Gedichte gegen das Vergessen
An eine Aufklärung und Verurteilung des Mordfalles glaubt inzwischen niemand mehr. Nach 13 Jahren Straflosigkeit taten sich daher Familienangehörige und Freund*innen der im April 2010 im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca erschossenen Alberta „Bety“ Cariño und Jyri Jaakkola zusammen und schrieben den Kunstwettbewerb „Die Saat geht auf“ („Semillas que florecen“) aus. Damit sollen die Erinnerung an das Verbrechen und die Forderung nach Gerechtigkeit weiterleben.
Die Bluttat ereignete sich unweit der autonomen indigenen Gemeinde San Juan Copala. Seit Ende 2009 war die Gemeinde von Paramilitärs der sogenannten Gruppe UBISORT umzingelt, die mutmaßlich vom damaligen Gouverneur Oaxacas, Ulises Ruiz (PRI), organisiert wurde. Dem Gouverneur war die Autonomie der Triqui-Indigenen verhasst. Eine Menschenrechtskarawane wollte den eingeschlossenen Bewohner*innen Nahrungsmittel, Medikamente und Trinkwasser bringen und damit das Überleben sichern.
Kurz vor dem Ortseingang schossen Bewaffnete auf die Karawane. Bety Cariño, die 37-jährige Direktorin des sozialen Zentrums Cactus einer Kleinstadt in Oaxaca, und Jyri Jaakkola, ein nicht ganz 30-jähriger finnischer Umwelt- und Fairtrade-Aktivist, wurden im ersten Auto von den Kugeln getroffen und waren sofort tot. Viele weitere Mitglieder der Karawane konnten fliehen, wurden verletzt und beraubt, versteckten sich tagelang in den umliegenden Wäldern. Die Drahtzieher und die Täter wären schnell zu identifizieren und vor Gericht zu bringen gewesen. Polizei, Justiz und die Regierungen des Bundesstaates sowie des Staates Mexiko aber vernichteten Beweise, verschleppten Verfahren, verweigerten Zeug*innenanhörungen. Bis heute. Selbst internationale Präsenz, insbesondere von Europaabgeordneten, die jedes Jahr nach Oaxaca fuhren, ließ die Offiziellen kalt. Von 14 quälend langsam identifizierten Tätern starb einer, fünf landeten kurzzeitig im Gefängnis, alle sind inzwischen wieder ohne Urteil frei.
Der Wettbewerb ist ein Umgang mit dem Drama der Straflosigkeit. Die meisten der rund 30 eingereichten Arbeiten widmen sich dem Thema des Mordes an den Umwelt- und Menschenrechtsaktivist*innen in Oaxaca auf grafische Weise. 20 davon werden in Mexiko und Europa ausgestellt, im Dezember 2023 im Europaparlament in Straßburg. 17 der ausgewählten Bilder finden sich in einem dieser Ausgabe der ila beigelegten Katalog. Ein Beitrag ist die Vertonung eines popularen Gedichts. Die beiden ausgewählten Gedichte finden sich auf den folgenden Seiten. Durch sie lebt die Erinnerung weiter, an Jyri Jaakkola und an Bety Cariño, die selbst auch Dichterin war.
Ya no hay silencio
I
Mujeres, mujeres, sigan escuchando las palabras del encanto.
II
Mujer, vienes desde “la voz que rompe el silencio”,
vienes desde la Madre Tierra para bruñir nuestro espejo, para creer en manos trabajadoras,
por el pan justo, bendito,
por el agua viva,
por la noche apacible, constelada.
Vienes desde una algarabía como de aguas quemadas
a descoser párpados.
Mujer, vienes para germinar entre simientes de uvas
para erigir faenas, panal de palabras,
para cambiar lágrimas por sudor que encumbra,
por tierra nuestra, Cactus, Maíz.
III
Mujer, te enraizamos con brazos abiertos
porque tú eres si nosotros somos.
Escuchamos tu voz que son voces, murmullo de hormiga, murmullo creciente.
Vivimos bajo el mismo techo,
te acuñaste a nuestra piel y vestidas con plumas de pájaro,
cruzamos corrientes frías, casi heladas para salir incólumes.
Aprendimos a trazar nuestro porseguir, nuestro porvenir, dueñas al fin de
[nuestros augurios.]
Por tu vuelo de ave, mujer oaxaqueña, tu lengua saltó mares, pobló otras tierras
para anidar,
para revelar,
para contagiar.
IV
Y así, algo ya se venía germinando para bien, para mal.
V
Mujer,
caes,
caes,
caes,
sólo para quedar prendida en la memoria de tus comunidades, de los depredadores; acechadores de montaña furtivos, de los precursores del caos, de los caminadores de tu sombra calcárea, de los buscadores de cambios.
Y nos dejaste, poeta de sombras de árboles, de velas encendidas, Bety mujer, Bety hija, Bety madre, Bety de voz potente, Bety de voz perpetua, con ojos descocidos, con manos limpias y creadoras para seguir resistiendo.
Alma Delia Vanegas González
Das Schweigen ist vorbei
Für Bety Cariño
I
Frauen, Frauen, höret weiter die Zauberworte.
II
Frau, du stammst von daher, wo „die Stimme das Schweigen bricht“,
du stammst von der Mutter Erde, um unseren Spiegel blank zu polieren,
um an arbeitende Hände zu glauben,
für gerechtes, gesegnetes Brot,
für lebendiges Wasser,
für eine friedliche, sternenklare Nacht.
Du stammst aus einem Aufruhr wie von verbranntem Wasser,
um geschlossene Augen zu öffnen.
Frau, du kommst, um aufzublühen zwischen Traubenkernen,
um gemeinsames Arbeiten voranzutreiben, viele neue Wörter zu erfinden,
um Tränen gegen Schweiss zu tauschen, der Ruhm bringt,
wegen unserer Erde, Kaktus, Mais.
III
Frau, wir lassen dich hier mit offenen Armen Wurzeln schlagen,
denn du bist, wenn wir sind.
Wir hören deine Stimme, die zu vielen Stimmen wird, wie das Murmeln einer Ameise, das anschwillt.
Wir leben unter dem gleichen Dach,
du hast dich uns eingeprägt und mit Vogelfedern bekleidet
durchqueren wir kalte, fast eisige Ströme, um unversehrt wieder hinauszusteigen.
Wir lernten, unser Fortkommen, unsere Zukunft zu entwerfen, endlich Herrinnen
[unserer Geschicke]
Wegen deines vogelgleichen Flugs, Frau aus Oaxaca, überwand deine Zunge Meere, bevölkerte andere Länder,
um sich dort einzunisten,
um aufzudecken,
um anzustecken.
IV
Und so war etwas schon im Entstehen begriffen, zum Guten, zum Bösen tendierend.
V
Frau,
du fällst,
fällst,
fällst
nur um im Gedächtnis deiner Gemeinschaften haften zu bleiben,
in dem der Raubtiere; der verstohlenen Anpirscher in den Bergen, der Vorläufer des Chaos, der Gehhilfen deines kalkigen Schattens, der Sucher nach Veränderung.
Und du ließest uns zurück, Dichterin von Baumschatten, von angezündeten Kerzen, Bety Frau, Bety Tochter, Bety Mutter, Bety mit machtvoller Stimme, Bety mit ewiger Stimme, mit weit offenen Augen, mit sauberen, schöpferischen Händen, um weiter Widerstand zu leisten.
Alma Delia Vanegas González
Tu nagual está muerto en la plaza
A Bety Cariño
No salgas, niña, a la calle:
sirocos te arrancarán
de tu tierra. No te alejes:
enredada en el rebozo,
con los pies negros desnudos
por delante, retornarías.
¿Cómo te detengo, niña,
si has oído ya el canto
del tecolote?
Afuera bailan su danza los buitres.
Avanzas hacia ellos, niña,
agitas banderas blancas,
lienzos grana, lodo, roca.
Veo a Dios durmiendo la siesta
del olvido,
también chacales armados
rodeando tu caravana.
No salgas, niña, a la calle:
tu nahual está muerto en la plaza.
Grissel G. Estrada
Dein Nahual liegt tot auf dem Platz
Für Bety Cariño
Geh‘ nicht raus auf die Straße, Mädchen:
heiße Winde werden dich wegreißen
von deinem Land. Lauf nicht weit fort:
eingewickelt in ein Frauengewand,
die schwarzen, nackten Füßen
zuerst, würdest du zurückkehren.
Wie halte ich dich zurück, Mädchen,
du hörtest doch schon den Ruf
des Tecolote-Vogels.
Draußen führen die Geier ihren Tanz auf.
Du gehst auf sie zu, Mädchen,
schwenkst weiße Fahnen.
Blutrote Tücher, Lehm, Gestein.
Ich sehe, wie Gott den Mittagsschlaf
des Vergessens hält,
sehe auch bewaffnete Schakale,
die deine Karawane umzingeln.
Geh‘ nicht raus auf die Straße, Mädchen:
dein Nahual liegt tot auf dem Platz.
Grissel G. Estrada
Anmerkung: Nagual (oder nahual) ist in der mittelamerikanischen Mythologie das verborgene Alter Ego, der persönliche Schutzgeist.
Übersetzung: Gaby Küppers