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Keine Checkliste für den „neuen Mann“

Interview mit Jimmy Tellería zur Überwindung patriarchaler Rollenmuster in Bolivien

Als Jimmy Tellería neun Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. Sechs Jahre später brach sein Vater den Kontakt zur Familie ganz ab, die fortan komplett auf den Verdienst der Mutter angewiesen war. Als sich die Lehrerin auf einen Führungsposten bewarb, musste sie feststellen, dass bei der Besetzung der Stelle Männerfreundschaften wichtiger als Qualifikationen waren. Daran erinnerte sich der Anthropologe, als die Engländerin Susana Rance, die damals in der Planungsabteilung für Bevölkerungspolitik der bolivianischen Regierung arbeitete, vor über drei Jahrzehnten den Anstoß gab, beim CISTAC (Zentrum für Sozialforschung, angemessene Technologie und Fortbildung), das Tellería heute leitet, zum Thema Männlichkeiten zu arbeiten.

Peter Strack

Wie ist CISTAC zu DER Institution in Bolivien geworden, die heute fast ausschließlich zum Thema Männlichkeiten arbeitet?

Da es anfangs noch kein Internet und kaum Literatur zum Thema gab, begannen wir vor allem mit Selbstreflexion unter Männern, die in Entwicklungs- und feministischen Nichtregierungsorganisationen arbeiteten. Dabei wurde klar, dass wir nie von uns selbst gesprochen hatten. Vielmehr bestand für uns unsere dominante, männliche Rolle darin, die Probleme anderer lösen zu helfen.

Was hat sich seit damals verändert?

Einerseits kümmern sich heute viel mehr Organisationen um das Thema. Dazu hat CISTAC seit zwölf Jahren mit Fortbildungen von Multiplikator*innen selbst beigetragen. Bei den internationalen Geldgebern ist es ein angesagtes Thema. Manche glauben allerdings, dass es mit ein paar Workshops getan ist. Sie verstehen nicht, dass langfristige Prozesse nötig sind. Organisationen, die sich bislang um den Kartoffelanbau gekümmert haben, fügen heute noch eine Genderkomponente ein und beantragen damit Mittel für die Arbeit zu Männerrollen. Zum anderen ist die Entpatriarchalisierung heute Verfassungsauftrag und offizielle Regierungspolitik. Was tatsächlich am Ende dieses offiziellen Jahres der Entpatriarchalisierung herausgekommen sein wird, werden wir sehen. Aber zumindest gibt es einen rechtlichen Rahmen und staatliche Mittel von örtlichen Genderprogrammen.

Außerdem hat sich das Themenfeld gegenüber 1991 erweitert. Heute wird nicht nur von Vasektomie, also der Sterilisation des Mannes, oder von Geschlechtskrankheiten gesprochen, sondern von männlicher Sexualität, von Familienformen und Vaterschaft. Vor allem gibt es heute eine stärkere politische Perspektive. Es reicht nicht mehr, ein „guter“ Mann zu sein. Wir müssen Einfluss auf die Schulen und die Politik nehmen. Und im Hinblick auf die genderbasierte Gewalt gegen Frauen wird die Arbeit mit gewalttätigen Männern nichts nutzen, wenn die Justiz nicht funktioniert.

Wie reformiert man die Justiz im Hinblick auf die Arbeit zu Männlichkeiten?

Wir arbeiten nicht mit der Subjektivität einzelner Männer. Wir versuchen, zusammen mit Männern und Frauen ein patriarchales Denk- und Wertesystem zu verändern, das historisch stets das Männliche bevorzugt hat. Schließlich arbeiten in der Staatsanwaltschaft nicht nur Männer mit machistischen Vorstellungen. Die Institution selbst führt dazu, dass die dort arbeitenden Personen ein Gewaltopfer fragen, was sie denn getan habe, dass der Mann sie geschlagen hat.

Auf eurem jüngsten lateinamerikanischen Treffen zu Männlichkeiten in Cochabamba waren viele Frauen.

Etwa ein Drittel. Wenn wir ihre Teilnahme nicht begrenzt hätten, wären es noch mehr gewesen. Sie haben natürlich ein größeres Interesse an der Veränderung des patriarchalen Systems als die Männer, die davon profitieren und die Schäden an ihren eigenen Körpern zunächst nicht wahrnehmen. Damit sie zu solch einem Treffen kommen, müssen sie erst eine Krise erleben. Zum Beispiel das Altern oder die Schwierigkeit, traditionelle Rollenmuster nicht mehr erfüllen zu können, familiäre Konflikte, Gewalt oder Einsamkeit, wenn sie verlassen wurden.

Wäre die Arbeit gegen patriarchale Rollenmuster attraktiver für Männer, wenn sie nicht so stark mit genderbasierter Gewalt assoziiert würde?

Dass unsere Kursteilnehmer als potenzielle Gewalttäter gesehen werden, ist das eine. Viele Männer glauben auch, dass die Workshops sie zu Homosexuellen machen wollen. Als wir mit der Arbeit begannen, gab es noch nicht so viele Widerstände. Aber seit etwa zehn Jahren haben Projekte mit Männern zu Gewaltprävention stark zugenommen. Seitdem wird die Arbeit mit Männern zu ihrem Rollenverständnis mit der Therapie von Gewalttätern gleichgesetzt.

Wenn man nur auf Gewalt fokussiert, schafft man Widerstände. Gewalt ist aber gleichzeitig eng verbunden mit anderen Themen, etwa der Selbstsorge und der Sorgearbeit, die wiederum mit dem Thema Familie, Vater- oder Partnerschaft zusammenhängen.

Der uruguayische Psychologe Dario Ibarra erwähnte auf dem Treffen eine Studie, der zufolge die Versorgung von Kleinkindern bei Männern die Produktion eines Hormons verstärkt, das zu einer geringeren Gewalttätigkeit beiträgt.

Wenn es so einfach wäre, könnte man Männern einfach das Hormon verabreichen. Aber die aktive Beteiligung der Väter bei der Versorgung der Kinder trägt ganz offensichtlich auch zu einer besseren psychosozialen Entwicklung der Kinder und langfristig auch dazu bei, dass sie keine Machos oder gar gewalttätig werden.

Ibarra benutzte auf dem Treffen den Begriff der „kohäsiven“ – zusammenhaltenden – Männlichkeiten. Die Bezeichnung „neue Männlichkeiten“ lehnte er ab.

Letzteren Begriff benutzen eher die etwas traditionelleren Projekte. Dario geht es um ganzheitliche, nicht so widersprüchliche Persönlichkeiten. Ich zum Beispiel lasse jeden Abend meinen Tag Revue passieren und überlege, was ich am nächsten Tag besser machen kann. UN-Women benutzt den Begriff „positive Männlichkeiten“. Andere Psycholog*innen und Psychoanalytiker*innen reden von nicht-toxischen Persönlichkeitsmustern. Wir bei CISTAC reden von einer Pluralität diverser Männlichkeiten.

Das kann alles sein, auch toxische und gewalttätige Muster beinhalten.

Für mich gibt es eine hegemoniale, traditionelle, toxische, patriarchale, widersprüchliche Männlichkeit, die alle anderen unsichtbar macht. Dabei hat es in unserem Leben auch positive Vorbilder eines demokratischen, respektvollen Umgangs gegeben. Es geht darum, diese zurückzugewinnen und ihnen in ihrer Vielfalt Geltung zu verschaffen, zumindest solange sie das dominierende patriarchale Modell in Frage stellen. Es ist schon einige Jahre her, dass ich auf einem ökumenischen Frauentreffen war. Dort hieß es, das Vorbild für „neue Männlichkeiten“ sei Jesus Christus. So neu kann dieses Modell also auch nicht sein.

Das klingt ein wenig beliebig.

Hast du Kinder, kümmerst du dich immerzu um sie, zeigst ihnen permanent deine Zuneigung?

Permanent sicher nicht.

Siehst du, aber es mag andere geben, die immer um sie herum sind. Es gibt kein einheitliches Muster für Vaterschaft, wir können keine Checkliste aufstellen, wie viele Stunden jeder Vater mit seinem Kind zu verbringen hat. Aber es ist wichtig, für sie da zu sein. Das Problem der Vertreter*innen der „neuen Männlichkeiten“ ist, dass sie versuchen, eine solche Check-Liste für den „neuen Mann“ zu erstellen.

Auf dem Treffen war von der Notwendigkeit die Rede, aus der Perspektive des Südens neue Parameter zu entwickeln.

In Lateinamerika ist derzeit viel von Dekolonialisierung die Rede. Gleichzeitig liegen die Konzentration der wirtschaftlichen und politischen Macht sowie die Zerstörung des Planeten vor allem in den Händen von Männern. Wer brennt die Amazonaswälder ab? Männer. Und selbst dort, wo Frauen die Macht haben, folgen sie häufig patriarchalen Mustern. Mit Dekolonialisierung soll versucht werden, die Vielfalt lokalen Denkens und Fühlens zu stärken. Da kommen die indigenen Kulturen ins Spiel. Unser Problem ist, dass die meisten Theorien zu Männlichkeiten angelsächsischen Ursprungs sind. Wie teilen wir aktuell die Welt auf? Binär in Männer und Frauen. Die Aymara tun das allerdings auch. Und es ist nicht so einfach, kulturelle Elemente aus der vorspanischen Zeit zu erkennen oder zurückzugewinnen.

Es heißt, es gebe eine höhere Akzeptanz in der Aymara-Kultur für Homosexualität oder Transmenschen.

Man weiß es zwar, aber man redet nicht davon. In einem Dorf in Potosí habe ich einmal gefragt, ob es dort Homosexuelle gebe. Die Antwort war Nein. Das sei ein „Problem“ der Stadt Cochabamba. Einer meldete sich dann aber doch zu Wort und forderte, die Anwesenden sollten die Wahrheit sagen. Ob sie sich nicht an Juanita, eine homosexuelle Transfrau erinnerten, und dass sich beim Fest betrunkene Männer in ihrem Haus die Türklinke in die Hand gegeben hätten.

Es gibt in Bolivien aber auch matrilineare Kulturen wie die Ayoréode im Tiefland.

Mit den Ayoréode fangen wir gerade erst an zu arbeiten. Aber sie haben ihre Kultur auch nicht in Reinform erhalten. Trotz der Matrilinearität gibt es bei ihnen viele Paarkonflikte. Alkohol und Gewalt sind ebenso Probleme wie die Abwesenheit der Väter oder die Prostitution von Ayoré-Frauen. Von Gleichberechtigung kann keine Rede sein. Im Hinblick auf unsere Begriffe und Konzepte haben wir von den indigenen Dorfgemeinden verschiedentlich die Reaktion bekommen, dass die Welt dort anders aussehe. Allerdings haben vor allem die Jugendlichen auch fast alle ein Handy und leben häufig die Woche über ohnehin in der Stadt. So sind sie stark von der westlichen Kultur geprägt. Die Werte sind noch da, aber das Auftreten hat sich geändert.

Vor neun Jahren führten wir eine Studie durch. Im Tiefland hieß es, man habe früher durch das Jagen eines Tigers gezeigt, dass man ein Mann ist. Heute sei es die Arbeit auf dem Feld eines Landbesitzers. In beiden Fällen ist der Mann der Versorger der Familie.

Es lohnt sich aber sicher, kulturelle Elemente wie das noch stark in der Aymara-Kultur verankerte Prinzip des „Chacha Warmi“ zurückzugewinnen. Da geht es um die Komplementarität von Mann und Frau, die unter das gleiche Joch gespannt sind. Das ist vielleicht nicht einmal vorspanisch. Schließlich war schon das Inka-Reich sehr patriarchal, binär und ungleich organisiert. Die meisten Aufstände im späten Kolonialreich wurden jedoch von Paaren angeführt. Das ist das Prinzip des „Chacha Warmi“. Ob es dabei Gleichberechtigung gab – darüber wissen wir noch zu wenig. Heute sind es meist die Männer, die bei den Versammlungen die Entscheidungen treffen. Als ich einmal fragte, wo die Frauen sind, hieß es: beim Kochen. Die hätten aber bestimmt auch etwas zum Thema zu sagen, bemerkte ich. Aber nichts Wichtiges, antworteten mir die Männer.

Das „Chacha Warmi“ scheint in den Gemeinden unterschiedlich ausgeprägt zu sein, vermutlich stärker in traditionellen Ayllus (Dorfgemeinschaften).

Ich habe einmal im Vertrauen mit einer männlichen Dorfautorität über das Thema geredet. Anfangs sagte er, dass in den traditionellen Ayllus zwar auch formal die Männer entscheiden, die Frauen aber im Hintergrund eine ebenso wichtige Rolle spielen. Ich fragte ihn, ob er tatsächlich zusammen mit seiner Frau die Entscheidungen trifft. Er antwortete mir indirekt, dass es ein Unterschied ist, ob du deine Frau nach ihrer Meinung fragst, oder ihr direkt einen Vorschlag machst. Deshalb ist es sicher richtig, dem Denken und Fühlen der Menschen im Süden Geltung zu verschaffen. Aber sie können auch nicht alleiniger Maßstab sein.

Wir haben einen Multiplikator vom Kollektiv Anjiru, der mit den indigenen Weenhayeks und Guaraní im Chaco zum Thema Männlichkeiten arbeitet. Im Laufe der Zeit haben sie erreicht, dass auch Frauen Häuptlinge (Capitanas) der Gemeinde werden. Bei unserer eigenen Arbeit, vor allem mit Quechua und Aymara, finden wir alle möglichen Positionen – von Widerständen bis zur Offenheit. Vor allem die Jüngeren öffnen sich. 77 Prozent der Teilnehmer unserer Kurse zeigen noch ein halbes Jahr nach Kursende Veränderungen in ihrem Verhalten und den Einstellungen.

Ist das nun Akkulturation an die städtischen, westlichen Vorstellungen? Oder stärkt der Rollenwandel im Gegenteil die traditionellen Familien und Gemeinschaften?

Aus unserer Sicht tragen wir im interkulturellen Dialog zu einer Verbesserung der Lebensqualität bei. Zu keinem Zeitpunkt sagen wir, was sie zu tun haben. Wir fragen vielmehr, wie sie glauben, bessere Väter oder bessere Partner sein zu können. Alle antworten dir: Indem wir uns mehr miteinander verständigen, uns mehr respektieren und unterstützen. Das sind universelle Werte, die in den indigenen Kulturen wichtig sind. Nur wissen sie nicht immer, wie sie das umsetzen können.

Ebenso legen sie Wert darauf, dass alle zu Wort kommen, vor allem auch die Alten. Von denen haben mir einige wiederum gesagt, wie wichtig das Wort der Kinder ist. Und obwohl die Frauen in der Praxis häufig nicht gehört werden, gehört ihre Beteiligung zu den normativen Vorgaben.

Was ist für die Zukunft zu erwarten?

Wir werden mehr Gewalt erleben. Nicht weil unsere Arbeit nichts taugen würde, sondern weil die Menschen in der Gewalt das einzige Mittel sehen, um ihre Interessen zu vertreten. Wir werden mehr Krisen bei Männern erleben, die den Erwartungen des Rollenmodells nicht mehr entsprechen können. Aber wir haben in Lateinamerika auch viele unterschiedliche interessante Ansätze, die es sich lohnt, genauer zu betrachten.

Das Interview führte Peter Strack Ende November 2022 in La Paz.