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Grausam und mitreißend

Mariana Enríquez‘ argentinische Familiensaga „Unser Teil der Nacht“
Fabio Freiberg

Jede Nacht besteht aus vielen Facetten, vielen Teilen. Nächte können mystisch, einsam, furchterregend sein, wie der Rezensent weiß, der gerne nachts um halb fünf im Parque Centenario in Buenos Aires joggen ging, weil man dann in einer Zwischenwelt lief, im heißen Januar nur von den Katzen – aufmerksam und gespenstisch – beobachtet.

Mariana Enríquez weiß um diese Facetten. In ihrem 800-seitigen Roman „Unser Teil der Nacht”, der eine immense Vielzahl der obskuren wie auch erregenden Aspekte der Nacht thematisiert, kreist sie hauptsächlich und immer wieder um die Schrecken der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983, obwohl der Roman insgesamt eine Zeitspanne von 40 Jahren umfasst. Denn eine Diktatur endet nicht einfach so. Das Buch zieht hier ein weites, aber übersichtliches Netz, etwa zu den Subkulturen der 60er, 70er und 80er-Jahre, zu ländlichen Lebenswelten oder zur AIDS-Krise in Buenos Aires.

Die Protagonisten, Vater und Sohn, sind in dieser Fabel aus Gewalt und Niedertracht keine passiven Opfer. Sie versuchen immer wieder den patriarchalen Strukturen, einem brutalen Kult, der von Männern errichtet und von Frauen gefestigt wurde, zu entkommen. In seinem Widerstand wird der Vater selbst zum Monster und verliert in wahllosen und rachesuchenden Morden seine Menschlichkeit. Gleichzeitig ist dieser Horrorroman eine Entwicklungsgeschichte, handelt von Emanzipation und gesellschaftlichem Wandel. Enríquez‘ Teile der Nacht, und somit ihr Buch, sind mitreißend. Das ist durchaus positiv zu verstehen, aber in erster Linie wortwörtlich. Ihre Sprache und – erquickenderweise – auch die ihrer Übersetzerinnen ist mitreißend. Das bedeutet nicht unbedingt eine rasante Schnelligkeit von Ereignissen und Situationen, obwohl dies häufig der Fall ist. Das Tempo ist vielmehr vielseitig und außerordentlich wandlungsfähig, wie ein nächtlicher Rausch, der überraschend schnell aus der Katatonie in ein überstürztes Handeln und rasende Wut umschlägt. Die Erzählerin bleibt gleichwohl freischwebend, teils lethargisch. Durch diesen Abstand erst wird das Gelesene tolerabel.

Schließlich ist dieses Buch schlimm. Es ist kein schöner Roman, und auch kein schönes Thema. Andere Rezensent*innen haben in Bezug auf Stil und Motive abwertende Vergleiche auf den magischen Realismus und die argentinische Fantastik gezogen, ohne den essenziellen Kern zu beachten: Hier wird die Welt, wie sie war und ist, beschrieben. Die Stilmittel mögen, wie bei Borges und Cortázar, unsere gewohnten Pfade verlassen. Die Autorin überflügelt hier ihre Lehrmeister Lovecraft und Poe, aber dieser Stil eignet sich auf gelungene, wenn auch makabre Weise, um die Schrecken unserer Gegenwart und Vergangenheit zu beschreiben. Vielleicht ist er sogar der einzig angemessene. Schließlich war die argentinische Diktatur sicherlich nicht schön. Enríquez führt uns zu den Abgründen des menschlichen Daseins, wofür sie sich anstrengender, abschreckender und widerlicher Bilder bedient. Anders kann und darf man das hier nicht nennen, es sei als Warnung verstanden. Ein grausames und mitreißendes Buch, das überwältigt, aber auch Kraft in sich trägt. Eine Kraft, die den beiden Protagonisten innewohnt und die sie nutzen. Sie versuchen, diese Macht für ihre Zwecke zu nutzen, müssen dabei aber scheitern, denn ohne Verluste können sie nicht siegen.

In diesem ungleichen Kampf der Männer liegt auch eine feministische Ebene verborgen, denn ihre Körper, gerade der des Vaters, sind allgegenwärtige Subjekte: Sie schreien, wüten, lieben, ficken, verstümmeln. Durch ihren Schmerz und ihre Schwäche, ihre Kraft, ihre Erregung, ihren Missbrauch werden die Charaktere lebendig, ihr Handeln verständlich. Die Gefühle werden stets über den Körper gewahr, meistens sind sie stark und überwältigend. Die sozialen und familiären Bande dieser Menschen sind so stark wie die Schrecken, die sie umgeben, auch wenn sie gerade dem Sohn nur sehr selten und meist zu spät offenbart werden und von lauter Missverständnissen geprägt sind. Die zugrundeliegende Männlichkeit ist häufig toxisch, aber hierin liegt auch die Schönheit des Buchs, in dieser Körperlichkeit, der Lebendigkeit und im starken Mitgefühl mit der verlorenen Menschlichkeit.

Trotz der Länge des Buchs und der wechselhaften Protagonisten bleibt es fesselnd. Dem Sog ist nicht zu entkommen. Er zwingt eine*n auch über die schlimmsten Momente und Situationen hinweg und lässt eine*n schließlich am Morgen, verkatert und seltsam befriedigt, zurück.