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Der Riese ist erwacht

Peru: Aufstand der südlichen Anden

„Diese Demokratie ist keine Demokratie mehr. Dina, du bist eine Mörderin, die Bevölkerung Perus lehnt dich ab. Tritt zurück. Wie viele Tote willst du noch?“, riefen Demonstrierende Ende Januar. Mehr als 52 Getötete waren es da schon, fast alle von Militär- und Polizeikugeln getroffen bei Protestaktionen gegen Dina Boluarte, seit 7. Dezember 2022 Interimspräsidentin Perus. Fast alle starben außerhalb Limas, wo die mehrheitlich indigene Bevölkerung es unternimmt, das Land lahmzulegen. Ihre Forderungen: der Rücktritt Boluartes, eine neue Verfassung, Neuwahlen sofort. Der Kongress weigert sich, die Rechte schlägt wörtlich zurück.

Andreas Baumgart

Am 7. Dezember 2022 scheiterte ein Putschversuch des peruanischen Präsidenten Castillo. Er hatte die Bildung einer Ausnahmeregierung angekündigt, die mit Präsidialdekreten regieren würde. Der Kongress sollte temporär aufgelöst, das gesamte Justizsystem, einschließlich des Obersten Gerichtshofs und der Generalstaatsanwaltschaft, reorganisiert werden. Der nahezu im Alleingang ausgeheckte Putschversuch so dilettantisch ausgeführt wie die bisherige Regierungstätigkeit, endete 180 Minuten später für Castillo und dessen Premier Aníbal Torres vor der Generalstaatsanwältin auf einer Polizeiwache. Inzwischen befindet sich Castillo in Untersuchungshaft. Seine Frau und Kinder sind inzwischen nach Mexiko ausgereist. Schon wenige Minuten nach Castillos Ankündigungen traten seine Minister*innen und andere Amtsträger zurück.

Castillos Putschversuch kam überraschend, da kaum jemand mit einer Kongressmehrheit für dessen Absetzung gerechnet hatte. Hierfür hätten die im Vorfeld errechneten Stimmen nicht ausgereicht. Zudem war Castillo ein Bündnis mit Teilen der Opposition eingegangen, hatte Minister*innen aus deren Reihen ernannt und zahlreiche gesetzgeberische Zugeständnisse gemacht.

Doch es gibt viele starke Motive für seine Kurzschlussreaktion, von den ständigen rassistischen Angriffen über die Obstruktionspolitik der reaktionären Kongressmehrheit bis zu seiner mutmaßlichen Verwicklung in zahlreiche Korruptionsfälle. Seine Anhänger*innen verbreiten, er habe einem parlamentarischen Putsch zuvorkommen und sein Programm des Wandels retten wollen. Castillo lieferte mit seiner Aktion der konservativen bis rechtsradikalen Opposition eine Steilvorlage für seine Absetzung, die dann auch mit 101 Ja-Stimmen, sechs Gegenstimmen und zehn Enthaltungen erfolgte. Die reaktionären Kräfte triumphierten und sahen sich am Ziel ihrer Bemühungen angelangt, Castillo und sein andines Umfeld endlich aus dem Palast zu verbannen.

Nach der Abstimmung wurde die bisherige, 2021gewählte Vizepräsidentin und Ministerin für Entwicklung und soziale Inklusion, Dina Boluarte, als neue Präsidentin vereidigt. Sie hatte gemeinsam mit Castillo auf der Liste von Perú Libre kandidiert. Sie selbst ordnet sich als gemäßigte Linke ein, den Provinzen verbunden, was angesichts der aktuellen Ereignisse verwundert. Wie Castillo stammt sie aus einer Andenregion, spricht im Gegensatz zu ihm auch Quechua und wendet sich häufig in dieser Sprache an ihre „Brüder und Schwestern“. Die Absetzung des Präsidenten durch den Kongress und Boluartes Amtsübernahme erfolgten verfassungskonform. Es hat weder einen parlamentarischen Putsch noch eine Usurpation des Amtes durch Boluarte gegeben. Dies lässt sich vielleicht vom Standunkt der politischen Moral – angesichts der ungleichen Machtverhältnisse und der Bedingungen, mit denen jede linke oder linkspopulistische Regierung konfrontiert wird – anders beurteilen.

Zunächst kündigte Boluarte in ihrer Antrittsrede die Weiterführung der Legislaturperiode bis 2026 an, mutmaßlich als Preis für die Unterstützung ihres neuen Kabinetts durch die rechte Opposition. Diese Ankündigung löste die ersten großen spontanen Protestaktionen in den südlichen Andenregionen aus. Die zentralen Forderungen lauten: „Rücktritt Dina Boluartes“, „Alle sollen gehen“, „Allgemeine Neuwahlen sofort“ und „Referendum für eine Verfassunggebende Versammlung“. Die anfängliche Forderung nach der Freilassung Castillos ist inzwischen kaum noch zu hören.

Seit der Ausrufung des Notstands am 14. Dezember kommt auch die Armee zum Einsatz. Der Schwerpunkt der Proteste lag und liegt in einigen Regionen der südlichen Anden: Ayacucho, Puno, Juliaca, Arequipa und Cusco. Militärs und Sondereinheiten der Polizei gehen dort besonders rücksichtslos gegen die Demonstrierenden vor.

Aus Furcht vor einem allgemeinen Aufstand änderte Boluarte ihren Kurs und beantragte im Kongress vorgezogene Neuwahlen für 2023. Die erfolgte Ablehnung verschärfte die Krise. Als sich die Proteste ausweiteten, wurde erneut über vorgezogene Wahlen abgestimmt. Diesmal wurde der Durchführung von Wahlen Anfang 2024 zugestimmt.

Dieser Termin wurde von der Protestbewegung als provokative Verzögerungstaktik empfunden und fachte zusammen mit der täglich steigenden Zahl von Toten, Verhafteten und Verletzten die Wut und Enttäuschung weiter an. Die Mobilisierung weitete sich auf die Hauptstadt Lima und den Norden Perus aus. Seither kommt das Land nicht mehr zur Ruhe. Die Proteste reichen von mehrheitlich friedlichen, kreativen Demonstrationen, regionalen Generalstreiks und Straßenblockaden bis hin zu gelegentlichem Vandalismus und gezielten Brandanschlägen, hinter denen Provokateure, Drogenmafia und Akteure aus dem illegalen Rohstoffabbau vermutet werden. Mehrfach wurde versucht, die Flughäfen von Cuzco, Arequipa und Juliaca zu besetzen. Am 20. Januar meldeten die Behörden 127 Straßenpunkte mit eingeschränktem Verkehr und 26 vollständig blockierte Überlandstraßen in 18 Regionen des Landes.

Armee und Polizei gehen rücksichtslos dagegen vor. Durch den häufigen Einsatz von scharfer Munition und Schrot sind bis heute 65 Personen getötet worden, teilweise gezielt erschossen. An die 1000 Verwundete werden inzwischen gemeldet, die Zahlen steigen täglich. Ein Polizist verbrannte in seinem Einsatzfahrzeug. Auffällig ist eine historische Konstante: Je weiter weg von Lima und den Küstenstädten, desto höher der Blutzoll, den die Protestierenden zu zahlen haben. Seit Fujimoris Diktatur hat man solch eine flächendeckende Repression nicht mehr erlebt.
Vertreter*innen der Regionen, Interessenverbände, Bauern­orga­nisationen, Rondas Campesinas sowie Land- und Stadt­gemeinden kündigten als Reaktion die „Einnahme Limas“ mit dem „zweiten Marsch der ‚Cuatro Suyos“ (Marsch der vier Himmelsrichtungen) zum 19. Januar an. Sie wollten sich vor dem Parlament und dem Regierungspalast Gehör verschaffen. Geld und Lebensmittel wurden gesammelt, Busse und Fahrzeuge jeglicher Art bereitgestellt. Tausende von Menschen aus dem Süden machten sich auf die lange Reise. Die solidarische Unterstützung der lokalen Bevölkerung vereitelte alle Versuche der Armee und Polizei, sie aufzuhalten. Ebenso solidarisch hatte der Gewerkschaftsdachverband CGTP zum Generalstreik in Lima aufgerufen. Der Streik selbst wurde nur mäßig befolgt, die Protestmärsche wuchsen jedoch von Tag zu Tag. Mit dem massiven Einsatz von Tränengas, Gummigeschossen und Schrot zielte die Polizei teilweise erfolgreich auf die frühzeitige Auflösung. Allein in Lima sollen 11 000 Polizeikräfte im Einsatz sein. An den darauffolgenden Tagen trafen immer mehr Delegationen ein, denen sich zivilgesellschaftliche Organisationen, Gewerkschaften, Lehrer*innen und Studierende anschlossen.

Große Empörung ausgelöst hat die repressive Haltung von Jerí Ramón, Rektorin der renommierten staatlichen Universidad Nacional Mayor de San Marcos (ein multikultureller Studienort, der seit seiner Gründung eine gute Ausbildung für meist aus bescheidenen Verhältnissen stammende junge Menschen gewährleistet). Studierende hatten Teile des Campus besetzt, um Delegierten aus den Anden Obdach und Versorgung zu gewähren. Ramón forderte die Polizei zur Räumung des Geländes auf. Ein Großaufgebot von Polizeikräften stürmte das Gelände, vorneweg ein gepanzertes Fahrzeug, das ein verbarrikadiertes Tor einriss. Die Gäste aus den Anden und zahlreiche Studierende wurden mit äußerster Brutalität festgenommen. Polizisten drangen in Zimmer des Studentenwohnheims ein, konfiszierten mobile Geräte und suchten den Studierenden zufolge nach Buchtiteln von Marx, Stalin, Lenin etc. Gezielt wurde nach Menschen mit „andinen“, „indigenen“ Merkmalen gesucht, als handle es sich bei Peru um einen Apartheidsstaat. Die Verhafteten, darunter betagte Menschen und eine Mutter mit Kind, wurden in Kommissariate verfrachtet. Auf den Kommissariaten mussten sich Frauen vollständig entkleiden und wurden im Intimbereich durchsucht, angeblich nach Drogen und Waffen. Der gesamte Einsatz fand ohne Anwesenheit von Staatsanwaltschaft, Anwält*innen oder Vertreter*innen von Menschenrechtsorganisationen statt.

Ein inzwischen identifizierter Unteroffizier namens Ricardo Quiñe Rosas kommentierte begeistert seinen Einsatz in den sozialen Medien: „Mission erfüllt! All diese Terroristen verhaftet. Wir haben San Marcos gesprengt!“ (nachzulesen in La República vom 25. Januar).

Ganz anders der Rektor der privaten Universidad Nacional de Ingeniería (UNI), Pablo Alfonso López Chau. Er gewährte Delegationen von Studierenden und Lehrkräften Obdach und begründete dies mit dem gesetzlich festgelegten demokratischen, multikulturellen und solidarischen Auftrag der Universitäten. Entsetzt musste er feststellen, dass die Repressionskräfte in Eigeninitiative das Gelände der UNI mit Panzerwagen umstellten. Durch seine Intervention bei höchsten Regierungskreisen konnte der geplante Angriff verhindert werden. Inzwischen wurde er wegen seiner Unterstützung der Protestierenden vor den Kongress zitiert.

Präsidentin Boluarte sendet widersprüchliche Signale. Ihre Ansprachen sind konfus, sie wirkt oftmals getrieben. Offensichtlich haben Kabinettspräsident Otárola und einige Minister aus dem Fujimori-Lager in Zusammenspiel mit dem rechtsradikalen Parlamentspräsidenten Williams das Heft in der Hand. Boluarte, die keinen Rückhalt bei den linken Fraktionen hat, regiert nun mit der Rechten und betont, dass die Durchführung vorgezogener Wahlen in der Hand des Kongresses liege. Sie werde keinesfalls zurücktreten. Die Abhaltung eines Referendums über die Einrichtung einer Verfassunggebenden Versammlung lehnt sie pikanterweise strikt ab. Sie selbst wurde mit dieser Forderung von Castillo und Perú Libre 2021 zur Vizepräsidentin gewählt.

Einerseits bietet sie Verhandlungen über die „legitimen“ Interessen der Protestierenden an, im selben Atemzug erklärt sie diese für einen Vorwand, der Vandalismus und Terrorismus rechtfertige. Boluarte betont, sie habe den Einsatz von Schusswaffen untersagt, stellt sich aber hinter Militär und Polizei, denen sie „untadeliges“ Vorgehen bescheinigt. Auch sie hat sich die in den Monopolmedien verbreitete Erzählung zu eigen gemacht, der Protest sei durch Terroristen von Sendero Luminoso, Movadef, Drogenmafia und nicht zuletzt durch sezessionistische politische Kräfte gelenkt, die im Bündnis mit dem ehemaligen Präsidenten Boliviens Evo Morales würden. Letzterer wolle im Rahmen seines RUNASUR-Projekts (R steht für die Erneuerung der UNASUR-Allianz – die Red.) den Süden des Landes Peru abspalten, um einen plurinationalen Staat zu schaffen. Gegen ihn wurde ein Einreiseverbot verhängt. Der „terruqueo“-Diskurs1 wird wieder so sehr bemüht wie unter der Fujimori-Diktatur und „legitimiert“ die Repression.
Eine Delegation der Interamerikanischen Menschenrechts­organisation befindet sich in Lima, um mit Regierung und Vertreter*innen der Protestbewegung zu sprechen. Die UNO, das Europäische Parlament und viele Menschenrechts­organisationen fordern die Regierung zur Mäßigung und Einhaltung der gültigen Standards ein. Die Präsidenten Argentiniens, Boliviens, Chiles, Kolum­biens, Mexikos und Honduras‘ haben die Einhaltung der Menschenrechte angemahnt; einige von ihnen zweifeln die Recht­­mäßigkeit von Boluartes Regierung an, was handfeste diplomatische Konflikte hervorgerufen hat. Inzwischen wurde zweimal vergeblich über vorgezogene Wahlen für 2023 abgestimmt. Weitere Abstimmungen werden folgen.

Hinter dem Aufstand des andinen Südens und den genannten Minimalforderungen verbergen sich weder linke parteipolitische Bewegungen noch marxistisch-leninistische oder gar terroristische Gruppierungen. Vielmehr kommen darin Wut und Frust über die rassistische Diskriminierung und fortgesetzte Ausgrenzung aus der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck. Castillo verkörperte die Hoffnung auf gesichertes privates wie gemeinschaftliches Eigentum und geschützte Gebiete in den Anden und Amazonasgebieten; einen besseren Marktzugang für die kleinbäuerliche Landwirtschaft und handwerkliche Produktion; einen verlässlichen, nicht korrupten Staat, der die Entwicklung der Regionen fördert und der Bevölkerung dient, statt sie zu diskriminieren und zu demütigen; Einschränkung der Importe ausländischer Produkte, die zur Zerstörung der einheimischen Landwirtschaft führen; erschwingliche Gesundheitsversorgung und Bildung; Anerkennung der multikulturellen Zusammensetzung der Gesellschaft und der indigenen Sprachen; echte Entscheidungsbefugnisse für die vielfältigen existierenden und neu gegründeten kollektiven Organisationen und nicht zuletzt die Einschränkung der Macht der großen Kapitalgruppen, die mit exzessivem Rohstoffabbau Umwelt und Gesundheit der Menschen gefährden. Auffällig ist die Übereinstimmung mit den konservativen, militant religiösen und reaktionären Teilen der Bewohnerschaft in den Küstenstädten im Hinblick auf individuelle Selbstbestimmung und moderne lebensweltliche Entwürfe. Auf dieser gemeinsamen ideologischen Grundlage kommen die erstaunlichsten politischen Schulterschlüsse zustande, die der gesellschaftlichen Emanzipation im Wege stehen.
Zwar ist das politische Projekt eines „andinen Populismus“ von Castillo und Perú Libre gescheitert, aber „der Riese“ ist endgültig erwacht. Die Proteste werden abebben, wenn die Wahlen vor der Tür stehen und sich die Parteien von rechts bis links wieder auf die Suche nach Kandidat*innen und Wähler*innen begeben. Der allgemein verhasste Politzirkus wird sich kein Jota ändern, aber die Bewohner*innen der Anden und des Tieflands haben deutlich an Selbstbewusstsein gewonnen und sich eigene Strukturen geschaffen. Dies wissen auch viele der bisher Privilegierten, die vor lauter Rassismus und Kommunistenangst nicht in der Lage sind, die tatsächlichen Ziele der Protestbewegung und die damit verbundenen Chancen für das Land zu erkennen.

Unterdessen verkündet Cillóniz, ehemaliger Regionalpräsident von Ica und Führungskader von Keiko Fujimoris „Fuerza Popular“, man müsse im Kampf gegen die „Vandalen und Verbrecher“ Abstand vom heuchlerischen Humanismus nehmen. Armee und Polizei seien unverzichtbar, um die Ordnung wieder herzustellen. Sollten diese Stimmen in Lima die Oberhand behalten und nicht auf die andine Gesellschaft zugehen, um zumindest einige der zentralen Forderungen erfüllen, ist ein baldiger Bürgerkrieg nicht mehr auszuschließen.

  • 1. Umgangssprachlicher Begriff, der von peruanischen Politiker*innen verwendet wird, um linksgerichtete Personen zu bezeichnen, die sich an angeblich terroristischen Aktivitäten beteiligen.