Was soll denn da noch schief gehen?
Schwangerschaft und Entbindung sind einschneidende Erlebnisse, an die sich Frauen für den Rest ihres Lebens erinnern. Zudem sind Praktiken rund um die Geburt von Kultur zu Kultur verschieden, was migrantische Mütter und Gesundheitsarbeiter*innen vor zusätzliche Herausforderungen stellt. Luciana Carvalho Fonseca fasst im folgenden Artikel die Ergebnisse ihrer Studie über Erfahrungen schwangerer Brasilianerinnen in Deutschland zusammen. Zur Einordnung: Je nach Quellenlage leben heute zwischen 50 000 und 150 000 Brasilianer*innen in Deutschland, Tendenz steigend. Mehr als die Hälfte davon sind Frauen.
Entbindungskulturen in Brasilien und Deutschland sind sehr verschieden. Brasilianische Frauen in Deutschland sehen sich daher häufig einem Druck ausgesetzt, der für deutsche Hebammen und Gynäkolog*innen nur schwer verständlich ist. So sagt Angela, 34: „Meine Ärztin in Brasilien praktiziert ausschließlich Kaiserschnitt. Vor vaginalen Geburten hatte sie offenbar Todesangst. Als ich ihr sagte, ich würde in Deutschland ein Kind bekommen, wünschte sie mir nur eins: einen Kaiserschnitt. Bei meinem ersten Kind in Brasilien lief es so ab: Ich bekam meine Wehen, und sobald ich im Krankenhaus ankam, wurde ich auf den Operationssaal vorbereitet. Ich dachte, das sei normal.“
Angelas zweites Kind wurde vaginal geboren. Aus kulturell wachsamer Perspektive ist dazu jedoch anzumerken, dass Angela kein Deutsch sprach und ausschließlich Unterstützung von ihrer engsten Familie und ihrer Gynäkologin in Brasilien erhielt. Ihre Schwangerschaft verbrachte sie entsprechend meistenteils in Panik. Ganz anders Bruna, 32, die ihre Furcht, bei der Geburt zu sterben, überwand, obwohl sie schon einen Monat vor der Entbindung ins Krankenhaus musste und das Kind zu früh kam: „Ich war so lange im Krankenhaus, dass ich mich mit den Ärzt*innen und Hebammen anfreundete. Damit verschwand meine anfängliche Angst. Sie waren wundervoll, nahmen sich Zeit für mich. Als ich ihnen von meinen Ängsten erzählte, beruhigten sie mich. Eine Entbindung sei nun wirklich kein Grund zum Sterben.“ Wenn Gesundheitsarbeiter*innen offen gegenüber unterschiedlichen Hintergründen und Erfahrungen migrantischer Frauen wären, könnten sie besser mit Situationen umgehen, die ihnen auf den ersten Blick unvernünftig erscheinen.
Nicht alle brasilianischen Frauen haben indessen Angst vor der Geburt. Manche schaffen es sogar trotz Fremdsprache besser, schwierige Geburtssituationen zu meistern, als Deutsche, die bei der Entbindung auf die Muttersprache zurückgreifen können.
Dieser Aspekt ist in Gesundheitssystemen nicht unwesentlich. Oft wird in solchen Strukturen nämlich nicht auf die Wünsche von Frauen eingegangen. So war es bei Cecilia, 36, die nicht gut Deutsch sprach, sich aber weigerte, einem Dammschnitt zuzustimmen. Als sie hörte, dass die Ärzt*innen sich über ihr Nein hinwegsetzen wollten, wandte sie sich an ihren Ehemann: „Ich gab ihm einen Job: den Arzt im Auge zu behalten, so dass er sich mir nicht nähern konnte.“ Cecilia erreichte ihr Ziel.
Brasilianische Migration, Gender, Gesundheit
Brasilianische Migrantinnen, die mit einem deutschen Mann verheiratet sind, leiden oft unter Isolation und hängen von ihm ab, wenn sie kein Deutsch sprechen. Bei einer Entbindung kann das zu einem Gefühl extremer Hilflosigkeit führen. Studien wiesen nach, dass sich Frauen, die wegen eines neuen Jobs, einer Beziehung oder aus anderen persönlichen Gründen in ein anderes Land gehen, in der neuen Umgebung ohne Netzwerke und Familie gerade als junge Mütter sehr allein gelassen fühlen. Hinzu kommt das Sprachproblem.
Die sogenannten „Sprachbarrieren“ halten Migrant*innen oft davon ab, ärztlichen Rat in Anspruch zu nehmen. Migration und mangelnde Gesundheitsversorgung hängen somit zusammen. Die Brasilianerin Érica, 45, arbeitet in Deutschland mit Migrantinnen zusammen. Sie stellt fest: „Selbst wenn du in die Geburtsvorbereitung gehst, selbst wenn du einen Universitätsabschluss hast und die Sprache gut sprichst, gibt es Wörter, die du nur im Zusammenhang mit Geburt lernst, Mutterkuchen etwa oder Uterus. Ich sage bei Beratungen von Schwangeren immer: ‚Lerne alle diese Wörter, du wirst sie brauchen!‘ “
Besonders bei Einstellungen zu Mutterschaft und Geburt lässt sich eine starke Korrelation zwischen dem Selbstverständnis als Ausländerin und der Bewertung der Geburtsvorsorge als mangelhaft, dem Nichtbefolgen der Behandlungsvorgaben, Ausfallenlassen von Untersuchungsterminen, längeren Krankenhausaufenthalten und medizinischen Komplikationen beobachten. Zudem suchen Eltern, die allgemein Verständigungsschwierigkeiten haben, bei Schwangerschaften erst ziemlich spät ärztliche Hilfe. Andere nehmen sie zwar in Anspruch, aber verstehen nicht wirklich, wie sie sich im Entscheidungsprozess einbringen können, und beantworten Fragen nicht rechtzeitig.
Aufgrund dieser Schwierigkeiten werden manche Migrantinnen als ignorant oder schlichtweg ahnungslos angesehen. Fábia, 32, erinnert sich: „Eine Freundin von mir musste oft mit ihrem Kind in eine Arztpraxis. Jedes Mal musste sie eine*n Übersetzer*in mitbringen, weil sie auf Fragen nicht direkt antworten konnte und ihr Gegenüber ihr dann das Gefühl gab, sich zu irren.“
Für viele Migrantinnen ist es ein Schock, dass in Deutschland im Gesundheitswesen wie auch anderen Bereichen keine Sprachhilfenstruktur existiert. In Australien etwa ist dies seit den 1960er-Jahren der Fall. Dort wird heute Hilfe in 150 Sprachen angeboten, vom Telefonservice bis zur Präsenz einer dolmetschenden Person, wobei das Angebot im Gesundheitsektor am größten ist. Deutschland ist reicher und ähnlich divers, hat aber keine entsprechende Sprachpolitik. „Englisch sprechende Frauen haben es ein bisschen besser“, sagt Fernanda, 41, eine brasilianische Stillberaterin. „Aber Frauen, die weder Deutsch noch Englisch sprechen, haben es sehr schwer. Selbst wenn ihr Ehemann eine der Sprachen spricht und aushilft, versteht er nicht viel von der Geburtsphysiologie. Meistens ist er unfähig zu übersetzen, was die Hebamme meint.“
Geburtshilfe und Gewalt
Rassismus und Gewalt haben tiefe Wurzeln im Kolonialismus. Schwangere Migrantinnen sind ihnen weltweit ausgesetzt. „Einmal begleitete ich eine Schwarze Brasilianerin zur Geburtsvorsorge“, sagt Graça, eine brasilianische Hilfshebamme, die in Deutschland mit Migrantinnen arbeitet. „Sie hatte in Physik promoviert, sie war superintelligent, in jeder Hinsicht. Aber sie wurde infantilisiert. Sie wurde herabgesetzt, als Schwarze und weil sie kein Deutsch sprach. Aber ich verstand sehr wohl, was sie unter sich kommentierten: ‚Warum kommt die eigentlich hierher? Warum kriegt die ihr Kind nicht in ihrem Land?‘“
Diese Dehumanisierung ist leider kein Ding der Vergangenheit. Im Gegenteil, sie wird in den Diskursen der Rechten wieder stärker. Die Dehumanisierung der Nichteuropäer*innen übersetzt sich auch in ein historisch weißes, arztzentriertes, heteronormatives, eurozentrisches Gesundheitssystem, das von einer Aura der Vertrauenswürdigkeit umgeben ist. Für viele Brasilianer*innen kann es auch bedeuten, sich in Europa besser aufgehoben zu fühlen als in Brasilien. Helena, 34, sagt: „Ich dachte immer, alles wird gut. Ich bin doch in Deutschland. Was soll da noch schiefgehen?“
Studien besagen, dass weltweit Schwarze Frauen und PoC eher Geburtskomplikationen und weniger Zugang zu Schmerzmanagement haben sowie Formen von Gewalt während der Entbindung erfahren, wie etwa nicht gehört, angeschrien, brutal behandelt, nicht über die Risiken einer Intervention informiert oder nicht um Einwilligung gefragt zu werden. Zudem werden rassifizierte und als einer Minderheit zugehörig betrachtete Mütter oft als nachlässig und unfähig angesehen. Rebeca, 43, erinnert sich: „Deutsche Ärzt*innen waren nicht gewohnt, Fragen von einer wie mir zu beantworten, die tatsächlich Deutsch sprach. Sie antworteten einfach nicht.“ Die Brasilianerin Ingrid, 34, zog daraus eine Konsequenz: „Für die Geburt suchte ich mir eine Stadt mit einem großen Ausländer*innenanteil aus, wo die Ärzt*innen ebenfalls Ausländer*innen waren.“
Unterschiedliche Entbindungskulturen
„Anders als in Brasilien wird frau hier von Anfang an zu einer vaginalen Geburt ermutigt. Sie sei besser, die Erholung gehe schneller, sie sei nicht invasiv, täte nicht weh, frau würde nicht aufgeschnitten. Kaiserschnitte sind hier nur der letzte Ausweg“, sagt Juliana, 38.
Tatsächlich hat sich die Zahl der Kaiserschnitte aber auch in Deutschland in den letzten 30 Jahren auf 29,6 Prozent verdoppelt. In Brasilien stieg sie in den letzten 40 Jahren um 400 Prozent auf 55,6 Prozent. Kaiserschnitte sind dort ein Statussymbol. Schwangeren wurde über Mainstreammedien und manchmal auch Gesundheitsarbeiter*innen selbst Angst vor einer vaginalen Geburt eingeflößt, obwohl letztere wissen, aber es nicht sagen, dass die Risiken bei einem Kaiserschnitt größer sind. In Brasilien ist Geburtsvorsorge oft privat, schließlich sind in schicken Geburtskliniken viel höhere Gewinnmargen erzielbar. 86 Prozent der Frauen höherer Gehaltsstufen und Bildung „entscheiden“ sich so am Ende für einen Kaiserschnitt.
Diese Gruppe von Frauen hat zumeist ihre*n eigene*n private*n Geburtshelfer*in, der*die in der Regel auch ihr*e lebenslange*r Gynäkolog*in ist, sich im Falle einer Schwangerschaft um die komplette Vorsorge kümmert und bei der Geburt anwesend ist. Da dieses Geburts“modell“ komplett von dem*der Ärzt*in abhängt, der*die meist allein und nicht im Team mit Hebammen und Krankenpfleger*innen arbeitet, sind die Chancen einer spontanen vaginalen Geburt bei Brasilianerinnen höherer Einkommensschichten äußert gering. „Ich hatte 72 Stunden lang Wehen. Drei Tage. Das käme in Brasilien nie vor“, sagt Kédima, 48.
Die Kultur der Kaiserschnitte ist in höheren Schichten in Brasilien so verbeitet, dass sie nicht einfach „gewählt“, sondern von Ärzt*innen „geplant“ werden: Die Ärzt*innen entscheiden, egal, wie die medizinische Indikation ist, wann der chirurgische Eingriff stattfindet, meistens bevor die Wehen einsetzen.
Man könnte meinen, der Druck zu einem Kaiserschnitt durch brasilianische Ärzt*innen fiele nach einem Umzug nach Deutschland weg. Weit gefehlt: „Ich bereitete mich auf eine vaginale Geburt vor“, erzählt Angela, 34. „Die Hebammen zeigten mir, wie es auch anders geht. Dann bekam ich dummerweise im Krankenhaus ‚spontanen‘ Besuch von einem jungen brasilianischen Arzt. Er arbeitete im selben Krankenhaus, war aber keineswegs Gynäkologe, sondern Bauchchirurg. Er sei mit seiner Frau, ebenfalls Ärztin, nach Deutschland gezogen. Diese habe erst mit viel Nachdruck erreicht, dass ihr ein Kaiserschnitt gemacht wurde. Diesen Druck solle ich auch ausüben.“ Angela folgte dem Rat nicht. Das Kind kam vaginal.
Frauen ärmerer Schichten ohne private Krankenversicherung gebären in Brasilien zwar in öffentlichen Krankenhäusern, aber auch dort werden 55 Prozent der Kinder via Kaserschnitt geboren. Öffentliche Krankenhäuser haben keinen guten Ruf. Ärmere Frauen ziehen daher einen Kaiserschnitt nicht nur vor, um es den Reichen gleichzutun, sondern weil sie davon ausgehen, bei einem Kaiserschnitt weniger entbindungsbezogener Gewalt ausgesetzt zu sein.
Migrant*in ist nicht gleich Migrant*in
Selbst Migrant*innen höherer Schichten sind keine homogene Gruppe. Es gibt die Hochqualifizierten, die einen Job in einem multinationalen Unternehmen annehmen, Studierende, meist Doktorand*innen, Masterkandidat*innen und Postdocs und solche Studierende, die aus Arbeitsgründen hängenbleiben, wovon 34 Prozent nach zehn Jahren Aufenthalt die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen. Schließlich ist da noch die Gruppe derjenigen, die eine doppelte Staatsbürgerschaft haben, bevor sie nach Deutschland migrieren. Sie gehören zu den fünf bis zwölf Millionen Nachkommen der 300 000 Deutschen, die im 19. und 20. Jahrhundert nach Brasilien auswanderten. Es gibt auch die Brasilianer*innen mit weniger privilegiertem Hintergrund. Deren Zahl steigt seit dem Ende der 1990er-Jahre in Europa: Zum einen, weil es inzwischen mehr Arbeitsmöglichkeiten im Kulturbereich gibt; zum anderen, weil striktere Migrationspolitiken in Südeuropa Migrationsrouten auch für Brasilianer*innen weiter nach Norden verschieben.
Brasilianerinnen, die kein Deutsch sprechen, können heute in Deutschland auf professionelle Brasilianerinnen wie Hilfshebammen, Geburtsbegleiterinnen und Stillberaterinnen zurückgreifen. Das sind oft Frauen, die selbst schwierige Entbindungserfahrungen in Deutschland hinter sich und eine Besserung der Lage zu ihrem Beruf gemacht haben.
Ich selbst habe mehr als ein Jahr in dem Bereich gearbeitet und festgestellt, dass speziell das Fehlen jedweder Sprachunterstützung für Nichtdeutschsprechende als zentrales Problem gesehen wurde. Dabei ist seit mehr als 60 Jahren bekannt, dass Sprache einen signifikanten Stellenwert für die Gesundheitsversorgung hat und Dolmetscher*innen einen wesentlichen Anteil am Abbau von Ungleichheiten haben. Das gilt für brasilianische Schwangere, aber auch für den Zugang zum Gesundheitswesen überall auf der Welt.
Luciana Carvalho Fonseca ist Assistenzprofessorin für Englisch und Übersetzung an der Universität São Paulo, Brasilien. Von September 2022 bis Januar 2024 war sie als Stipendiatin der São Paulo Research Foundation FAPESP und des DAAD Gastforscherin am Institut für Angewandte Linguistik und Translatologie (IALT) der Universität Leipzig. E-Mail: lucianacarvalhof@usp.br
Übersetzung: Gaby Küppers