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VW – immer noch unfähig, Schuld anzuerkennen

Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen auf Rinderzuchtfarm wird weiterhin geleugnet

VW ist eigentlich bekannt als großer Autobauer. Dass sich der Konzern auch einmal in der Rinderzucht versuchte, war bislang eher unbekannt. Gut für VW, denn was sich auf der VW-Rinderzuchtfarm Rio Cristalino in Brasilien während der Militärdiktatur abspielte, waren wohl Zwangsarbeit und Menschenrechtsverletzungen. Das legen ein unabhängiger Bericht und von einer Forschungsgruppe zusammengetragene Beweise nahe. Im Sommer 2022 nahm sich die brasilianische Staatsanwaltschaft des Falles an. Bisher blieben die Anhörungen ergebnislos, doch es wird erwartet, dass sich VW beim nächsten Termin im März zu seiner Verantwortung bekennt.

Günther Schulz

Es dauerte bis ins 21. Jahrhundert, bis VW sich – notgedrungen – seiner Vergangenheit in Brasilien stellte. Anlass war der am 10. Dezember 2014 nach zweijähriger Arbeit überreichte Bericht der brasilianischen Wahrheitskommission an die damalige Präsidentin Dilma Rousseff. In diesem dreibändigen Bericht wurden die Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur 1964-1985 aufgearbeitet. Der Bericht legte erstens die Kollaboration mit der Militärdiktatur, zweitens die Verfolgung gewerkschaftlich aktiver Arbeiter im VW-Werk in São Bernardo do Campo und drittens die sklavenähnlichen Verhältnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm Rio Cristalino im Bundesstaat Pará offen. Diese Veröffentlichung drängte VW zu einer Reaktion, und so beauftragte das Unternehmen 2016 den Historiker Christopher Kopper mit der Aufarbeitung der Vorwürfe. Sein Resümee: „Das Management von VW do Brasil verhielt sich gegenüber der Militärregierung uneingeschränkt loyal und teilte ihre wirtschaftspolitischen und innenpolitischen Ziele. Die Korrespondenz mit dem Vorstand in Wolfsburg zeigt bis 1979 eine uneingeschränkte Billigung der Militärregierung, die sich nicht in persönlichen Loyalitätsbekundungen erschöpfte.“ 2020 erklärte sich VW schließlich bereit, umgerechnet ca. 5,5 Millionen Euro an einen Opferverband zu zahlen. Damit sollten ehemals Beschäftigte, die während der Militärdiktatur nachweislich gefangen, gefoltert oder verfolgt wurden, eine späte finanzielle Entschädigung bekommen. Mit dem erfolgten Vergleich war damit für VW dieses dunkle Kapitel der Firmengeschichte abgeschlossen. Für die noch lebenden Arbeiter von damals war es eine kleine Genugtuung, für die meisten Betroffenen kam die getroffene Vereinbarung Jahrzehnte zu spät. Viele konnten nicht mehr ausfindig gemacht werden oder waren bereits verstorben. Und eines geriet bei diesem Vergleich kaum ins Blickfeld: die Vorkommnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm.

Der Historiker Kopper hatte jedoch nicht nur die Produktionsverhältnisse in São Paulo untersucht, sondern auch die Arbeitsbedingungen auf der Fazenda Rio Cristalino. VW hatte in den 1970er-Jahren beschlossen, sich neben der Autoproduktion auch in der Rinderzucht zu betätigen. Im Interesse einer insbesondere auf den Profit orientierten „Entwicklung“ förderte die brasilianische Regierung den Erwerb von billigem Land. 1973 erwarb VW eine Fläche von 139 000 Hektar und legte bereits ein Jahr später der für die Erschließung zuständigen Behörde SUDAM einen Investitionsplan vor. Für das Abholzen, Niederbrennen und Umzäunen wurden Subunternehmer beauftragt, die sogenannten „gatos“ (Katzen). „Zu den bevorzugten Opfern der gatos gehörten verschuldete Wanderarbeiter, deren Schulden sie übernahmen. Da von dem Lohn nach Abzug der Verpflegung kaum Geld zum Abzahlen der Schulden übrig blieb, gerieten verschuldete Wanderarbeiter in eine längerfristige Schuldknechtschaft. Deutsche Lateinamerika-Informationsdienste wie die ‚BrasilienNachrichten‘ klagten diese Arbeitsverhältnisse als Sklaverei an“, so Kopper. Er schreibt weiter, dass die Verantwortung trotzdem nicht nur bei den Subunternehmern zu suchen sei: „Die Leitung der VW-Fazenda war zweifellos mit den Verhältnissen auf dem ländlichen Arbeitsmarkt vertraut und kannte die ausbeuterischen Praktiken der gatos. … Die Leitung der Fazenda betrachtete und behandelte die Wanderarbeiter als Arbeitskräfte zweiter Klasse. Sie verweigerte ihnen angemessene Unterkünfte mit sanitären Anlagen, eine medizinische Versorgung und sogar den Einkauf im fazendaeigenen Lebensmittelladen. Sie zog ihnen sogar einen Teil ihres Lohns ab, wenn sie beim Arbeiten Fehler machten und beim Ausreißen giftiger Pflanzen nachlässig waren. Statt die Wanderarbeiter fair zu behandeln, leistete sie den gatos noch Vorschub.“

Die zwischen 600 und 1200 Männer mussten ihre Unterkunft in Zelten, ihre Verpflegung und ihren Transport selbst bezahlen. Damit waren sie von Beginn an hoch verschuldet und durften die Farm nie verlassen. Private Sicherheitsdienste hinderten sie daran. In einem Interview mit den BrasilienNachrichten (Nr. 93/1986) bestätigte der ehemalige Sicherheitsbeauftragte der VW-Farm Adão, dass zeitgleich mehrere Subunternehmen tätig waren und dass es vorkam, dass Leute flohen. 90 Prozent der Farmarbeiter seien Analphabeten gewesen und hätten ihre Rechte nicht gekannt. „Die Leitung der Fazenda und VW do Brasil trugen keine unmittelbare, aber eine indirekte Mitverantwortung für die menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen der Wanderarbeiter. ... Auch wenn es sich nicht um wirkliche Sklaven handelte und VW do Brasil nicht unmittelbar für ihre katastrophalen Arbeitsbedingungen verantwortlich war, unterließ VW alles, um die Lage der Wanderarbeiter zu verbessern“, so der Historiker im Bericht. Sicherlich war diese Behandlung der Arbeiter, das System der Schuldknechtschaft, damals weit verbreitet. Das darf jedoch keine Entschuldigung sein. Eine bereits Anfang der 1980er-Jahre eröffnete polizeiliche Untersuchung bestätigte die unmenschliche Behandlung der Arbeiter, sie blieb aber folgenlos.

VW do Brasil entschloss sich schließlich 1986 zum Verkauf der Fazenda Rio Cristalino. Gründe dafür gab es sichere mehrere. Einer war die Erkenntnis, dass mit der Rinderzuchtfarm der schnelle Gewinn nicht zu machen war. Auch der befürchtete Imageschaden, der durch die Bekanntmachung der Zustände auf der Fazenda sowohl in Deutschland als auch in Brasilien eintreten konnte, trug seinen Teil dazu bei, von den ursprünglichen Plänen abzurücken. Die immer wieder gerade von dem katholischen Priester Ricardo Rezende gesammelten und auch in den BrasilienNachrichten verbreiteten Beweise dürften die Verantwortlichen genervt haben. Ausschlaggebend dürfte aber letztlich gewesen sein, dass die Fazenda seit Beginn der 1980er-Jahre Verluste einfuhr und eine ökonomische Verbesserung nicht in Sicht war.

Sowohl die Erkenntnisse des Historikers Kopper als auch die von der Arbeitsgruppe „Zeitgenössische Sklavenarbeit“ an der staatlichen Universität UFR in Rio unter Leitung von Ricardo Rezende zusammengetragenen Beweise zeigten mehr als deutlich, dass VW von den Vorkommnissen gewusst hatte und hierfür Verantwortung übernehmen sollte. Uneinsichtig zeigt sich bis heute der damalige Manager der VW-Farm, der Schweizer Friedrich-Georg Brügger. Am 29. Mai 2022 konfrontierte ihn die Weltspiegel-Redaktion der ARD mit den Veröffentlichungen. „Die Vorwürfe sind völliger Blödsinn“, meinte Brügger, und weiter: „Irgendwo hört die Verantwortung eines Unternehmers auf. Wenn tausend Männer auf einem Haufen sind, liegt es auf der Hand, dass es nicht immer zart zugeht – und dann erst noch mitten im Urwald.“

2022 griff die brasilianische Bundesstaatsanwaltschaft die Ereignisse auf der Farm auf und eröffnete am 19. Mai ein Ermittlungsverfahren gegen Volkswagen, dem am 14. Juni 2022 eine erste Anhörung in Brasília folgte. VW musste zu den Vorwürfen Stellung beziehen. Es geht um den gesamten Zeitraum von 1974 bis 1983, während dessen die Fazenda betrieben wurde, die Anklagepunkte sind Sklavenarbeit, Menschenhandel und systematische Menschenrechts­verletzungen in Hunderten von Fällen. Dass diese bereits in den 1980er-Jahren dokumentiert wurden, ist vor allem das Verdienst des Priesters Ricardo Rezende von der Landpastoral CPT. Die Geschehnisse fanden damals in Brasilien so gut wie keine Beachtung. In Deutschland berichteten u.a. Der Spiegel und die Frankfurter Rundschau und auch die brasilieninitiative freiburg e.V. brachte Anfang der 1980er-Jahre durch ihre Publikation BrasilienNachrichten die Vorgänge in Deutschland an die Öffentlichkeit. 2022 war es erneut Ricardo Rezende, der die erwähnte Anhörung durchsetzte, nachdem er 2019 dem brasilianischen Arbeitsministerium ein detailliertes Dossier ausgehändigt hatte. Nach dreijähriger Auswertung erfolgte die Entscheidung, dass die aufgeführten Sachverhalte eine nähere Untersuchung rechtfertigten. Die daraufhin angesetzte Anhörung am 14. Juni 2022 fand über Brasilien hinaus große Aufmerksamkeit, zahlreiche große überregionale deutsche Medien berichteten.

Am 29. September erfolgte eine erneute Anhörung in São Paulo zwischen Vertretern von VW – unter anderem mit drei Anwälten erschienen – und Vertretern des Arbeitsministeriums unter Leitung von Staatsanwalt Rafael Garcia. Für ihn ist es keine Frage, dass „VW immer wusste, was auf der Fazenda geschah, zum einen da VW der Besitzer war und zum zweiten da der Zugang zur Fazenda und der Verbleib unter voller Kontrolle der VW-Verwaltung war“, so Garcia gegenüber der Agência Brasil. Zu der Tatsache des bewaffneten „Sicherheitsdienstes“, der darauf zu achten hatte, dass keine Arbeiter die Fazenda verlassen konnten, meinte Garcia: „Ein derartiges Verhalten wäre ohne Zustimmung der für die Fazenda Verantwortlichen unmöglich gewesen.“ Dass Menschenrechte verletzt wurden, steht für ihn ebenso außer Frage: „Es konnte nur jemand die Fazenda nach Bezahlung der Schulden verlassen. Dies war jedoch unmöglich, da die Schulden den erhaltenen Lohn immer überstiegen, also nicht beglichen werden konnten.“ Bei der Anhörung ging man ergebnislos auseinander, ebenso bei einem weiteren Treffen am 29. November. Am 29. März 2023 sollen die Gespräche weitergehen. Staatsanwalt Garcia erwartet, dass VW an diesem Termin endlich die unhaltbaren Zustände in der damaligen Zeit anerkennt, eine Entschädigung zugunsten der vierzehn eindeutig als Opfer identifizierten Arbeiter auf der VW-Farm zahlt und der Einrichtung eines Opferfonds zustimmt.

Während der ehemalige Verantwortliche der VW-Farm, Brügger, bis heute unbelehrbar ist, sollte zumindest die Konzernleitung fähig sein, Fehler zuzugeben. Bei so eindeutiger Faktenlage würde es VW gut anstehen, dieses dunkle Kapitel endlich zu einem Abschluss zu bringen, sich bei den Betroffenen zu entschuldigen und sie zu entschädigen. Es ist unverständlich, dass ein Weltkonzern wie VW ein derart schäbiges Verhalten an den Tag legt. Die Opfer sind inzwischen hochbetagt und bald wird es wohl zu spät sein.

Die vollständige Studie von Christopher Kopper „VW do Brasil in der brasilianischen Militärdiktatur 1964 -1985“ kann hier heruntergeladen werden:

https://www.volkswagenag.com/de/group/history.html#

Eine Petition fordert von VW, sich seiner Verantwortung zu stellen. Sie wird im März an Dr. Manfred Döss, VW-Vorstand für Integrität und Recht, übergeben.

Zur Petition: https://weact.campact.de/petitions/volkswagen-soll-schuld-an-menschenrec...

Günther Schulz ist Vorsitzender der brasilieninitiative freiburg e.V. und Herausgeber der BrasilienNachrichten (www.brasiliennachrichten.de).