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Wem gehört mein Körper?

Tatiana Salem Levy macht die Vergewaltigung einer Freundin zum literarischen Thema
Ute Evers

Gewöhnlich joggte Júlia nur morgens hoch zum Aussichtspunkt Vista Chinesa, der, hat man erst einmal den Regenwald des Parque Nacional da Tijuca durchquert, einen beeindruckenden Blick auf die Millionenstadt Rio de Janeiro bietet. Auf den Straßen durch diesen üppigen Regenwald, der auch „ausschlaggebend bei der Wahl für Rio als Austragungsort der Olympischen Spiele 2016“ war, sind um diese Tageszeit mehr Menschen unterwegs, ansonsten sei es dort sehr einsam. „Rio“, so die ständigen Ermahnungen ihrer Eltern oder ihres Partners, „sei selbst jetzt, da die Stadt in aller Munde ist, immer noch gefährlich.“

An diesem Dienstag im Jahr 2014 verwirft die junge Architektin diese Gedanken und läuft einfach los. Und wie aus dem Nichts taucht dieser Mann vor ihr auf. Ein wenig untersetzt, erinnert sie sich später, und mit einer Waffe in der Hand. Ohne die Situation richtig erfassen zu können, wird sie gewaltsam in das Innere des Regenwalds getrieben und dann brutal vergewaltigt. Mehrere Male. Ihr perfekt durchtrainierter Körper, den sie bis dahin unter Kontrolle glaubte, entgleitet ihr und kehrt als „geschundener, schwacher Körper voller blauer Flecken“ zurück. Ein Körper, der nicht mehr zu ihr gehöre. Ein Wettlauf gegen die Zeit und die Gefühle beginnt kurz danach, um mit der Festnahme des Täters Gerechtigkeit walten zu lassen. Doch ist es damit getan?

Im Rahmen der Leipziger Pop-up-Buchmesse 2022 erzählte Tatiana Salem Levy, dass sie unbedingt am Beispiel der Vergewaltigung ihrer Freundin aus Rio über die Gewalt an Frauen schreiben wollte. Was passiert mit dem Erinnerungsvermögen nach einem derart traumatischen Erlebnis wie einer Vergewaltigung? Wem gehört der Körper nach solchen oder anderen Misshandlungen? Wie sich der Vergangenheit stellen? Werden Traumata unbewusst an die Kinder weitergetragen?

Wie ein Leitmotiv ziehen sich diese Fragen durch „Vista Chinesa“. Nach vielen Gesprächen mit ihrer und Fragen an ihre Freundin entschied sich die Autorin für die Form des Briefromans, um diese für sie in doppelter Hinsicht schreckliche Realität in Fiktion zu transformieren. „Traumata werden immer vererbt, aber wenn man sie nicht in Worte fasst, erscheinen sie als ein Symptom, als ein Gespenst, ohne das Wort kann man ihnen keine Bedeutung geben, und deshalb ist es gefährlicher. Ich frage mich, wie es ist, nach einer Vergewaltigung schwanger zu werden. Schließlich handelt es sich um denselben Körper, um dieselbe Stelle im Körper. Sie musste dies den Kindern mitteilen, auch wenn es ein hypothetischer Brief ist, ein Brief an sich selbst, ein Brief, der vielleicht nie zugestellt wird, ein Brief als Erbe.“, erklärte sie dazu in einem Interview.1

Einige Jahre nach dem längst noch nicht überwundenen Erlebnis beschließt also die mittlerweile junge Mutter von Zwillingen, einen Brief zu schreiben. Für später. In dem Brief wird sie ihren Kindern alles von diesem Dienstagnachmittag im Jahr 2014 erzählen, so, wie sie es bis dahin noch niemandem erzählt habe. Doch tut sie das nicht am Stück als eine geschlossene Erzählung. Zwischen den Zeitebenen von 2014 bis 2019 hin- und herspringend führt die Ich-Erzählerin in Bruchstücken und Erinnerungsfragmenten zu diesem Horror, der bis auf die letzten Seiten des fiktiven Briefes anhält. Die Gewalt an Körper und Seele ist durch diese Erzählweise während der Lektüre ständig präsent, ähnlich wie in Júlias Leben, wo die Erinnerung daran noch viele Jahre danach immer wieder aufkommt.

Was wird dazwischen erzählt? Viel Raum nehmen etwa die Ermittlungen der Polizei ein. Doch nach jeder Befragung, nach jeder Gegenüberstellung eines möglichen Täters, der anhand eines Phantombilds gesucht wird, fühlt sich Júlia mehr unter Druck gesetzt. Der Täter müsse endlich gefunden werden! Aber was, wenn sie einen Unschuldigen verdächtigt? Früh schon kommen Júlia Zweifel auf, dass die Polizei nicht wirklich an dem wahren Täter interessiert ist. Sie will den Fall unbedingt abschließen, und wenn es ein Schwarzer wäre, umso besser. Tatsächlich fühlt sich Júlia von der Polizei nicht nur nicht beschützt, sondern ist sich der Schwächen dieser Behörde sehr bewusst, die rassistisch, machistisch und korrupt daherkommt. „Ich bekam mit, wie einer der Polizisten Michel ins Ohr flüsterte, der Unbekannte müsse, bevor er offiziell verhaftet und ihm der Prozess gemacht werde, zuerst Michel gegenübertreten. Michel hätte das Recht, mit dem Mann abzurechnen, der die körperliche Reinheit seiner Frau zerstört hatte. Eine Sache zwischen Männern das Gesetz sei schwach, sehr schwach, käme den Angeklagten entgegen, und die Polizei sorge dafür, dass das Gesetz des Mannes eingehalten werde, das Gesetz unserer Instinkte, nicht dieses lächerliche Gesetz auf dem Papier.“

Salem Levy ist sich sicher, unterstreicht sie in dem oben zitierten Interview, dass sich die Polizei ihrer Freundin gegenüber nur deswegen bemüht gezeigt hatte, den Täter zu finden, weil sie eine „weiße und privilegierte Frau ist“. Das wäre nicht so gewesen, wenn es eine Schwarze Frau gewesen wäre. Die Entwertung Schwarzer Leben sei historisch tief verwurzelt. „Das Leben einer schwarzen Frau ist in den Augen des Sicherheitsapparates noch heute weniger wert als eine Handvoll Drogen“, beschrieb es unlängst die afrobrasilianische Frauenrechtlerin, Philosophin und Autorin Djamila Ribeiro im Spiegel (12. 3. 2022).

Zurück zu „Vista Chinesa“: Interessant erscheint auch der zeitliche Erzählrahmen des Romans. Denn eigentlich erzählt er vom tragischen Schicksal zweier (zerstörter) Leben: das von Júlia und das von Rio de Janeiro. Galt Brasilien 2014 offiziell als Erfolgsmodell, das kurz vor der Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft und zwei Jahre vor der Olympiade steht, bettet es Salem Levy indes ein in den stetigen gesellschaftlichen Verfall, indem die Ich-Erzählerin ihren Brief aus der Sicht der 2010er-Jahre schreibt. Unweigerlich trifft man da auf den Skandal um die Schmiergeldzahlungen des Baukonzerns Odebrecht und andere Korruptionsfälle im Kontext der baulichen Vorbereitungen und Immobiliengeschäfte rund um die Olympischen Spiele, vor allem in Rio, dem Hauptschauplatz des nur 124-seitigen Romans. Lassen wir hier noch einmal Salem Levy direkt zu Wort kommen: „Der latente Widerspruch Brasiliens, die stets gegenwärtige Gewalt, hätten uns damals eigentlich an der Euphorie zweifeln lassen müssen. 2018 sehe ich die Bestätigung. Ich musste dies in die Erzählung einbringen und hielt es daher für wichtig, die Geschichte aus heutiger Sicht zu erzählen, da sich das Land bereits im Niedergang befand.“

Das fragmentarisch-bruchstückartige Erzählen von Júlia ist gepaart mit einer feinfühligen, mitunter poetisch anmutenden, aber nichts beschönigenden sprachlichen Herangehensweise an die Vergewaltigung, dessen Trauma, man ahnt es bald, Júlia noch lange verfolgen wird. Die Protagonistin gewährt ihren Leserinnen und Lesern Eintritt in die intimsten Ängste eines misshandelten Menschen, der, auch wenn das Leben zunächst alles andere als lebenswert erscheint, gerade darum dankbar ist: aus dieser grauenhaften Geschichte mit dem Leben davon gekommen zu sein! Wohl eher Glück im Unglück. Djamila Ribeiro schätzt, dass alle acht Minuten in Brasilien eine Frau vergewaltigt werde und Brasilien eines der Länder mit den meisten Femiziden weltweit sei.

Salem Levy schreibt sich mit „Vista Chinesa“ ein in eine Serie von literarischen Werken in Lateinamerika, die in den letzten Jahren das Thema der Gewalt an Frauen in den Mittelpunkt rücken.

Auch wenn in Lateinamerika über Femizide2 bereits in den 1990er-Jahren begonnen wurde zu debattieren, insbesondere im mexikanischen Kontext, hat erst der Chilene Roberto Bolaño dieses Thema in seinem 2004 posthum erschienenen Werk „2666“ auf fast unerträgliche Weise literarisch sichtbar gemacht. Danach scheint das Tabu gebrochen. Viele Stimmen, vor allem von Frauen, erhoben sich, hier etwa die Uruguayerin Marisa Silva Schultze, die mit „Siempre será después” (Alfaguara, 2012) über die häusliche Gewalt schreibt oder die Argentinierinnen Laura Rossi in „Baldías“ (Erizo Editora, 2013) über eine Serie von Morden, in denen Frauen verbrannt wurden, und Selva Almada, die mit „Chicas muertas“ (Literatura Random House, 2014) über drei Frauenmorde schrieb, die sich in ihrer Jugend ereignet hatten. In Mexiko erschien 2015 die zur Referenz gewordene Anthologie „El silencio en los cuerpos. Relatos sobre feminicidios“ (Ediciones B), in der neun zwischen 1964 und 1986 geborene mexikanische Autorinnen aus ihren verschiedenen Sichtweisen und Intentionen heraus weiblichen Opfern von Gewalt eine Stimme verleihen. Aus der brasilianischen Literatur in deutscher Übersetzung ist noch Patrícia Melo zu nennen, die sich mit dem Roman „Gestapelte Frauen“ (Unionsverlag, 2021) mit dem Thema Frauenmorde auseinandersetzt.

Tatiana Salem Levy, 1979 in Portugal geboren, Enkelin türkischer Juden und Tochter brasilianischer Eltern, die während der Militärdiktatur nach Portugal geflüchtet waren, hat mit „Vista Chinesa“, von Marianne Gareis hervorragend ins Deutsche übertragen, ohne Zweifel ein literarisches Meisterwerk vorgelegt: sprachlich, inhaltlich und, ja, auch menschlich.