Elitäre Königin trifft nahbaren König
Im Norden von Kolumbien liegt Barranquilla, Hauptstadt des Departements Atlántico. Hier mischt sich die Brise des Ozeans mit der Hitze der Karibik. An den vier Tagen vor Aschermittwoch beherbergt die Stadt einen traditionsreichen Karneval. Zwischen Februar und März füllen sich die Straßen mit Farben, Rhythmen und symbolischen Blumenschlachten. Diese Feier wurde 2003 zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO erklärt und steht für die Resilienz und Lebensfreude der Menschen an der kolumbianischen Karibikküste. Unsere Autorinnen gucken hinter die Kulissen des Spektakels und fragen sich, inwiefern politische und ökonomische Machtverhältnisse das Karnevalsgeschehen beeinflussen.
Während dieser vier magischen Tage gleicht Barranquilla einer Sinfonie aus Farben, Rhythmen und originellen Verkleidungen, in denen Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen. Im Karneval feiert Barranquilla nicht nur die Gegenwart, sondern erweist auch ihren Wurzeln die Ehre. Während der Festtage sind Verkleidungen zu sehen, die mit viel Humor die harte Realität der kolumbianischen Karibik kritisieren – ein Gegengift gegen Trauer, Verbitterung und Gewalt.1
Dieses opulente Fest feiert nicht nur unser kulturelles Erbe, sondern regt auf subtile Art und Weise dazu an, über die soziopolitische Komplexität Kolumbiens nachzudenken. Mit Verkleidungen, Parodien, Theatereinlagen und lauten Ansprachen werden Persönlichkeiten aus der Politik verspottet. So sorgten zum Beispiel im Jahr 2020 die Bewohner*innen des Stadtteils San Jorge de Malambo für Aufsehen, weil sie die Flucht einer ehemaligen Kongressabgeordneten aus Barranquilla satirisch nachstellten, die wegen vermuteten Wahlbetrugs vor der Justiz geflohen war.
Der Karneval bildet nuanciert die politischen Machtverhältnisse in der Region ab. Bei der Wahl zur Karnevalskönigin wetteifern Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft darum, dass ihre jeweilige Kandidatin die Feierlichkeiten präsentiert. Seit langem spielen bei dieser Wahl der soziale Status und der Bekanntheitsgrad der Familie eine Rolle, so dass sich jedes Jahr einige wenige Familien aus der politischen und wirtschaftlichen Elite in dieser Postion abwechseln. Viele junge Frauen in Barranquilla träumen davon, einmal Karnevalskönigin zu sein. Doch es bleibt ein Traum. Schließlich kommt die Karnevalskönigin immer aus den reicheren Schichten, die für Eleganz, den sogenannten guten Geschmack und eine vermeintlich gute Erziehung stehen. Die meisten verstehen nicht, warum eine Frau mit begrenzten Mitteln, deren Familie nicht aus einer höheren Schicht stammt, nicht Karnevalskönigin werden kann. Bekannte Namen tummeln sich in der Reihe der Herrscherinnen im Karneval von Barranquilla, etwa die kolumbianische Modedesignerin Silvia Tcherassi, die ehemalige Direktorin der Handelskammer von Barranquilla, María José Vengoechea, Katia Nule (Frau des Bürgermeisters Alex Char) oder María Cecilia Donado, die ehemalige stellvertretende Tourismusministerin. Der männliche Gegenpart hingegen, der „Rey Momo“, stammt in der Regel aus den unteren Schichten. Er verkörpert die einfache Bevölkerung und ist fest in den kulturellen Traditionen der Stadt verwurzelt.
Zweiklassen-Karneval und kulturelle Aneignung von oben
Auch die Orte, von wo aus die verschiedenen Umzüge betrachtet werden, stehen für bestimmte Privilegien. Persönlichkeiten aus Politik und Unternehmerschaft können bei den wichtigsten Veranstaltungen des Karnevals, wie der „Batalla de Flores“ (Blumenschlacht) oder der großen Parade auf der 40. Straße, von exklusiven, reservierungspflichtigen Tribünenplätzen aus zuschauen. Alle anderen gucken sich eher den Karneval auf der 44. Straße an, der parallel zum offiziellen Karneval stattfindet. Auch der Karneval auf der 44. inszeniert eine Blumenschlacht und eine große Parade, doch bei diesem weniger bekannten Event schauen sich die Leute die Umzüge vom Straßenrand aus an. Sie kommen zusammen, um zu feiern, ohne für teure Plätze bei den offiziellen Umzügen bezahlen zu müssen.
Verkleidungen spielen eine wichtige Rolle im Karneval von Barranquilla, eine der Bekanntesten ist die „Marimonda“. Laut der Tageszeitung La Libertad stammt diese Verkleidung aus den Zeiten der Sklaverei, als die Versklavten Masken mit großen Ohren, langen Nasen und runden Augen anfertigten, um so ihre Unterdrücker darzustellen und zu verspotten. Die ersten Male, wo sich die „Marimonda“ im Karneval zeigte, war sie nicht gern gesehen, da sie sich über die Elite lustig machte. Heutzutage ist die „Marimonda“ fest etabliert und hat sich mehr Farbe und Glitzer zugelegt, doch in ihren Anfangszeiten kamen falsch herum getragene Anzüge und Krawatten hinzu. Damit zeigte die Bevölkerung ihre Ablehnung gegen die Beamten, die Lohn kassierten, ohne zu arbeiten.
Eine weitere Verkleidung samt Performance, die auf Machtstrukturen anspielt, ist der berühmte „Son de Negro“, in denen Männer Grimassen schneiden und tanzen. Auch diese Verkleidung stammt aus der Kolonialzeit und steht für den Spott der Versklavten gegenüber den Spaniern. Diese Figur trägt halblange Hosen, wie die Bauern an den Flussufern, der halbnackte Körper ist pechschwarz angemalt. Ein gigantischer Strohhut mit buntem Papierschmuck gibt den letzten pittoresken Schliff. Komplett wird die Verkleidung mit einer Machete aus Holz, die für Kämpfe, aber auch für Feldarbeit, Fischfang und Arbeit in den Minen steht.
Dazu wird der „Danza del garabato“, der Hakentanz getanzt. Auf den ersten Blick Ausdruck reiner Lebensfreude, hat er jedoch ebenfalls einen kolonialen Hintergrund: Mit Ironie und Sarkasmus werden die Lebensumstände auf den Bananenplantagen von Ciénaga dargestellt, die häufig ein Kampf um Leben und Tod waren. Dieser Tanz hat einen erstaunlichen Wandel durchgemacht, als ihn die in Barranquilla hoch angesehene Familie Vengoechea für die Oberschicht adaptierte. Nun wurde er auch im exklusiven Country Club der Stadt aufgeführt.
Komplexe Machtverhältnisse erfordern Weiterentwicklung
Der Bevölkerung von Barranquilla sind Begriffe wie „Congo“, „Son de Negro“ und „Mapalé“ absolut geläufig. Gemeinsam ist ihnen, dass sie von der Kultur der Afro-Kolumbianer*innen herrühren und in der grausamen Zeit der Sklaverei und Kolonialherrschaft entstanden. Im Karneval von Barranquilla erreichen diese kulturellen Ausdrucksformen ihren Höhepunkt und werden zu einem magischen Rezept: Es erinnert die Bevölkerung daran, dass das Leben trotz aller Widrigkeiten weitergeht.
Die Verkleidungen zeigen, wie seit langer Zeit die Freiheit der Unterdrückten eingefordert wird, mit Hilfe von Tanz, Kultur und Genuss. Gleichzeitig wollten sich die Menschen, Arme wie Reiche, schon immer einfach nur vergnügen, ungeachtet aller sozialen Klassenschranken.
Auch wenn der Karneval das Leben an der Karibikküste, speziell in Barranquilla, abzubilden versucht, haben wir es mit einer spannenden Dichotomie zu tun. Die satirische Darstellung ist heute fester Bestandteil unserer Feierlichkeiten. Und die ist mit der kolonialen Vergangenheit Kolumbiens verbunden, somit mit den komplexen Machtverhältnissen der damaligen Zeit, die gleichzeitig das Fundament für die Feier, wie wir sie heute kennen, bildet.
Bei einem genaueren Blick auf die Machtdynamiken der letzten Jahrzehnte stellen wir fest, dass Probleme wie Korruption, Veruntreuung öffentlicher Mittel sowie das jahrelange Verbleiben einer einzigen Familiengruppe an der Macht sichtbare Spuren in der politischen Realität Barranquillas und des Departements Atlántico hinterlassen haben. Erstaunlicherweise finden solche Themen keinen Widerhall in den Festlichkeiten des Karnevals. Das liegt möglicherweise daran, dass die Stadtverwaltung selbst den Ablauf des Karnevals und der wichtigsten Wertschöpfungsketten darin organisiert. Kritische Stimmen haben in einem solchen Szenario keinen leichten Stand.
Wenn es der Karneval schafft, seine Authentizität und Wandlungsfähigkeit beizubehalten, wird er dazu beitragen, weiterhin die Vielfalt der Stadt abzubilden, und er wird unerlässlich für das soziale Gefüge Barranquillas bleiben.
Das Machtmanagement ist definitiv ein entscheidender Aspekt für den Karneval von Barranquilla, damit er nicht nur als kulturelles Vehikel und historische Darstellung weiter existiert. Die Anpassung an aktuelle Dynamiken sowie ein ehrliches Nachdenken über die Sorgen der Bevölkerung sind dringend geboten für die Weiterentwicklung dieser so tief in unserer Identität verankerten Feier. So würde der Karneval nicht nur seine Wurzeln bewahren, sondern auch zum Spiegel der sozialen Wirklichkeit werden, der zum Verständnis unserer Gesellschaft beiträgt, vor allem im Hinblick auf die herrschenden Machtverhältnisse.
- 1. 2023 feierte die Zeitung El Tiempo z.B. den Karnevalisten Lázaro, der mit seiner Verkleidung als Mitarbeiter des Stromunternehmens Air-E bei möglicherweise säumigen Kund*innen erst für einen Schock, dann für schallendes Gelächter sorgte: In der typischen blauen Uniform des Energieunternehmens, mit Sicherheitsgurt, Helm, Zange, Leiter und Listen in der Hand kam Lázaro an und rief: „Ich stelle Ihnen jetzt den Strom ab!“
Gabriela Reyes Duque, Internationalistin und Absolventin der Universidad del Norte, forscht zum bewaffneten Konflikt in Kolumbien, zu Umwelt- und Kulturthemen. Sheily Altamar, Internationalistin und Absolventin der Universidad del Norte, forscht zu kulturellen Ausdrucksformen an der kolumbianischen Karibikküste, Gender und Tierschutz.
Übersetzung: Claus Witte