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Der Krise zum Trotz – neue Filme aus Venezuela

Sozialkritisches und Spannendes beim venezolanischen Filmfestival
Ute Evers

Das unabhängige Festival „Venezuela im Film – Qué chévere“ ist in seiner 17. Auflage zurück. Und dieses Mal endlich wieder mit Gästen im Filmsaal! Ob Thriller, Dramen oder Dokumentarfilme, ob neue Produktionen oder Klassiker – die Filmemacher*innen fühlen und fühlten ihrer Gesellschaft schon immer gerne auf den Zahn.

Ignacio Márquez zeigt in „Especial“ mit seiner Hauptfigur Chúo, einem 23-Jährigen mit Down-Syndrom, wie schwierig es ist, sich in eine Welt einzufügen, die nicht für Menschen wie ihn geschaffen zu sein scheint – hier das laute und chaotische Caracas. „Der Film konfrontiert uns mit der unausgesprochenen Diskriminierung, die die Gesellschaft auf Menschen ausübt, die sie für anders hält. Er zeigt uns andererseits, wie Kunst Brücken bauen kann und wie wunderbar es ist, sich zu lieben und zu akzeptieren, wie man ist“, kommentiert Márquez, der das Festival mit seinem zweiten Spielfilm am Donnerstag, den 16. März, um 19 Uhr eröffnen wird.

Der Thriller „Jezabel“, den der Produzent Adrián Geyer persönlich vorstellen wird, versetzt Caracas in das Jahr 2033 und blickt auf einer zweiten Erzählebene 16 Jahre zurück. In der Rückblende führen vier Freund*innen aus der Oberschicht inmitten des politischen und sozialen Chaos ein sorglos ausschweifendes Leben voller sexueller Exzesse, Partys und illegaler Drogen, das sein Ende mit dem jähen Tod eines der Mädchen findet. Im Jahr 2033 lässt Alain, dem damaligen Leader der Gruppe, just diese Zeit keine Ruhe. Was ist damals wirklich geschehen?

In „Juan“ nimmt uns Adrián Geyer in seinem philosophisch-anthropologisch anmutenden Dokumentarfilm mit auf den Weg, den einzigartigen Künstler und Handwerker Juan Félix Sánchez (1900–1997) kennenzulernen. Aus seiner persönlichen Perspektive zeigt er auch, wie stark Kunst, Natur und Mensch miteinander verwoben sein können. Darüber hinaus wird deutlich, wie wichtig der Dokumentarfilm als zeithistorisches Genre ist. Der Regisseur wird seinen Film persönlich vorstellen.
Welche Elemente bestimmen die Nationalität eines Films? Mit „La caja“ präsentiert das Festival den neuesten Film von Lorenzo Vigas, einem der venezolanischen Filmemacher*innen, die große internationale Anerkennung erlangt haben. Eine Besonderheit ist „La caja“ aber nicht nur als monumentaler Film, der die häufige Abwesenheit des Vaters in Lateinamerika, die Ausbeutung von Arbeitskräften in den Maquiladoras und das Verschwinden von Frauen in Mexiko zu einem tragischen Gesamtbild verwebt. Die Filmproduktion rief Ende 2022 in Venezuela zudem eine heftige kulturpolitische Debatte hervor, in der gestritten wurde, wann ein Film venezolanisch sei und wann nicht mehr: Bestimmen das die Themen oder die Nationalität des Regisseurs? Kurz, man stellte „La caja“ die venezolanische Nationalität in Zweifel. Der zweite Spielfilm des venezolanischen Regisseurs wurde als offizieller Kandidat Venezuelas für die Oscarverleihung 2023 in der Kategorie Bester Internationaler Film eingereicht. „La caja“ schließt eine Trilogie über Vaterschaft ab, die Vigas mit dem Kurzfilm „Los elefantes nunca olvidan“ (2004) begonnen hat, gefolgt von „Desde allá“ (2015).

Mit dem Dokumentarfilm „Araya: Toda vida viene del Mar“ freut sich das Festival, eine Perle aus der lateinamerikanischen Filmgeschichte zu zeigen. Die französisch-venezolanische Produktion aus dem Jahr 1959 wurde auf den Filmfestivals in aller Welt gefeiert. Es war der erste venezolanische Film, der einen internationalen Preis erhielt. Araya ist eine karibische Halbinsel im Norden Venezuelas, eine der kargsten Regionen der Erde, wo die Menschen völlig von den Produkten des Meeres abhängig sind: vom Salz und vom Fisch. Margot Benacerraf (1926 in Caracas geboren) erzählt von einem Tag wie vielen anderen in Araya in den letzten 450 Jahren. Diese 24 Stunden aus dem Leben der Salzarbeiter zeigen eine seltsame, eigentümliche Welt. Schon mit seinen ersten Bildern entführt der Film die Zuschauer*innen in eine Welt von seltener Schönheit, in der das Leben aus Himmel und Erde entsteht und die gesamte Natur in einer ständigen, sich immer wieder erneuernden Bewegung ist, hieß es damals in der Presse. Im Jahr 2009 lief „Araya“ auf der Berlinale. Wiederaufbereitet, wird er in Höchst nun digital gezeigt.

Die internen ökonomischen Probleme und die Wirtschaftskrise weltweit führten in den letzten Jahren zu einem deutlichen Rückgang der jährlichen Filmproduktion in Venezuela, verglichen mit den „goldenen“ Jahren von 2009 bis 2013. Mit der Pandemie verringerte sich die Filmproduktion nochmals, doch „ist sie nicht völlig stehengeblieben“, betonte Caupolicán Ovalles, Präsident der venezolanischen Filmakademie ACACV, während der hybriden Eröffnung des Festivals 2021 im Filmforum-Höchst. Die Mehrheit der aktuellen Produktionen spiegelt die wirtschaftliche Situation des Landes wider: Kaum eine venezolanische Filmproduktion kann auf eine ausländische Kooperation verzichten, was in der internationalen Filmindustrie nicht außergewöhnlich ist, für die venezolanische Filmindustrie indes schon. Sie verfügt nämlich neben dem staatlichen Filminstitut CNAC seit 2006 mit Villa del Cine auch über eine eigene Film- und Fernsehproduktion, die in den goldenen Jahren für ein enormes Ansteigen der jährlichen Filmstarts sorgte.

Die venezolanische Filmschau schließt mit „Qué buena broma, Bromelia“ von Efterpi Charalambidis. Es ist der erste Film von 2022, der während der Pandemie als rein venezolanische Produktion erschien. Charalambidis erzählt mit ihrer Hauptfigur eine Geschichte der weiblichen Emanzipation in einer bürgerlich geprägten Gesellschaft. Bromelia ist von fülliger Statur und mit ihren 40 Jahren noch unverheiratet – für ihre Mutter eine Schande! Bei dem unterschwellig mitschwingenden Humor ist der Film eine gelungene Kritik an einer Gesellschaft, die von Oberflächlichkeit und Etiketten dominiert wird.

„Venezuela im Film - Qué chévere“ findet vom 16. bis 19. März 2023 im Filmforum-Höchst, Emmerich-Josef-Str. 46, 65929 Frankfurt, statt. Kartenreservierung: Telefon 069 212 45 714 // filmforum.vhs@stadt-frankfurt.de

Unterstützt wird das Festival vom Kulturamt Frankfurt und der HessenFilm und Medien und kooperiert mit der Filmakademie ACACV und dem Filminstitut CNAC in Caracas.

Programm:
https://venezuela-im-film.de/