ila

Prekäre Männlichkeit

Venezolanische Migranten in Ecuador

Venezuela ist kein Land mit langer Auswanderungsgeschichte. Das Öl floss in Strömen, die Wirtschaft boomte – kein Grund zu gehen. Das hat sich seit dem Einbruch der Rohölpreise 2015 drastisch verändert. Das Land steckt in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise. Laut Vereinten Nationen haben über sieben Millionen Menschen inzwischen das Land verlassen, 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. Dort, wo sie ankommen, werden sie selten mit offenen Armen empfangen. Auch nicht in Ecuador, das selbst gerade keine wirtschaftlichen Glanzzeiten erlebt. Rassismus und Ausbeutung sind an der Tagesordnung, vielerorts wird den venezolanischen Migrant*innen nicht annähernd der Mindestlohn gezahlt. Das hat auch Auswirkungen auf die Geschlechterbeziehungen, denn Männlichkeit hängt klassischerweise davon ab, inwiefern ein Mann in der Lage ist, für die Familie zu sorgen.

Eduardo Llumipanta

„Es ist hart“, sagt einer der sieben Venezolaner. In Ecuador anzukommen ist anders gewesen, als sie es sich vorgestellt hatten. Einen Job zu finden, das generelle Zusammenleben – es ist schwierig, in einem Land zu sein, wo Migration oft mit Kriminalität und Konkurrenz um Arbeitsplätze in Verbindung gebracht wird. Sie erleben die Fremdenfeindlichkeit, mit der in Ecuador schon immer lateinamerikanischen Migrant*innen begegnet wurde, seien sie aus Kuba, Kolumbien, Haiti oder jetzt eben aus Venezuela.

Seit 2015 kommen mehr und mehr venezolanische Migrant*innen nach Ecuador. Während sich die meisten lateinamerikanischen Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte eher in Richtung der kapitalistischen Zentren orientierten, Europa und USA, zielt die venezolanische Migration auf die Länder der Region. Laut den Vereinten Nationen migrierten bis 2020 5,5 Millionen Venezolaner*innen in andere lateinamerikanische Länder – eine massive Migrationsbewegung, die in der Region ihresgleichen sucht. Ecuador zählt zu den Hauptzielländern. Man schätzt, dass 443000 Venezolaner*innen hier angekommen sind. Die größte venezolanische Migrationsbewegung gab es laut ecuadorianischem Außenministerium 2017/18. Zu Hochzeiten 2018 überquerten bis zu 5000 Menschen täglich die Grenze nach Ecuador. Seit 2020 schränkt Ecuador das Recht auf Freizügigkeit zunehmend ein, was aber nicht dazu geführt hat, dass de facto weniger Menschen ins Land kämen.

Zu den Angekommenen zählen sieben Venezolaner, mit denen wir über ihre Reise, ihre Hoffnungen und Lebensumstände gesprochen haben. Sie alle flohen vor einer sozialen und wirtschaftlichen Krise, die der venezolanische Staat bis heute nicht in den Griff bekommen hat. Die Suche nach besserer Lebensqualität ist die Hauptmotivation dieser Männer. Eine dollarisierte Wirtschaft ist attraktiv, wenn man einen Mindestlohn von 1800 Bolívares, umgerechnet 7,50 Dollar, gewöhnt ist. Auch gut ausgebildete Leute können in Venezuela kaum überleben, und Migration ist historisch mit Vorstellungen von Fortschritt und besseren Lebensbedingungen verknüpft. Für die Männer, mit denen wir gesprochen haben, bedeutet die Entscheidung zu migrieren große Verantwortung, die sie zwischen Freude und Angst schwanken lässt. Alle erleben die Unsicherheit, Arbeit, Arbeitslosigkeit und Illegalität auf unterschiedliche Weise, aber sie teilen alle das Gefühl von Frustration und Ernüchterung. Dabei ist es für sie nicht einfach, ihre Gefühle wahrzunehmen, denn traditionellerweise wird Männern das verboten oder abtrainiert.

Die meisten dieser Männer kamen zwischen 2016 und 2019 ins Land, und das ist nicht unwichtig, denn Ecuador trat lange für liberale Migrationspolitiken und Visafreiheit ein, weil aus dem Land selbst so viele Menschen ins Ausland migriert sind. Bis 2015 gab es Sozialprogramme, die Migrant*innen den Einstieg auf dem Arbeitsmarkt erleichterten und bei Wohnungssuche und Visumsanträgen unterstützten. Seit dem Ende des Ölbooms 2015 aber durchläuft Ecuador eine wirtschaftliche Rezession, die die Arbeitsmöglichkeiten für lokale und migrierte Arbeiter*innen deutlich einschränkt. In diesem Zuge änderte sich auch die Migrationspolitik, was dazu führte, dass Migrant*innen sich nun in einer prekäreren Situation wiederfinden.

All die Männer, mit denen wir gesprochen haben, sind gut ausgebildet, sie waren in Venezuela Erdölingenieure, Soldaten, Mechaniker und Elektriker. Die Hoffnung, ihre Fähigkeiten in Ecuador einsetzen zu können, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, zerschlug sich schnell. Keiner von ihnen fand einen festen Job, mit dem er sich und seine Familie hätten ernähren können. So werden sie zu immer prekäreren Tätigkeiten gedrängt, wie einer der Männer erzählt. Als er angekommen war, fand er einen Job in einem Restaurant: „Ich musste bis acht Uhr abends arbeiten, und der Chef wollte mir dafür einen Dollar geben und für jeden weiteren 12-Stunden-Tag fünf Dollar“. Er habe dankend abgelehnt, worauf der Restaurantbesitzer ihm fünf Dollar gab und meinte: „Bei mir machen die Venezolaner ein Vermögen, ich bezahle 150 Dollar im Monat“. Schon allein die Miete für eine kleine Wohnung kostet in Ecuador über hundert Dollar. „Also kaufte ich ein Paket Wasserflaschen und verkaufte sie auf der Straße weiter. Ich hatte ja nur die fünf Dollar aus dem Restaurant – die habe ich in Wasser investiert“, berichtete der Venezolaner. Die Menschen fangen nicht an, auf der Straße zu arbeiten, ohne vorher alles genau durchzurechnen und die sozialen und politischen Faktoren zu analysieren. Migrantische Communities – und nicht nur die venezolanische – sehen in der informellen Arbeit eine Möglichkeit, sich den Lebensunterhalt zu verdienen, und so entstehen ganze „Kulturen der Informalität“. Die Männer sind froh, dass sie arbeiten können, aber sie leben auch in der ständigen Angst, ihre Ware könnte von der Polizei konfisziert werden. Von den einheimischen informell Arbeitenden werden sie außerdem oft als Konkurrenz gesehen und schlecht behandelt. Zusammen mit der Vorstellung von Unsicherheit und den Maßnahmen der lokalen Behörden, um Diebstahl und Raub zu verhindern, ist in der ecuadorianischen Bevölkerung das stigmatisierende Bild entstanden, venezolanische Migrant*innen seien kriminell.

Die Unmöglichkeit, einen sicheren Job mit ausreichender Bezahlung zu finden, führt dazu, dass sich die Männer „frustriert“ und „aufgewühlt“ fühlen. Im Gespräch erwähnen sie immer wieder Ablehnung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, unfaire Bezahlung und Missbrauch. Arbeit bedeutet für sie nicht nur Überlebenssicherung, sondern auch die Bestätigung ihrer männlichen Identität. Die immer magereren Jobs erschüttern ihre Zufriedenheit und die Selbstbestätigung, die sie normalerweise durch Arbeit erfahren. Als informelle Verkäufer erleben sie „Angst, Anspannung und Sorge“, dass sie nicht in der Lage sein könnten, für sich und ihre Familien zu sorgen, also zu erfüllen, was von ihnen als Männer erwartet wird. Der Lohn, den sie mit der Arbeit verdienen, wird zum Aushandlungsfeld, ob sie fähig sind, die familiären Bedürfnisse zu befriedigen. Dazu kommt, vor der Partnerin die Ehre bewahren zu wollen und die Verantwortung gegenüber den Kindern wahrnehmen zu wollen, sie im physischen Sinne zu beschützen. Ihnen soll nichts zum Leben fehlen. Männlichkeit und Machtbeziehungen existieren also nicht aus sich selbst heraus, sondern immer in Bezug auf Dritte. Die Identität dieser Männer wird nicht nur vom Männlichkeitskanon des Versorgens und Beschützens geprägt, sondern auch von Arbeitslosigkeit und Rassismus. Diese Verhältnisse wirken auf zwischenmenschliche und Geschlechterbeziehungen.

Indem Geschlechterverhältnisse mit anderen strukturellen Bedingungen interagieren, entstehen neue Beziehungen. Eine davon ist die hierarchische Beziehung zwischen Männlichkeiten der oberen und der unterdrückten Klassen. Die Diskriminierung, die die Migranten erleben, ist eine Klassenunterdrückung, aber eben auch eine Geschlechterunterdrückung innerhalb von Männlichkeiten. Ihre Identität wird davon geprägt, welcher Platz der migrantischen Arbeitskraft innerhalb des modernen Kapitalismus zugewiesen wird. Ihre Marginalisierung ist aber relativ, denn auch wenn sie unterschiedlich privilegierte Formen von Männlichkeit leben, genießen sie doch alle die Vorteile der hegemonialen Autorität. Soll heißen: Die gemeinsame Unterdrückung der Frauen verschafft ihnen Vorteile. Auch wenn die Männer, mit denen wir gesprochen haben, ihre Partnerinnen respektieren, keine Gewalt ausüben und sogar Haushaltstätigkeiten übernehmen, sind sie doch der Überzeugung, Frauen seien einfach geeigneter dafür, Kinder zu versorgen und den Haushalt zu erledigen.

Die ständige Verletzlichkeit, die sie am Arbeitsmarkt erleben, erdrückt die Männer und ihre Familien. Um sich über Wasser zu halten, entwickeln sie alle möglichen Strategien der Produktion und Reproduktion. Die Rollen können sich darin völlig auflösen, Definitionen und Konzepte sind immer relativ. Um das Einkommen zu sichern, übertreten sie auch die Grenzen der klassischen Geschlechterrollen. Der Identitätskonflikt bleibt. Zu merken, dass sie im männlich-kapitalistischen System den Kürzeren ziehen, löst ständige innere Krisen aus, die zu Frust und Erschöpfung führen. Sie spüren den Wunsch, in ihr Heimatland zurückzukehren, wo sie sich immerhin selbstbewusster fühlen konnten. In den Umständen, in denen sie heute leben, ist es fast unmöglich, durch ihre Arbeit ein Gefühl von Ehre oder Kontrolle herzustellen.

Männlichkeit wird in der Regel auf der persönlichen Ebene hinterfragt anstatt in der Geschichte der Produktionsbedingungen. Die Geschichten dieser Migranten zeigen uns jedoch, dass wir überdenken müssen, ob wirklich die Männlichkeit an sich ein Problem für Geschlechterbeziehungen darstellt, oder ob es nicht viel eher die kapitalistischen Institutionen sind, die ihre Macht und Gewalt durch Männlichkeit rechtfertigen. Nehmen wir ihre Geschichten als Beispiel, um darüber nachzudenken, wie die verschiedenen Elemente des Kapitalismus mit Machtausübung zusammenhängen und Männlichkeiten und Geschlechterbeziehungen hervorbringen.

Übersetzung: Mirjana Jandik