Viel Verständnis für den Monseñor
Ein guter Hirte sei er gewesen, der beste Bürgermeister der Stadt, obwohl er nie Bürgermeister war. So wird im ecuadorianischen Santo Domingo de los Tsáchilas noch zwanzig Jahre nach seinem Wegzug über den deutschen Bischof Emil Lorenz Stehle (1926-2017) gesprochen. Wie passt das zusammen mit dem, was man seit einigen Monaten in deutschen Medien über Stehle liest? Eine aktuelle Untersuchung belegt, dass der ehemalige Leiter des katholischen Lateinamerikahilfswerks Adveniat über Jahrzehnte Frauen sexuell missbraucht hat, darunter mehrere Minderjährige. Und nicht nur das: Stehle verhalf auch mehreren Priestern, gegen die es Vorwürfe sexuellen Missbrauchs gab, zur Flucht nach Lateinamerika. In Ecuador erschweren Schweigen, Verdrängung und Relativierung die Aufarbeitung.
Fährt man mit dem Überlandbus nach Santo Domingo de los Tsáchilas, kommt man kurz vor dem Busbahnhof an einen großen Kreisel. Hier begrüßt die Ankommenden eine sechs Meter hohe Statue von Emilio Lorenzo Stehle, wie er in Ecuador genannt wird. Vor zwanzig Jahren verließ Stehle die ecuadorianische Großstadt, vor fünf Jahren ist er gestorben – doch hier erinnert man sich noch immer an ihn wie an einen Heiligen. Und das, obwohl im vergangenen Jahr Missbrauchsvorwürfe gegen den Priester aus dem Erzbistum Freiburg erhoben wurden.
Eine Studie zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum Hildesheim, die sogenannte Hildesheimer Missbrauchsstudie, hatte im September 2021 aufgedeckt, dass Emil Stehle in den 1970er-Jahren einem deutschen Priester bei der Strafvereitelung geholfen hatte. Gegen den Priester lief ein Verfahren wegen wiederholten sexuellen Missbrauchs von schutzbefohlenen Minderjährigen. Stehle, in seiner damaligen Funktion als Zuständiger für die Missionsentsendung deutscher Priester nach Lateinamerika, verhalf dem Priester zur Flucht nach Paraguay.
Auf die Veröffentlichung dieses Falls meldete sich eine Frau bei den Verantwortlichen der Studie und berichtete, selbst von Emil Stehle missbraucht worden zu sein. Adveniat und die Deutsche Bischofskonferenz beauftragten daraufhin die Rechtsanwältin Dr. Bettina Janssen mit der Untersuchung des Falls. Sie analysierte Dokumente und Protokolle von Gesprächen mit Mitarbeiter*innen von Adveniat sowie Berichte von acht betroffenen Frauen, die sich nach Veröffentlichung der Missbrauchsstudie gemeldet hatten. Die nun veröffentlichte Untersuchung belegt die Anschuldigungen. Es gibt nicht nur 16 Meldungen und Hinweise zu sexuellem Missbrauch durch Emil Stehle an verschiedenen Wirkungsorten. Er hat auch in mehreren Fällen aktiv geholfen, die Taten von europäischen Priestern zu verschleiern. Einigen von ihnen verhalf er zu einer Flucht vor der Justiz nach Lateinamerika. Drei Fälle sind bestätigt, aber aufgrund der anderen Hinweise vermutet Bettina Janssen, dass dahinter ein System gesteckt haben könnte.
Stehle war ein einflussreicher Mann. 1951 in Freiburg zum Priester geweiht, ging er 1957 als Pfarrer in die deutschsprachige Gemeinde nach Bogotá, Kolumbien. Von 1977 bis 1988 leitete er das Katholische Lateinamerikahilfswerk Adveniat, von 1972 bis 1984 war er der erste Leiter der Koordinierungsstelle Fidei Donum, Geschenk des Glaubens, für deutsche Priester, die zur Missionierung nach Lateinamerika entsendet werden. Für seine Vermittlung zwischen Guerilla und Regierung in den späten 1980er-Jahren in El Salvador war er für den Friedensnobelpreis nominiert. Ab 1983 war Stehle in Ecuador, zunächst als Weihbischof von Quito, dann als Bischof der neu gegründeten Diözese Santo Domingo de los Colorados, heute Santo Domingo de los Tsáchilas. Hier war er bis zu seinem Ruhestand 2002 tätig, als er Ecuador Hals über Kopf verließ, wie sein damaliger Vertrauter, der Journalist und Lokalpolitiker Gonzalo Yépez Palma, berichtet. Auf den 2017 verstorbenen Stehle lässt er nichts kommen: „Bischof Emilio Stehle hat hier in Santo Domingo viele gute Taten vollbracht, nicht nur im religiösen, sondern auch im zivilen Sinne, was eigentlich Aufgabe der nationalen und lokalen Regierungen gewesen wäre. Er ließ Brücken und Kanalisation in den ländlichen Gemeinden der indigenen Tsáchilas bauen und gründete die Katholische Universität, das Mädchenheim Valle Feliz und das Jungenheim Hogar de Jesús.“
Die Verehrung für Stehle geht weit in Santo Domingo. Yépez Palma erzählt: „Es gibt sogar eine Straße, die nach ihm benannt ist, und eine Statue an einer wichtigen Straßenkreuzung. Auch eine Schule trägt seinen Namen, die Bildungseinrichtung Emilio Lorenzo Stehle.“
Die Stehle-Schule wurde vor vier Jahren gegründet, seit zwei Jahren wird sie von Mercedes García Espinosa geleitet. Auch sie hält große Stücke auf Stehle: „Wir halten sein Andenken hoch. Von der aktuellen Nachricht ist hier nicht viel hängengeblieben, weder bei den Eltern noch bei den Schülern oder Lehrern. Hier hängt sogar ein großes Foto des Monseñor. Irgendwann kam jemand von einer Schulbehörde und fragte mich, ob ich das Foto nicht abnehmen wolle. Warum sollte ich, habe ich geantwortet. Ich habe nichts gegen ihn, und für mich war er sehr wichtig in meinem Leben. Als ich 18 Jahre alt war, habe ich als Musiklehrerin im Pädagogischen Institut Monseñor Emilio Lorenzo Stehle gearbeitet. Dort habe ich den Monseñor kennengelernt, er war ein herzensguter Mensch, sehr freundlich und charismatisch.“ Deswegen will sie sich mit dem von ihm begangenen sexuellen Missbrauch lieber nicht so genau beschäftigen: „Ich weiß gar nicht so genau, was ihm vorgeworfen wird, weil ich nie die schlechten Seiten der Menschen sehe. Ich weiß ja, wie Monseñor Stehle war, deswegen sind mir die aktuellen Nachrichten nicht im Gedächtnis geblieben. Und ich glaube, vielen Leuten ging es so.“
Dass die Nachricht keinen Wirbel machte, liegt aber auch daran, dass ecuadorianische Medien kaum darüber berichteten. In Santo Domingo meinen einige, Stehles Taten gehörten der Vergangenheit an und hätten mit seinem Wirken in Santo Domingo nichts zu tun: „Wir haben hier einen anderen Menschen kennengelernt als den, von dem es heißt, dass er vielen Frauen in seiner Heimat Leid angetan hat. Hier war er ein ganz anderer Mensch, und ich denke, dass wir alle eine zweite Chance verdient haben. Ich kann mir vorstellen, dass der Monseñor hierherkam, um sich zu ändern, um Gutes für andere zu tun“, sagt Mercedes García Espinosa, die Leiterin der Stehle-Schule. Laut Untersuchung gibt es jedoch zumindest Hinweise, dass Stehle auch noch während seiner Zeit in Santo Domingo übergriffiges Verhalten an den Tag legte und straffälligen Priestern geholfen haben könnte. Bettina Janssen weist darauf hin, dass es jetzt an der Zeit ist, dass die einzelnen Bistümer sich der Aufarbeitung widmen, um noch mehr Licht ins Dunkel zu bringen.
Ramón Chérrez, der in einem alteingesessenen Familienunternehmen in Santo Domingo arbeitet, hat aus internationalen Medien von den Untersuchungen im Fall Stehle erfahren. Er war noch ein Kind, als Emil Stehle Ecuador verließ, aber nach den aktuellen Enthüllungen hat er sich umgehört: „Scheinbar haben einige wichtige und einflussreiche Leute der Stadt damals gewusst, dass etwas nicht stimmte, dass er aus einem bestimmten Grund in Santo Domingo war. Es gab Gerüchte: Man erzählte sich, dass ein ganz bestimmtes Mädchen den Monseñor immer besucht habe – bestimmt nicht zum Beten.“
Das Schweigen hält bis heute. Bertram Wick Enzler, der in der Schweiz geborene aktuelle Bischof von Santo Domingo, betont, dass es die Kirche ernst meine mit der Nulltoleranz gegenüber Missbrauch. Aufarbeitung und konkrete Konsequenzen sucht man bislang jedoch vergeblich. „Ich hatte ein ausgezeichnetes Bild von Monseñor Emil Stehle, das Bild eines Hirten, der alles gibt, um für die Menschen da zu sein“, kommentiert Wick Enzler. „Natürlich leiden wir darunter, dass das mit Brüdern passiert ist, dass sie Missbrauch verübt oder auch gedeckt haben, aus Gründen, die man schon verstehen kann, die aber nicht korrekt sind. Aber wir sind fehlerhafte Menschen, wir müssen aufeinander aufpassen und alles tun, was solche Missbräuche künftig vermeiden kann. Der Himmel selber muss die Kirche schützen vor uns, den Menschen, und wir können einfach nur demütig bleiben und versuchen, keine Steine auf andere zu werfen, sondern alle unsere Schwächen gegenwärtig zu haben und sie einzugestehen. Da, wo sie gefährlich sind, muss man besonders auf der Hut sein und Vorsichtsmaßnahmen walten lassen.“ Um welche Vorsichtsmaßnahmen es genau geht, bleibt offen. Auch an der Stehle-Schule ist keine weitere Beschäftigung mit dem Fall geplant: „Als Bildungseinrichtung haben wir absolut nichts damit zu tun, wir ziehen daraus keine Konsequenzen“, so Leiterin García Espinosa.
In Deutschland will das Erzbistum Freiburg noch diesen Herbst seine Aufarbeitung zu Stehles Zeit in Freiburg vorlegen. Dringlich scheint hingegen auch eine Aufarbeitung in den lateinamerikanischen Bistümern, von denen es bislang noch wenig Signale in diese Richtung gibt. Allerdings fängt das kritische katholische Netzwerk „Red Ecuatoriana de Fe“ gerade erst an, sich mit dem Fall zu beschäftigen. Es bleibt abzuwarten, ob es also in der Zukunft doch noch eine Diskussion darüber geben wird, wie mit dem schwierigen Erbe Stehles umzugehen ist.