ila

Wie Staub im Wind

Leonardo Padura setzt mit seinem neuen Roman der cubanischen Diaspora ein Denkmal
Klaus Jetz

Der cubanische Romancier Leonardo Padura wurde im deutschsprachigen Raum durch seine Krimis, vor allem das Havanna-Quartett, und historische Romane wie „Der Mann, der Hunde liebte“ über den Trotzki-Mörder Ramón Mercader, den Heredia-Roman „Die Palme und der Stern“ oder „Adiós Hemingway“ bekannt. Vor allem letztere weisen weitläufige, epische Elemente auf, die oftmals Dekaden und Jahrhunderte, ja ganze Epochen umfassen.

So auch sein neuer Roman „Wie Staub im Wind“. Der Titel erinnert an das Südstaatenepos „Gone by the Wind“ und ist dem Hit von Kansas „Dust in the Wind“ entlehnt. Der Inhalt widmet sich vor allem der cubanischen Diaspora. Es geht um eine Gruppe von Freund*innen „der Clan“ genannt, dem ein gutes Dutzend Personen sowie deren Kinder und Enkel. Die Hauptcharaktere sind Elisa, Clara, Darío, Irving, Horacio, Bernardo, Walter und einige mehr, die sich Mitte der 1970er-Jahre während des Studiums kennenlernen, rauschende Feste feiern, Karrieren als Wissenschaftler*innen oder Künstler*innen machen und Familien gründen. Noch scheint die Welt in Ordnung. Auch wenn sie „fast an allem etwas auszusetzen hatten – an der offiziell vorgeschriebenen maximalen Haarlänge, der ständigen Bierknappheit, der Unmenge von Filmen aus der Sowjetunion, mit denen man sie zuschüttete –, blickten sie voller Vertrauen in die Zukunft. Es konnte nur aufwärts gehen. Sie fügten sich ins Bild des ‚neuen Menschen‘.“

Dieser Clan wird nach und nach auseinandergerissen, die einen verschlägt es recht früh nach Miami oder sonst wohin in die USA, die anderen erst später in den 2000er-Jahren nach Spanien, Puerto Rico oder Frankreich. Allein Clara und Bernardo bleiben in Havanna, im architektonisch beeindruckenden und modernen Haus von Claras Eltern, die Architekt*innen waren und sich mit dem Haus einen Traum erfüllten.

Der Roman beginnt mit dem Liebespaar Adela und Marcos in Hialeah im Miami-Dade County, einem Klein-Havanna der Unterschicht. Die beiden lernen sich 2014 kennen. Adela stammt aus New York und ist Studentin der lateinamerikanischen Literatur in Miami. Sie ist die Tochter der Exilcubanerin Loreta, die sich als Diplomatentochter und Tiermedizinerin bereits 1988 von Cuba nach Boston absetzte, und des in New York praktizierenden argentinischen Psychoanalytikers Bruno Fitzberg, der als junger Mann wegen politischer Aktivtäten aus Buenos Aires hatte fliehen müssen. Marcos ist gerade als Bootsflüchtling von Havanna nach Florida gekommen. Er sucht nach seinem Weg, jobbt als Aushilfskraft in verschiedenen Berufen und arbeitet sich langsam nach oben.

Loreta umgibt ein Geheimnis. Immer wieder verschwindet sie für Monate aus dem Leben ihrer Tochter und ihres Ex-Mannes. Dieses beginnt sich erst langsam zu lüften, als Marcos‘ Mutter Clara, die mit ihrem zweiten Mann Bernardo in Havanna zurückgeblieben ist, ein Gruppenfoto des Clans vom Januar 1990 auf ihrer Facebook-Seite postet. Facebook ist das einzige Medium, das den Clan noch zusammenhält, man und frau kommuniziert so über Jahre, Grenzen und Ozeane hinweg und hält Kontakt zueinander. Loreta entpuppt sich als Elisa Correa, Clan-Mitglied, enge Freundin von Clara, Ex-Geliebte von Bernardo und Darío, Marcos‘ Vater. Über viele Seiten befürchten wir, dass das leidenschaftliche Liebespaar aus Hialeah keine Zukunft hat, weil Adela und Marcos den gleichen biologischen Vater haben könnten.

Eine der sympathischsten Figuren im Roman ist der schwule Irving. Er ist einer der ältesten Freunde von Clara und Elisa, sie kennen sich aus dem Vorbereitungskurs an der Universität. Er ertrug die volle „Verachtung der Kommilitonen und die schrägen Blicke mancher Professoren, die ihn, den uralten Mustern des Machismo folgend, als schwache, wenig vertrauenswürdige und körperlich wie geistig kranke Persönlichkeit ansahen“. Fakt ist, dass Homosexuelle in den 1960er und 1970er-Jahren in Cuba als „konterrevolutionäre, antisoziale Elemente“ verfolgt und in Umerziehungslager gesteckt wurden.

Elisa, die anders als Irving „stark, schön und kämpferisch war, nahm ihn unter ihre Fittiche, weshalb sie immer wieder im Jugendkomitee gerügt wurde (…), weil sie sich für Schwule und andere ‚Schädlinge‘ einsetzte.“ Dennoch ist es Irving, der seinen Freund*innen maßlose Sympathie und immer genügend Empathie in allen Problemlagen entgegenbringt. Seine Zeit im Gefängnis, die Ausreise aus Cuba, die immer wiederkehrenden Alpträume und die ersten schwierigen Schritte in Madrid, sein grenzenloses Heimweh, sein Durchhaltevermögen und starker Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen, sein ganz allmähliches Ankommen in Spanien, wo er seinen Frieden und auch seinen Lebenspartner findet und schließlich auch die Wiedereinreise nach Cuba 15 Jahre später, als er noch einmal seine todkranke Mutter besuchen will – diese Charakterstudien und eindrücklichen Schilderungen des Exils gehören zu den besten Passagen des Romans.

Irvings Gegenspieler in Cuba, Walter, ein homofeindlicher Macho und gescheiterter Künstler, der alles daransetzt, Cuba zu verlassen, der ständig nach Gelegenheiten für eine Ausreise sucht und zudem im Verdacht steht, mit der Staatssicherheit gemeinsame Sache zu machen, stürzt im Januar 1990 vom Dach eines Hochhauses. Es bleibt bis zum Schluss unklar, ob es sich hierbei um einen Unfall, Selbstmord oder Mord handelte. Tage zuvor gerieten Irving und Walter in Claras Haus im Streit aneinander, Irving wird in der Folge verhaftet und sechs Tage in einer ehemaligen Kaserne festgehalten. „Sie kamen ihm vor wie mindestens hundert Tage und Nächte. Von diesem Aufenthalt in der Hölle sollte er sich nie ganz erholen, danach litt er an Bluthochdruck und Angstzuständen.“

Der in Havanna lebende Padura porträtiert in den Clan-Mitgliedern seine eigene Generation, diejenigen, die noch vor der Revolution geboren wurden, von ihr profitierten, sie unterstützten, eine gute Ausbildung genossen, gebraucht wurden, bis sich dann aber in den 1980er-Jahren Ernüchterung breit machte, Versorgungskrisen und Fluchtbewegungen nach dem Zerfall der Sowjetunion einsetzten und viele bis heute vor der Entscheidung stehen, zu bleiben oder zu gehen.

So setzt Padura der cubanischen Diaspora ein Denkmal. Für die spanische Nachrichtenseite El Español ist der Roman „die analytischste und gefühlvollste Darstellung der Erfahrung des Exils, die je in spanischer Sprache geschrieben wurde“. Die Protagonist*innen im Exil meistern Herausforderungen, auf die sie in Europa oder den USA stoßen, integrieren sich, machen Fortüne oder leiden unter Heimweh, manche kommen nie so richtig in ihrer neuen Umgebung an oder legen ein völlig überzogenes nationalistisches Gefühl für ihre neue Umgebung an den Tag, wie etwa der in Barcelona lebende Darío, der sich katalanischer gibt als seine katalanischen Freund*innen und immer wieder über die bevormundende und diktatorische „Reichshauptstadt“ Madrid schimpft.

„Wie Staub im Wind“ ist vieles: Familienepos, Gesellschaftsroman, Generationenroman, Exilroman, Liebesroman, auch weist das Buch Elemente des Kriminalromans und des historischen Romans auf. Es ist zudem ein zutiefst politischer Roman, da der Alltag und das Lebensgefühl auf der Insel zu verschiedenen Zeiten in epischer Breite geschildert werden: Versorgungskrisen, Bespitzelung durch die Staatssicherheit oder Korruption, im Alltag oder im großen Stil durch die politische Elite.

Wie alle Romane Paduras ist auch „Wie Staub im Wind“ spannend erzählt, die über 500 Seiten sind mithin eher leichte Kost, auch wenn der ständige Wechsel der unterschiedlichen Zeitebenen und Erzählperspektiven auf den ersten Blick Verwirrung stiften kann, zumal das Personal im Roman recht vielfältig ist. Um hier den Überblick nicht zu verlieren, empfiehlt es sich, Notizen zu machen. An Cuba interessierte Leser*innen kommen auch dieses Mal wieder voll auf ihre Kosten.