ila

Verwunderter Brennglasblick

Detailverliebt, selbstkritisch und neugierig: Hilde Domins „Antillengeschichten“
Hans-Ulrich Dillmann

Neugierde hilft. Als die Sprach- und Literaturwissenschaftlerinnen Denise Reimann und Carla Swiderski dem Deutschen Literaturarchiv Marbach einen Besuch abstatteten, stießen sie auf ein unveröffentlichtes Manuskript aus dem Nachlass der Grande Dame der deutschen Lyrik, Hilde Domin. Zwar kannten sie die Prosaschriften der Lyrikerin sowie Domins Roman „Das zweite Paradies“, wie sie im Vorwort schreiben, aber nicht die acht Geschichten, auf die sie bei ihrer Recherche in Manuskriptform stießen und denen Domin den Namen „Antillengeschichten“ gegeben hatte. Diese Geschichten liegen nun in Buchform vor.

Der interessierte Leser und die interessierte Leserin hätten allerdings gerne mehr über die Auffindungsgeschichte gewusst. Waren es einzelne Geschichten oder bereits durchkomponierte aufeinander folgende Geschichten? Stammte der jetzige Titel tatsächlich aus der Feder von Hilde Domin? Und gibt es eine Begründung, warum sie den Erzählband „Antillengeschichten“ nannte? Oder eine kritische Reflexion des Buchtitels mit den acht Erzählungen, von denen, soweit bekannt, nur drei in den späten 1950er- bis 1980er-Jahren in anderen Bänden veröffentlicht wurden. Warum Antillen? Schließlich besteht diese karibische Region aus den Großen und den Kleinen Antillen, die aufgrund ihrer spanischen, französischen, englischen, niederländischen und sogar dänischen Kolonialgeschichte kulturell und sprachlich nicht unterschiedlicher sein könnten, um von Musik, Poesie, Literatur erst gar nicht zu sprechen. Der zwar sperrigere, aber sicher korrektere Titel wäre eigentlich „Dominikanische Geschichten“ gewesen.

Bei der Lektüre durch Landeskundige könnte im Vorwort außerdem aufstoßen, dass es Hilde Domin den Schreiberinnen zufolge „regelmäßig … in den Norden der Insel zieht“, wobei sich Domins Rükzugsorte Jarabacoa und Constanza im Zentrum des Landes befinden, auf der Hochebene der Cordillera Central. Zentraler, nicht nördlicher, geht nimmer. Aber genug der Kritik. Schließlich gebührt den Herausgeberinnen ohne Zweifel die Ehre, ein hervorragendes Werk der im Juli 1909 in Köln geborenen, in Santo Domingo zur Lyrikerin erwachten und im Februar 2006 in Heidelberg verstorbenen Hildegard Dina Löwenstein, verheiratete Palm, mehr als sieben Jahrzehnte später für ein literaturinteressiertes Publikum „ausgegraben“ zu haben. Und dem Jumbo/Goya Verlag gebührt der Respekt, in Zeiten von Einsparungen und allenthalben gähnender Leere in den Kassen den Mut zu haben, dieses Buch von Hilde Domin zu verlegen.

Nach ihrem Studium (unter anderem in Italien, wo Hilde Löwenstein mit ihrem Mann, dem Kunsthistoriker und Altamerikanisten Erwin Walter Palm, von der nationalsozialistischen Machtübernahme überrascht wurde) war das Paar ins Londoner Exil gegangen. Sie verließen England jedoch aus Angst vor einer deutschen Invasion mit einem Visum für die Dominikanische Republik, die ihre Grenze für jüdische Flüchtlinge geöffnet hatte. Damals ließ der rassistische Diktator Rafael Trujillo auch jüdische Flüchtlinge ins Land, wenn sie denn weißhäutig waren. Dieser Umstand war Hilde Palm durchaus bewusst und wurde von ihr in all seinen Widersprüchlichkeiten kritisch reflektiert. Dennoch wählte sie später ihren Künstlernamen Domin: „Ich nannte mich / ich selber rief mich / mit dem Namen einer Insel ... / Es ist der Name eines Sonntags.“

Die Texte in dem neuen Band sind leider nicht datiert, dürften in den 1940er-Jahren sowohl in der Stadtwohnung von Hilde und Erwin Walter Palm als auch in der schlichten Hütte in den kühleren Zentralkordilleren konzipiert worden sein, wo das Paar Distanz von der hitzigen Stadt oder Hilde Palm häufig allein Abkühlung von dem dominanten Gatten suchte. Ihre Gedanken brachte sie ab 1946 in erzählende Form. Erst ab diesem Jahr begann Domin, wie sie selbst schreibt, gegen die zunehmende seelische Vereinsamung und zeitweilige Entfremdung von ihrem Mann anzuschreiben, dem sie „eine großartige Sekretärin“ war. Dies habe sie auch nach dem Tod ihrer Mutter 1951, wie sie autobiografisch thematisierte, davor bewahrt, den Freitod zu suchen. Hilde Domin, „eine Sterbende, die gegen das Sterben anschrieb“.

Fast wie eine archäologische Arbeit wirkt auch vor diesem Hintergrund, wie Domin es schafft, die Vorstellungskraft der Leserin mit ihren wunderbar detaillierten Erzählungen schonungslos auf das Absurde, Ungewöhnliche, Unbekannte zu richten. Immer wieder im Fokus steht die Haushälterin Vitalia, die der Dichterin zwar reichlich „rara“ (seltsam oder sonderbar) in ihren Vorstellungen, alltäglichen Handhabungen und Vorurteilen vorkommt. Aber sie wollte sie verstehen und akzeptierte sie in ihrer Fremdheit, jene Analphabetin, die ihr Hilfe war, um das damalige Alltagsleben zu organisieren, wo Kühlvorrichtungen, Strom aus der Steckdose und fließendes Wasser in Küche und Bad unbekannt waren. Mit dem gleichen verwunderten Brennglasblick betrachtete sie den Naturforscher, der die Hochebene auf der Suche nach seltenen Tiere für sein Präparatorium durchstreifte und von den Bewohner*innen der Region nur „Froschfresser“ genannt wurde.

Domin zeigt sich als präzise Beobachterin, die wie eine Chirurgin oder ein Präparator die wesentlichen Teile des Objektes freilegt, seziert, vom Überflüssigen befreit und auf die eigentliche, facettenreiche Geschichte reduziert. Nicht selten hinterfragt sie dabei ihren eigenen, heute würden wir sagen, eurozentristischen Blick. Selbstkritisch gesteht sie sich dabei ein, sich „fremd“ zu fühlen und „verloren wie am Tag meiner Ankunft, obwohl ich doch schon viele Jahre auf der Insel lebe“.

Vermutlich würde das gedruckte Ergebnis heute als die Schilderungen eines culture clash tituliert, eines Zusammenpralls unterschiedlicher Kulturen, den die Erzählerin zu einem köstlichen Lesevergnügen zusammengefügt hat, sei es frühmorgens, wenn der Puter kommt, oder der einohrige, nach dem Maler „Gogh“ benannte Kater. Die Erzählungen ermöglichen eine Annäherung an das Leben in der karibisch-dominikanischen Fremde, mit seiner Sprache, den Eigentümlichkeiten und Traditionen, der Mimikry der Passant*innen, Bekannten und Mitmenschen, mit denen sich Hilde Domin konfrontiert sah. Erzwungenermaßen als Exilierte, aber mit einer offenen Bereitschaft zu sehen und zu erfahren, einer fast greifbaren Neugierde und präzisen Beobachtungsgabe beschreibt Domin detailversessen die von der Diktatur geschundenen und von Armut gebeutelten Menschen, denen die Europäerin im Alltag begegnete.

In dem vorliegenden Band mit bislang unbekannten Erzählungen von Hilde Domin, schreiben die Herausgeberinnen, „erleben wir eine Dichterin, die die knappe Form der Lyrik gegen die opulentere Möglichkeit der Prosa eintauscht, um Geschichten zu erzählen, Schauplätze zu schildern, Charaktere einzuführen, die nicht den strengen Regeln der verknappten Poesie folgen müssen“. Dem ist wenig hinzuzufügen, außer: So manche Episode könnte sich noch heute so zutragen. Dazu ist „Antillengeschichten“ ein gelungenes Lesevergnügen und könnte sogar eine inspirierende Ferienlektüre für Menschen sein, die in ihrem Urlaub in der Dominikanischen Republik nicht einfach nur im Sand oder im Schatten einer Kokospalme liegen wollen, sondern die das Leben hinter dem Resort-Zaun interessiert: wo Vitalia, „Comemacos“, europäische Froschfresser, oder Doña Isabel noch heute, wenn auch mit abgerissenen Jeans, leben, in dem Stadtviertel „Matahambre“ (Schlagt den Hunger tot) heißen oder Ratten auf dem Wellblech trippeln. Und wo ein zerlumpter Mann auf der Straße mit einer Fahrkarte nach Paris in der Tasche bei dem Ertönen der Sirene (die das Ende des 2. Weltkriegs signalisiert) zuerst daran denkt, dass es dort keine Kochbananen gibt.

Ulrike Möltgen hat übrigens die acht Geschichten mit wunderschönen fantasiereichen Illustrationen visualisiert.