Streiks. Wiederholt wurde Polizei und teilweise auch Militär gegen Streikende eingesetzt. Dies zog in der Regel aber keine weiteren Repressalien nach sich.
Das änderte sich mit dem Putsch von 1964. Die Militärregierung griff wieder massiv zum Mittel der Intervention, um die Gewerkschaften von Linken zu „säubern“ und sie auf ihre Rolle als Service- und Schlichterorganisationen zu reduzieren.
Zwischen 1930 und 1970 gab es in Brasilien einen massiven Industrialisierungsschub. Es entstanden riesige Betriebe der Eisen- und Stahl-, Automobil-, Chemie-, Lebensmittel-, Flugzeug- und Maschinenbauindustrie, viele im Besitz internationaler Unternehmen. Die Zahl der abhängig Beschäftigten vervielfachte sich, viele Leute zogen aus den ländlichen Gebieten, vor allem des armen Nordostens, in die Industriemetropolen im Großraum São Paulo, Rio de Janeiro und Belo Horizonte. Die brasilianische Arbeiter*innenklasse war in den 1970er-Jahren zu einem Faktor mit einem großen politischen Potenzial geworden, das aber zunächst noch schlummerte.
Organisationsprozesse an der Basis
Ab Ende der sechziger Jahre formierten sich außerhalb der Gewerkschaftsapparate in den Betrieben Gruppen, die konsequent die Interessen der Kolleg*innen vertraten. Sie kamen aus drei Richtungen: Erstens aus den alten anarchosyndikalistischen Zusammenhängen, die zwar stark zurückgedrängt, aber nicht völlig zerstört waren. Zweitens aus Organisationen der radikalen Linken, vor allem trotzkistischen und maoistischen Gruppen. Darunter waren auch politisierte Studierende, die abends an der Uni waren und tagsüber zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts in Fabriken arbeiteten. Die dritte, zahlenmäßig stärkste Gruppe waren christliche Arbeiter*innen, die durch die Befreiungstheologie und die katholische Arbeiterpastoral politisiert worden waren. Zu dieser Gruppe gehörte etwa Luiz Inácio da Silva, genannt Lula, ein Facharbeiter bei VW do Brasil, dessen Familie aus dem Nordosten Brasiliens nach São Bernardo do Campo, einer der Industrievorstädte São Paulos, gekommen war. Er sollte ab Mitte der siebziger Jahre eine wichtige Rolle bei der Repolitisierung der Arbeiter*innenbewegung und später auch in der Politik des Landes spielen.
Die Gewerkschaftsopposition legte den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Bildung von unabhängigen Vertretungen der Belegschaft in den Betrieben, den sogenannten Fabrikkommissionen. Ihre Hochburg war ab den frühen 1970er-Jahren die Metall- und Automobilindustrie. Das Militärregime beantwortete die politische Arbeit in den Betrieben mit massiver Repression. Immer wieder wurden aktive Kollegen verhaftet. In der härtesten Phase der Diktatur (1968-74) überlebten die oppositionellen Gruppen oft nur, weil die katholische Kirche ihnen Unterschlupf und Unterstützung gewährte.
Mit der zaghaften politischen Öffnung ab 1974 konnten die kritischen Gruppen etwas offener agieren und auch an Gewerkschaftswahlen teilnehmen, bei denen sich nun häufiger Vertreter der regimetreuen Gewerkschaften, die sogenannten „pelegos“ (benannt nach der Decke zwischen dem Pferdesattel und dem Rücken des Pferdes, als Sinnbild ihrer Rolle zwischen Arbeiter*innen und Unternehmen), und radikale Kollegen, die sogenannten „auténticos“, gegenüberstanden. Nach und nach gelang es den „auténticos“, wichtige Gewerkschaften in der Industrieregion um São Paulo, dem sogenannten ABC oder ABCD (die Städte São André, São Bernardo do Campo, São Caetano und Diadema), zu übernehmen. Die wichtigste war die Metallarbeitergewerkschaft von São Bernardo do Campo und Diadema, dem Zentrum der brasilianischen Automobilindustrie. Deren fast 100 000 Mitglieder wählten Lula 1975 zu ihrem Vorsitzenden.
1977 organisierten die von „auténticos“ geführten Gewerkschaften eine nationale Lohnkampagne. In den Jahren zuvor war das Bruttosozialprodukt in Brasilien stark angewachsen. Da die Löhne längst nicht so gestiegen waren wie die Produktivität und die Unternehmensgewinne, forderte die Kampagne deutliche Lohnzuwächse. Noch war nicht von Streiks die Rede. Doch als die Militärregierung die Forderungen kategorisch ablehnte, war klar, dass etwas passieren musste.
Im Frühjahr 1978 standen die jährlichen Lohnanpassungen an. Am 12. Mai begannen die Arbeiter des schwedischen Autokonzerns Saab-Scania zu streiken. Binnen weniger Tage griff der Streik auf alle Autofabriken und Metallbetriebe in São Bernardo und den Nachbarorten über. Die Kollegen forderten neben dem jährlichen Inflationsausgleich eine reale Lohnerhöhung von 20 Prozent.
Der erste große Streik
Bereits in den Tagen vor dem Ausstand hatten die Arbeiter in den Betrieben, wo es noch keine gab, unabhängige Fabrikkommissionen gewählt. Als der Streik begann, übernahmen sie dessen Koordination. Die Metallarbeitergewerkschaft von São Bernardo und Diadema, die in den Monaten und Wochen vor dem Streik die Bildung der Fabrikkommissionen und die organisatorischen Vorbereitungen für einen Streik vorangetrieben hatte, hielt sich nach dessen Beginn zurück. Sie betonte, der Streik würde nicht von ihr, sondern von den gewählten Kommissionen in den Betrieben geleitet. Jede andere Stellungnahme hätte vermutlich den Vorwand für eine Intervention des Arbeitsministeriums geboten.
Anders als bei früheren Streiks setzte die Regierung keine Polizei und kein Militär gegen die Streikenden ein. Harte Repression gegen Streikende gegen Ende seiner Amtszeit (1.1.1975 – 1.1.1979) hätte dem Bild der von Präsident Geisel verkündeten politischen Öffnung widersprochen. Zudem standen im November 1978 Wahlen an. Die waren zwar nur sehr bedingt demokratisch, da der Status der Militärpartei ARENA als Regierungspartei und der der MDB als einziger Oppositionspartei ohnehin definiert waren. Trotzdem wollte ARENA ein gutes Ergebnis erzielen.
Der Streik dauerte drei Wochen und wurde in nahezu allen Betrieben in São Bernardo und Diadema befolgt. Federführend waren dabei die Abteilungen mit den höchstqualifizierten Arbeitskräften, die nicht einfach durch Streikbrecher zu ersetzen waren. So kam es zum ersten Mal seit 1964 zu Tarifverhandlungen und schließlich einem Tarifvertrag ohne Einmischung der Regierung. Zusätzlich zum Inflationsausgleich konnten die Kollegen zwei Lohnerhöhungen von jeweils 5,5 Prozent am 1. Juni und am 1. Oktober durchsetzen, einen Abschluss, der dann auch in den meisten anderen Metallbetrieben in der ABCD-Region übernommen wurde.
Neue Kämpfe und schwere Rückschläge
1979 gingen die Metallarbeitergewerkschaften der ABCD-Region und die vom „pelego“ dos Santos geführte Metallarbeitergewerkschaft von São Paulo mit gemeinsamen Forderungen nach einer deutlichen Lohnsteigerung in die Verhandlungen mit den Unternehmen. Doch dos Santos akzeptierte sofort das Angebot der Unternehmer, das nur knapp über dem Inflationsausgleich lag. Die Gewerkschaften der ABCD-Region organisierten daraufhin im Fußballstadion von São Bernardo eine Versammlung mit 80 000 Kollegen, bei der diese das Verhandlungsergebnis ablehnten und den Streik beschlossen. Die Versammlungen im Fußballstadion, die von da an fast täglich stattfanden, wurden zu einem Markenzeichen des Streiks. Anders als 1978 „intervenierte“ das Arbeitsministerium diesmal in die Gewerkschaft und setzte Lula und die anderen Führungsmitglieder ab. Trotzdem ging der Streik weiter, und Lula trat auch weiter auf den Versammlungen im Stadion auf. Im Laufe des Streiks ging das Militär immer brutaler gegen die Streikenden vor. Das führte schließlich zu einem Abbröckeln der Streikfront. Deshalb beschlossen die Arbeiter auf einer Versammlung, den Streik auszusetzen und wieder mit den Unternehmen zu verhandeln. Obwohl die nur geringe Zugeständnisse machten, stimmten die Gewerkschaft und die Kollegen dem Abschluss zu, weil ein erneuter Streik nicht durchzuhalten gewesen wäre.
Auch 1980 wurde ein Streik mit massiver Repression beantwortet. Diesmal wurde die Führung der Gewerkschaft von São Bernardo nicht nur abgesetzt, sondern auch inhaftiert. Das Stadion und die Gewerkschaftslokale wurden dauerhaft besetzt, so dass dort keine Versammlungen mehr stattfinden konnten. Die fanden dann in kleinerem Rahmen in Räumen der katholischen Kirche statt. Die Bischöfe von São Paulo und São André, Paulo Evaristo Arns und Claudio Humes, hatten die Forderungen der Arbeiter von Anfang an unterstützt. Als die Versorgung der 250 000 Streikenden und ihrer Familien mit Lebensmitteln immer schwieriger wurde, organisierten die Frauen und die Kirchengemeinden Volksküchen. So konnte der Streik sechs Wochen durchgehalten werden. Dennoch wurde die Versorgungslage immer prekärer. Am Ende entschied man, den Streik abzubrechen. Lula und die anderen Führer der Gewerkschaft von São Paulo wurden 1981 von einem Militärgericht zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Urteile wurden im April 1982 von einer höheren Instanz aufgehoben.
Die Streiks haben das Land verändert
Auch wenn die Metallarbeiterstreiks von 1979 und 1980 vom Ergebnis her betrachtet nicht erfolgreich waren, vollendeten sie das Wiedererwachen der brasilianischen Gewerkschaften. Denn sie leiteten Streikbewegungen im ganzen Land ein, von den Erdölarbeitern über die Lehrer*innen bis zu den Zuckerrohrschneider*innen. Manche konnten dabei viel, andere wenig durchsetzen. Aber die Zeiten, wo Brasiliens Gewerkschaften Dienstleistungsbetriebe waren und die Aufrechterhaltung des „sozialen Friedens“ als ihre vornehmste Aufgabe betrachteten, waren definitiv vorbei. Zudem hat die Streikbewegung der von den Militärs inszenierten politischen Öffnung eine Dynamik von unten entgegengesetzt. Das „Demokratiemodell“ der Militärs mit einer Regierungs- und einer braven Oppositionspartei hatte sich erledigt. Aus der Gewerkschaftsbewegung entstand mit der Arbeiterpartei PT eine neue Linkspartei, die in den folgenden Jahren die Politik Brasiliens aufmischen sollte.
Dass die PT als Regierungspartei sich dann später den „Sachzwängen“ unterwarf und immer weiter von ihren Ideen eines basisdemokratischen Sozialismus entfernte, ist eine andere Geschichte. Ebenso wie die zahlreichen Spaltungen in der Gewerkschaftsbewegung, die sich unter anderem daran entzündeten, wie man gegenüber einer vom alten Genossen Lula geführten Regierung agieren sollte.