Dass ich den Kalender meiner Vorfahren nutzen kann, bewegt mich sehr
An einem nasskalten Novembertag macht sich eine kleine antikoloniale Gruppe aus Berlin auf den Weg nach Dresden. Ihr Ziel ist die Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek (SLUB). Im dortigen Buchmuseum ist ein Maya-Kalender aus dem 13. Jahrhundert ausgestellt. Gemeinsam mit Aak Báalamkeej, einem Freund und Genossen aus dem mexikanischen Bundesstaat Quintana Roo, wollen sie eine der ältesten erhaltenen und öffentlich zugänglichen Handschriften der Maya besichtigen. Aak Báalamkeej ist Maya und Mitglied des basisdemokratischen Nationalen Rates der Indigenen Mexikos (CNI). Er stammt aus der Herkunftsregion des Pikju‘un, so nennen die Maya auf der Halbinsel Yukatan ihren Kalender. Aak Báalamkeej erklärt, dass die Weisheit des Pikju‘un auf der jahrtausendelangen Betrachtung der Lebenszyklen durch die Maya beruht: „Das ist keine Magie, sondern fußt auf tiefgreifenden Beobachtungen und dem Verständnis der Natur sowie ihrer Übertragung und Anwendung auf das Leben.“
Der Pikju‘un ist eine der wenigen Maya-Handschriften, die die grausame Vernichtungspolitik der Missionare und Kolonisatoren überstanden hat. Am 12. Juli 1562 ließ der spanische Franziskaner Diego de Landa vor einem Kloster in Maní, Yukatan, alle Schriften, Symbole und Abbilder der Maya verbrennen. Auf einem dort angebrachten Gedenkstein ist zu lesen: „Sie zerstörten 5000 Götterstatuen von unterschiedlicher Form und Größe, dazu 13 große Altarsteine, 22 kleine behauene Steine, 27 Schriftrollen mit Hieroglyphen, Tonnen von Büchern und 197 Gefäße in allen Größen.“
Soweit bekannt, überdauerten nur vier Maya-Kalender das Brandschatzen der Kolonisatoren. Sie befinden sich heute in Paris (der sogenannte Codex Peresianus), Madrid (der sogenannte Codex Tro-Cortesianus), Mexiko-Stadt (der sogenannte Maya-Codex) sowie im Buchmuseum der SLUB (der sogenannte Codex Dresdensis).
Erwartungsvoll erreichen wir die SLUB. Wir haben diesen Ausflug geplant, seit wir uns während der Gira Zapatista, der Rundreise von Zapatistas und Mitgliedern des CNI durch Europa im Herbst und Winter 2021, kennenlernten.
In einer „Schatzkammer“ soll der Pikju‘un aufbewahrt werden. Nachdem wir unsere Jacken in den Schließfächern verstaut haben, machen wir uns auf den Weg in das oberste Geschoss. Eine massive Panzertür führt uns schließlich in die Schatzkammer. Gegenüber an der Wand prangt das Motto der SLUB: „Wir suchen ihre Schätze. Wir bewahren ihre Schätze. Wir zeigen Ihnen Schätze.”
Die sächsische Schatzsuche
Im Foyer informiert ein mehrsprachiger Flyer, wie der Pikju‘un in das Buchmuseum der SLUB kam. Laut Flyer beginnt die Geschichte 1739 in Wien. Damals entdeckte der Bibliothekar Johann Christian Götze ein „mexikanisches Buch mit hieroglyphischen Figuren“ und erwarb es für die Kurfürstliche Bibliothek. Unerwähnt bleibt, wie die Maya-Schrift nach Dresden gelangte und auch, wo sie in den rund 200 Jahren nach der Bücherverbrennung verblieb. Der Informationstext zieht weder eine Verbindung zur kolonialen Vernichtung noch zum Raub, der den Pikju‘un nach Europa brachte. Wird der gewaltförmige Prozess des Kolonialismus hier etwa als abgeschlossen und verjährt angesehen? Kann Geschichtsschreibung erst ab dem Moment beginnen, an dem ein Gegenstand die Pforten eines Museums erreicht? Wie reagiert das lokale Publikum, wenn die Erzählung in den kolonialen Kontext eingebettet ist? Und wie fühlt sich ein Maya, wenn er das Buch seiner Vorfahren in einem Museum im Ausland sieht?
Die SLUB steht mit ihrem Wunsch nach einer Stunde Null für die Relikte nicht allein. In der Darstellung westlicher Museen und Bibliotheken beginnt die Objektgeschichte häufig erst mit ihrer Inventarisierung. Gleichzeitig bilden sich zunehmend Initiativen zur Erforschung der Geschichte der Kulturgüter („Provenienzforschung“). Dass der Kolonialismus den Raub und Abtransport von Relikten und Kulturgütern förderte, wird jedoch oft verschwiegen. Der britische Archäologe und Kurator Dan Hicks sieht in westlichen Museen eine Theorie des Nehmens („Theory of Taking“) wirken. Viele Objekte aus nicht-westlichen Gebieten gelangten infolge von Kolonialismus und Extraktivismus nach Europa. Das sollte dazu verpflichten, dass Museen nicht nur die Ereignisgeschichte der Objekte, sondern auch die Geschichte des Tötens und des Genozids benennen. Die Auslöschung von Menschen, Objekten, kulturellen Praktiken und Wissen sollte erforscht und aufgearbeitet werden, was auch Wege zur Wiedergutmachung umfasst.
Obwohl die Kurfürstliche Bibliothek wahrscheinlich nicht direkt an der kolonialen Gewalt in Yukatan beteiligt war, hat das Museum vom Raub der Maya-Schrift profitiert. Wir fragen uns, wie die SLUB ihren Anteil an der gewaltsamen Geschichte thematisieren könnte. Beim Betrachten des Flyers zur Maya-Schrift zeigt sich, dass der SLUB die eigene Verstrickung in die koloniale Logik kaum bewusst zu sein scheint. Angesichts der aktuellen Debatten um Dekolonisierung und restorative Gerechtigkeit erscheint uns dies äußerst unzeitgemäß. Für Aak Báalamkeej ist offensichtlich, dass die Verschleppung der heiligen Maya-Bücher in einem kolonialen und kapitalistischen System verortet werden muss.
Museum als Ort des Bewahrens?
Die Erzählung von der „sächsischen Schatzsuche“ fügt sich nahtlos in das Selbstverständnis zahlreicher westlicher Museen ein. Diese Institutionen bewahren und präsentieren geraubtes Wissen und Artefakte aus dem Globalen Süden. Sie betrachten sie als Garanten eines fortbestehenden Erbes, das die gesamte Menschheit repräsentieren soll. Damit suggerieren sie, dass es eine universelle Menschheitsgeschichte gebe, die allein aus der Perspektive der Gesellschaften im Globalen Norden erzählt werden könne, ohne die vielfältigen Perspektiven aus dem Globalen Süden angemessen einzubeziehen. Außerdem wird angedeutet, dass sich die Menschen im Globalen Süden nicht adäquat um die Relikte kümmern könnten. Deswegen seien sie auf die Museen des Globalen Nordens angewiesen. Angesichts der Tatsache, dass die Maya trotz des Kolonialismus und seiner Folgen Teile ihrer Kultur und Traditionen bewahrt haben, scheint diese (koloniale) Argumentation äußerst fragwürdig. Die Nachfahren der Menschen, die diese Objekte einst schufen, sind in der Regel mit den lokalen Gegebenheiten für deren Aufbewahrung vertraut. Zudem ist der Transport von Relikten mittels technischer Gerätschaften relativ problemlos möglich.
In der SLUB sagt uns ein Mitarbeiter des Museums, dass die heutigen Maya aufgrund der klimatischen Bedingungen in Yukatan nicht in der Lage seien, den „Kodize“, also ihr eigenes kulturelles Erbe, zu bewahren.
In den sächsischen Institutionen war der Pikju‘un keineswegs vor Schaden sicher. Anfangs erkannten die westlichen Historiker nicht die ursprüngliche Reihenfolge, die die Maya für ihren Kalender vorgesehen hatten. Die künstliche Anordnung der Handschrift, die einst Agostino Aglio (fehl)interpretierte, wird bis heute in der SLUB ausgestellt. Das sogenannte Japanische Palais in Dresden, wo der Pikju‘un lange untergebracht war, erlitt schwere Schäden im Zweiten Weltkrieg. Als das Dokument nach einem Wasserschaden zum Trocknen aufgehängt wurde, vertauschten die Zuständigen einige der Blätter. Und schließlich wird das aufgefaltete Leporello unter zwei Glasscheiben aufbewahrt. Da sich die Farbe mit der Glasscheibe verbunden hat, müssen Erschütterungen vermieden werden.
Eine Institution, die Relikte und andere Kulturgüter bewahren möchte, erfüllt nicht nur eine technische Funktion. Sie verleiht auch Bedeutung. Erhaltenswerte Güter haben eine besondere Bedeutung für die Gesellschaften, in denen sie entstanden sind. Eine Herausforderung entsteht, wenn es um die Bedeutungsgebung von Relikten aus entfernten Regionen geht, die kaum eine Rückkoppelung zum Alltag der meisten Menschen an den Aufbewahrungsorten zulassen. Wie viele Menschen in Dresden und in Deutschland sind am Pikju‘un interessiert oder nutzen ihn wie die Maya in Mexiko, Guatemala oder Belize täglich für soziale und spirituelle Zwecke? Können Institutionen, die solche Gegenstände aufbewahren, sicherstellen, dass ihre Bedeutung und Relevanz angemessen verstanden und respektiert werden?
Auf der Rückfahrt entspannt sich eine Diskussion über verschiedene Arten des Aufbewahrens. In der Zeit der Abschriften war die immaterielle Information sowie deren Verbreitung wichtiger als die jahrhundertelange Konservierung einzelner Schriften. Während sich die Institution des westlichen Museums im Zuge der Aufklärung im 18. Jahrhundert aus den Schatzkammern der König*innen und Fürst*innen entwickelte, kann diese Art der Ausstellung auch als hinderlich für die Nutzung und den haptischen Gebrauch der Gegenstände verstanden werden. Wir einigen uns, dass Souveränität und Autonomie im Umgang mit Kulturgütern und ihrer Aufbewahrung ein Recht jeder Bevölkerung sein sollten. Dazu gehört auch die Rückgabe geraubter, gekaufter und angeeigneter Objekte an die Gemeinschaften mit kulturellem und historischem Bezug zu den Relikten. Eine Rückgabe würde auch zu einer Entlastung der überfüllten Magazine großer Museen im Globalen Norden führen.
Schätze präsentieren
Die SLUB präsentiert die aufbewahrten Objekte in kolonialer Entdeckermanier als „Schätze“. Auf der Website werden Deutungshoheit und Expertise hauptsächlich weißen, westlichen und bürgerlichen Cis-Männern zugeschrieben. Laut Informationsflyer waren zwei Personen maßgeblich an der „Entzifferung“ der Maya-Schrift beteiligt: Diego de Landa, der das sogenannte Landa-Alphabet entwickelte, und der Bibliothekar Ernst Wilhelm Förstermann, der den Maya-Kalender angeblich „entschlüsselte“.
De Landa kam als Missionar nach Mexiko und erreichte 1549 Yukatan. Im Narrativ der spanischen Kolonisator*innen wurde Yukatan sieben Jahre zuvor gegen den Widerstand der dortigen Bevölkerung „erobert“. De Landa bekleidete verschiedene ranghohe Positionen in der kolonialen Kirchenhierarchie. In seiner Rolle als Inquisitor ließ er Menschen, die sich weigerten, zum katholischen Glauben zu konvertieren, brutal verfolgen, foltern und hinrichten. Mexikanische Historiker*innen schätzen, dass allein auf dem Vorplatz des Klosters in Maní 10 000 Menschen ermordet wurden. Trotz angeblicher Kontroversen in der katholischen Kirche über sein Handeln wurde de Landa zum Bischof von Yukatan geweiht.
Die Zerstörung nicht-westlichen Wissens und der damit verbundenen Kosmologien bildete einen zentralen Eckpfeiler des europäischen Kolonialismus und gehörte zum brutalen Prozess der sozialen Hierarchisierung, der die indigenen Bevölkerungen in Abya Yala („Lateinamerika“) und anderen Regionen entmenschlichte, ihre Arbeitskraft ausbeutbar machte und sie gegenüber der Idee europäischer Überlegenheit zu kolonialen Anderen erklärte. Die gewaltvollen Effekte dieser versuchten Vernichtung von Wissen („Epistemizid“) sind bis heute spürbar. „Diego de Landa stand kurz davor, das Wissen der Vorfahren auszulöschen“, sagt Aak Báalamkeej. Er kann kaum glauben, dass der Urheber dieses Epistemizids als Mitwirkender an der Entschlüsselung der Maya-Kultur dargestellt wird: „Die Zerstörung unserer Bücher führte zu einem fast vollständigen Verlust des Verständnisses der Schrift. Aber die Sprache überlebte. Wir passten uns an ein neues Alphabet an, aber wir schrieben weiter in Maya. Heute sind wir dabei, die alte Schrift wiederzuerlangen. Das bewegt mich, dass ich den Kalender meiner Vorfahren nutzen kann und wir die Maya-Schrift lesen können.“
Direkte Beteiligung an den Gräueltaten des Kolonialismus kann Ernst Wilhelm Förstermann nicht vorgeworfen werden. Der Bibliothekar und Lehrer hatte Vergleichende Sprachwissenschaften studiert. Er übernahm die Leitung der Privatbibliothek von König Albert. Sein Bild ist auf den Flyern in der SLUB zu sehen. Möglicherweise trug Förstermann dazu bei, die Symbole und Bilder des Maya-Kalenders in eine europäische Lesart zu übertragen. Die kulturelle Bedeutung muss sich ihm deshalb nicht notwendigerweise erschlossen haben.
Als wir den Flyer mit Aak Báalamkeej betrachten, erklärt er: „Die postulierte ‚Entschlüsselung‘ der Schrift verdanken wir nicht den Akademiker*innen, sondern den Maya, die ihre Weisheit durch Töpferwaren, Steine, mündliche Überlieferung und andere Formen der Kulturweitergabe bewahrt haben. Wir erkennen den Wert der akademischen Arbeit an, aber das Wesentliche liegt in der Essenz der Maya-Bevölkerungen.“
Während unserer Recherche erfahren wir, dass bereits 2012 drei Maya, darunter eine Professorin für Anthropologie der Vanderbilt University, an einer von der SLUB organisierten Konferenz teilnahmen. Einer von ihnen, Lajun Men, berichtete, dass ihm die Beine zitterten, als er das Buch im Museum sah: „Ich wollte schreien, als ich im Stillen zu dem Manuskript sagte: ‚Sie konnten uns nicht ausrotten. Wir sind immer noch da!‘ “
Wie geht es weiter?
Als Asamblea Berlin haben wir diesen Artikel geschrieben, um die Geschichte des Pikju‘un sichtbar zu machen. Wir sind eng mit Mitgliedern des mexikanischen CNI und der Gruppe Dresden Postkolonial vernetzt, um eine Allianz zu bilden und seine Rückgabe zu erreichen. Nicht zuletzt wollen wir antikoloniale Debatten über Formen der Wiedergutmachung und Gerechtigkeit anstoßen und von den Maya über ihre Geschichte der Unterdrückung und des Widerstandes lernen.