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Auch die Kartoffeln haben ein Recht auf Stadt

Juan Carlos Nina und die Wiederbelebung des Ayllu in La Paz

Die Leute kennen und begrüßen Juan Carlos Nina, als er mich Ende November von der Seilbahnstation „Faro Murillo“ zu seinem Nachbarschaftszentrum am nordwestlichen Rand des Talkessels von La Paz bringt. Thema des Tages ist der ausbleibende Regen. Cristina Janco, die Saftverkäuferin mit der Orangenpresse unter dem Denkmal für den Unabhängigkeitshelden Pedro Domingo Murillo, ist doppelt betroffen. Auf ihrem Acker in ihrem Heimatdorf am Rande des Titikaka-Sees ist die Kartoffelsaat vertrocknet. Ihre kleine Parzelle neben ihrem Häuschen im städtischen Randviertel Alto Tacagua mag sie noch nicht einsäen. Doch je länger sie wartet, desto unwahrscheinlicher wird es, dass die einheimischen Kartoffelsorten genug Zeit zum Reifen haben. Um Kartoffelanbau (siehe auch ila 446) geht es auch im Projekt von Nina, den hier alle Archi nennen. Ziel ist die Wiederbelebung des Ayllu, der traditionellen Gemeindeorganisation, und zwar in der Stadt. „Wir werden Mutter Erde ein Opfer bringen müssen“, sagt Archi zur Saftverkäuferin beim Abschied.

Peter Strack

Früher haben der 48-Jährige und seine Partnerin Noemí Carina Rios bei der Organisation „Inti Watana“ bald ein Vierteljahrhundert lang Kinder und Jugendliche auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene organisiert und sie bei der sozialen und politischen Beteiligung unterstützt. Das Konzept des „Buen Vivir“ war schon früher Leitschnur ihres Handelns. Doch angesichts der sich verschärfenden Klimakrise, drohender Lebensmittelknappheit und kultureller Erosion suchten beide nach neuen Ideen. Und die kamen zunehmend von den weisen Seniorinnen und Senioren aus dem eigenen Viertel. Drei von ihnen bauten auf den wenigen frei gebliebenen Flächen mitten in der Stadt Kartoffeln an. Auf alten Fotos konnte Archi sehen, dass dies vor drei Generationen überall in La Paz noch verbreitet war. Der Aymara-Name für La Paz bedeutet übersetzt sogar Kartoffelacker. Die Kartoffeln hätten genauso ein Recht auf die Stadt wie alle anderen Lebewesen, betont Archi, ohne die Modernisierungs- und Urbanisierungsprozesse leugnen zu wollen. Moderne Technologien seien ebenso nötig wie das Wissen der Vorfahren. Dafür sei interkultureller Dialog nötig, auch mit den „Jailones“ aus der reichen Südstadt von La Paz. Es gehe aber nicht darum, dass diese sich „einfach einen traditionellen Hut aufsetzen und ein Tuch umwickeln und glauben, dass damit alles in Ordnung ist. Aber wir teilen gerne unser Wissen, wie das Leben regeneriert werden kann, um der Nahrungsmittel- und Klimakrise zu begegnen.“

„Unsere Organisation nennt sich 'Nina Mayu' (Feuer und Fluss) – 'Ayllu Urbano'. Die Frauen im Viertel spinnen und weben. An Allerheiligen wird auf dem Friedhof die Alma-Pinkillo-Flöte (siehe ila 447) gespielt. Wenn der Regen beginnt, werden Kartoffeln gesät. Über das ganze Jahr gibt es Aktivitäten, die dem Agrarzyklus der ländlichen Gemeinden ähneln. Der eine oder die andere sprechen Aymara, andere bereiten Phiri zu (gekochte Kugeln aus Quinoamehl), tragen ihren traditionellen Hut oder helfen sich gegenseitig auf dem Markt mit dem Tausch von Produkten. Wieder andere feiern Allerheiligen oder Karneval.“ Es gehe darum, diese aus dem ländlichen Ayllu bekannten Elemente den Menschen wieder näherzubringen und ihnen Geltung zu verschaffen im Dialog mit der „Stadt der Wunder“ (so lautet ein Marketing-Slogan von La Paz). Die Anlage von 200 Miniterrassen an den Hängen vor den Wohnungen ist da ein gutes Beispiel. Manche sind so klein, dass wir einen der Nachbarn beobachten können, wie er sein Yapu (Feld auf Aymara) aus dem geöffneten Fenster gelehnt gießen kann. Weil es nicht geregnet hat, kommt das Wasser aus der Leitung. Man lässt es vorher ein paar Tage in offenen Plastikflaschen stehen, damit das Chlor entweicht, das Teil des modernen La Paz ist.

Die Stadtverwaltung hatte das Viertel zu einem der „Barrios de Verdad“ (wirkliche Viertel) erklärt. Aus städtischen Mitteln waren Hausfassaden bunt angemalt und mit viel Zement Treppen und Spielplätze gebaut sowie Grünflächen angelegt worden. Der neue Bürgermeister hat alles mit den eigenen Parteifarben noch einmal neu anstreichen lassen. Auch der neue Slogan prangt nun auf einer Mauer: „Stadt in Bewegung“. Mit all dem soll, wie es heißt, die Marginalisierung überwunden werden. Doch statt auf den übrig gebliebenen Flecken Erde wie von der Stadtplanung vorgesehen nur Rasen oder Blumen zu gießen, pflanzten die Frauen dort auch Kartoffeln und Heilkräuter. Archi schaute sich das an, besorgte Gelder von terre des hommes aus Deutschland für Zäune zum Schutz der Yapus vor den herumstreunenden Hunden und dem ein oder anderen Schaf. Damit konnte er weitere Familien im Viertel motivieren, mit dem Anbau auf den kleinen Feldern nicht nur die Ernährung und Gesundheit zu verbessern, sondern auch den nachbarschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. In der Zeit der Covid-Pandemie und vor allem während der strengen Quarantäne, die viele am Geldverdienen hinderte, trug das nicht nur zu einer besseren Versorgung mit Lebensmitteln bei. Es holte die Nachbarschaft auch aus der häuslichen Isolation an die freie Luft. Auch ein bunt bebilderter Leitfaden zum Einsatz diverser Kräuter entstand, um die Krankheitssymptome zu lindern. Einen bearbeiteten Felsen, der den Vorfahren einst für Rituale gedient haben mag, haben sie ebenfalls wieder freigelegt. Der Platz darum herum wurde so hergerichtet, dass er wieder als Ort der Zusammenkunft und andiner Religiosität dienen kann.

Archi schwärmt so sehr vom Wissen der Großelterngeneration und der Aymara-Kultur, dass ich, im Zentrum von Nina Mayu angekommen, überrascht bin, dort zunächst nur Jugendliche anzutreffen. Es ist ein kleines angemietetes Ladenlokal mit vielen Fotos und Stoffen an den Wänden. Auf dem Tischchen in der Mitte warten Tee und Plätzchen. In der Ecke stapeln sich Flöten, Trommeln und andere Musikinstrumente, auf denen die Jugendlichen selbst getextete Lieder spielen.

Ein junger Mann mit rot gefärbten Strubbelhaaren, schwarzer Skinny Jeans, Hemd und weißen Sportschuhen zeigt mir ein Wandbild, das sie draußen an der Straße angefertigt haben, um auf ihre Arbeit hinzuweisen. Das wird künftig nicht mehr nötig sein. Die Nachbarschaftsorganisation scheint inzwischen vom Ansatz des urbanen Ayllus überzeugt zu sein. Sie hat die Gruppe Nina Mayu eingeladen, sich künftig in ihrem Zentrum zu treffen. Das befreit Archi und Noemi von der Last, Geld für die Miete besorgen zu müssen. Doch für zumindest eine der alten Damen, die heute etwas später dazu kommen und sich nicht auf einen der bereitstehenden Stühle, sondern wie immer auf einen Hocker am Rand des Raumes setzen, wird das zu weit und beschwerlich sein. Aber Archi ist sich sicher, dass die Verbindung bestehen bleibt und dass sie auch alleine weiter weben und Kartoffeln anbauen werden.

Die Kartoffeln seien schon vor Alonso de Mendoza (Gründer der spanischen Kolonialsiedlung La Paz) und selbst vor den Quechua und den Aymara hier in der Region verbreitet gewesen, begründet Archi seinen Vorschlag an die Jugendlichen und alten Frauen, ihn am nächsten Tag zu einem Treffen zum „Tag der Erde“ in den Dienstsitz des bolivianischen Vizepräsidenten zu begleiten. „Die Kartoffeln müssten also im Sinne des modernen Rechts mehr Recht auf die Stadt haben als alle anderen. Und wir Indios haben deshalb natürlich auch ein Recht auf diese Stadt und ein Recht darauf, die Stadt mitzuregieren.“ Das sei die politische Seite der Kartoffeln, die man hier am Rande des Talkessels anbaue. Zur Tagung muss Archi schließlich alleine mit seiner Partnerin Noemí gehen. Nach den Reden der Politiker und nachdem ein Aktivist aus dem Pazeñer Vorort Achocalla das Konzept der städtischen Ökogärten vorgestellt hat, spricht Archi. Schon den von seinem Vorredner verwendeten Begriff der Ökologie weist er zurück. Schließlich stamme der aus dem Europa des 19. Jahrhunderts von Häckel, einem Darwinisten, und sei später mit dem Rassismus der Nazis verknüpft gewesen. Gleichwohl wünscht sich auch Archi einen Kurswechsel in der Agrarpolitik der aktuellen Regierung. Der urbane Ayllu sei ein konkreter Beitrag zum Guten Leben und den Rechten der Mutter Erde, die die Regierung propagiert. Im Ayllu gehe es aber nicht nur um den Verzicht auf Agrargifte oder Techniken zur Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit. Alles sei eingebunden in die Gemeinschaft, in die andine Kultur und Ritualität. In der Hinsicht sei hier zu wenig geschehen.

Angesprochen auf die wieder zunehmenden, zum Teil gewalttätigen politischen Konflikte in Bolivien, bei der organisierte Gruppen der Aymara eine wichtige Rolle spielen, antwortet Archi, dass beides zum Überleben der indigenen Kulturen beigetragen habe: die Kämpfe und der Widerstand gegen Unterdrückung und Diskriminierung, aber eben auch die Sorge um das Leben und die Freude daran. „Wenn man nur auf Unterdrückung und Diskriminierung achtet, wird man sie auch finden. Doch ohne den Blick auf die Regeneration des Lebens läufst du Gefahr, in einer Ideologisierung stecken zu bleiben. Zu glauben, deine Pflicht sei, die Revolution voranzubringen, aber ohne Kartoffeln zu säen, ohne Musik zu spielen, ohne zu feiern, ohne das 'Gute Leben' – das hätte für mich keinen Sinn mehr.“