ila

Formate, die verführen

Interview mit Tachi Arriola Iglesias und José Ignacio López Vigil von „Radialistas Apasionadas y Apasionados” aus Quito

Auf die Frage, wie sie zum Radio gekommen sind, lachen beide nur: Das sei aber eine sehr lange Geschichte! Die Peruanerin Tachi Arriola Iglesias und der in Cuba geborene José Ignacio López Vigil kamen beide zufällig zum Radio und ahnten damals nicht, dass sie dem Medium jahrzehntelang treu bleiben würden. Mittlerweile sind die beiden zu zentralen Referenzpunkten der alternativen Radioproduktion Lateinamerikas geworden. Tachi Arriola Iglesias war nach ersten Erfahrungen in Hörspielproduktionen und als Reporterin im peruanischen Amazonasgebiet mehrere Jahre Vorsitzende der Internationalen Vereinigung gemeindebasierter Radios (AMARC). José Ignacio López Vigil begann seine Radiokarriere beim Radiodienst für Lateinamerika (SERPAL), der von der Befreiungstheologie inspiriert war, von der katholischen Kirche gefördert wurde und seinen Sitz in München hatte. Dort arbeitete er, bis SERPAL aufgrund der antikommunistischen Politik des Vatikans aufgelöst wurde. José Ignacio López Vigil reiste anschließend durch Lateinamerika, beteiligte sich an widerständigen Radios wie „Radio Venceremos“ in El Salvador. Heute leben die beiden in Quito, Ecuador, und widmen sich von hier aus seit 21 Jahren ihrem Projekt „Radialistas Apasionadas y Apasionados“ – Radiomacher*innen aus Leidenschaft.

Mirjana Jandik

Woher kommt die Leidenschaft für das Radio, die im Namen eures Projekts steckt?

TAI: Radio verbindet. Es gelangt über die Stimme durch das Ohr direkt ins Herz. Außerdem ist es kostengünstig, insbesondere jetzt dank der neuen Technologien.

JILV: Unsere Leidenschaft gilt nicht den Mikrofonen, Kabeln und Empfängern, sie gilt nicht dem Medium an sich, sondern den Menschen, die Radio hören und im Radio sprechen. In Lateinamerika wurde uns mit der Invasion durch Europa die Stimme genommen. Man hat uns befohlen, stillschweigend zu arbeiten. Wir machen uns für ein Radio stark, das den Leuten die Stimme zurückgibt.

TAI: Vor allem ermöglicht das Radio, dass Frauen öffentlich sprechen. Denn es stimmt zwar, dass uns allen die Stimme genommen wurde, aber den Frauen ganz besonders. Und das nicht nur im öffentlichen Leben, sondern sogar im Privaten, denn auch zu Hause hatte der Mann das Sagen. Wenn Frauen im Radio öffentlich über ihre Gefühle und Meinungen sprechen können, ist das ein Schritt zur Befreiung.

JILV: Erst durch die öffentliche Rede werden wir zu Bürgerinnen und Bürgern. Das öffentliche Wort ist politisch und widerständig. Wir durften vielleicht in der Küche sprechen oder hinter vorgehaltener Hand, aber niemals öffentlich. Das Gemeinderadio macht unsere Völker zu Bürgerinnen und Bürgern.

Wie kam es nach eurer bewegten Radiogeschichte zur Gründung von „Radialistas Apasionadas y Apasionados”? Welche Vision steckt hinter dem Projekt?

TAI: Wir haben gemerkt, dass Radioproduktion immer schwieriger wurde. Es gab fast nur noch Nachrichtensendungen, aber keine aufwändigeren Produktionen wie Radiotheater oder Serien. Dabei kommen diese Formate am besten bei den Leuten an. Mit „Radialistas Apasionadas y Apasionados“ wollten wir zeigen, dass sich wirklich alle Themen in hörer*innenfreundliche Formate übersetzen lassen. So erfanden wir die „Radioclips“ – was heute Podcast heißt.

JILV: In Lateinamerika beschränken sich die meisten Radios auf Musik, Nachrichtensendungen und Gelaber. Aber die verführerischsten Formate – Erzählungen, Legenden, Theaterstücke, Serien – werden beiseitegelassen. Als wir im Jahr 2000 mit „Radialistas“ anfingen, war das Internet schon ein fantastisches Übertragungsmedium. Das wollten wir nutzen, um die Programme vor allem der „Radios Comunitarias“ zu bereichern, die aufgrund von Mangel an Ressourcen, Personal oder Kreativität oft keine aufwändigen Produktionen machen.

TAI: Es geht uns aber nicht nur um das Format, sondern auch um eine politische Ausrichtung. Wir machen nicht einfach eine „Radionovela“ (Serie), um eine Radionovela zu machen. „Radialistas“ basiert auf drei Säulen: Demokratie/Partizipation, Geschlecht und Ökologie. Das sind Querschnittsthemen unserer Gesellschaft, die in den letzten 20 Jahren hart umkämpft sind.

JILV: Wir nennen unsere drei- bis fünfminütigen Hörstücke mit Handlung und Figuren „Radioclips“. Das sind im Grunde Podcasts, die wir frei zugänglich auf unserer Homepage hochladen. Wir glauben nicht an Copyright, sondern an Copyleft. Kultur sollte nicht exklusiv sein, sondern geteilt werden. Bis heute haben wir etwa 3500 Radioclips produziert.

TAI: Am Anfang haben wir uns auf die Produktion konzentriert. Irgendwann stellten wir fest, dass wir eine gewisse Verantwortung haben, alles, was wir über viele Jahre gelernt hatten, zurückzugeben. Also begannen wir, Fortbildungen anzubieten – virtuell, schon vor der Pandemie. Workshops in Präsenz sind großartig, aber auch teuer. So konzentrierten wir uns auf virtuelle Formate. Mittlerweile gibt es auf unserer Homepage über 30 frei zugängliche Kurse: zu Open-Source-Technologie, Radioproduktion und Geschlecht. Wenn wir von Geschlecht sprechen, meinen wir nicht nur Gleichheit zwischen Männern und Frauen, sondern wir sprechen auch über die LGBTIQ+-Community.

Wie finanziert ihr euch?

JILV: In Lateinamerika ist es nicht sehr gängig, für Radioproduktionen zu bezahlen. Also hatten wir während der ersten Jahre eine Anschubfinanzierung durch die englische Entwicklungszusammenarbeit (CAFOD). Mittlerweile finanzieren wir uns über das Angebot von Dienstleistungen. Die Deutsche Welle stellt uns zum Beispiel für Fortbildungen oder die Produktion von Radionovelas an.

TAI: Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung haben wir mehrere Radionovelas über bedeutende Frauen gemacht. Das sind keine großen Einnahmen, aber es deckt die Kosten unserer schrumpfenden Redaktion.

Ecuador hat nicht so eine Vielfalt und bewegte Geschichte von „Radios Comunitarias“ wie etwa Bolivien. Woran liegt das?

JILV: In Mexiko gab es lange ein Duopol, von Televisa und Teleazteca, das gemeindebasierte Radioproduktion verunmöglicht hat. Trotzdem haben Indigene in Oaxaca, Guerrero und im Osten Mexikos ihre illegalisierten Piratenradios – bis heute. In Argentinien entstanden in den 80er-Jahren mit dem Aufkommen der UKW-Wellen um die 3000 Radios, die ohne Erlaubnis sendeten.

TAI: Das waren ganz kleine, wirklich „hausgemachte“ Sender, junge Leute mit einer Antenne.

JILV: Das lateinamerikanische Land mit der beeindruckendsten Geschichte von Bergarbeiterradios, Gemeinderadios, religiösen Radios und indigenen Radios ist Bolivien, wie du gesagt hast. Hier wurde 1947 das erste Gemeinderadio Lateinamerikas gegründet, „La voz del minero“ (Die Stimme des Bergarbeiters). Heute ist Kolumbien wohl das Land mit den meisten legalisierten Gemeinderadios in Lateinamerika, das sind vor allem viele studentische Radios. In Ecuador gibt es nur wenige Sender. Der Grund dafür liegt weniger in den Gesetzen – die sind immer diskriminierend. Vielleicht muss man die Erklärung eher in der historischen Unterdrückung suchen. In der andinen Welt gibt es eine soziale Schüchternheit, ein Zögern, eine eigene Frequenz einzufordern.

TAI: Ich weiß nicht, ob es daran liegt. Ich sehe aber, dass sich das ecuadorianische Radio im Umbruch befindet. Zwar sind immer noch die meisten Sender in privater Hand, aber nach und nach kommen indigene Sender dazu. „Radio Intipacha“ in Cayambe zum Beispiel, ist einer. Es fing ganz klein an und ist mittlerweile ein anerkannter Sender mit eigener Frequenz – eine der ganz wenigen Frequenzen für Gemeinderadios, die es überhaupt gibt. Während der Präsidentschaft von Rafael Correa wurden an 14 indigene und Gemeinderadios vorläufige Lizenzen vergeben. Die haben sich aber nicht verstetigt, weil die vorläufigen nicht in feste Lizenzen überführt wurden. Übrig sind heute nur noch zwei oder drei. Diese Erfahrung hat aber bei den indigenen Gemeinden die Lust aufs Radiomachen geweckt, und bis heute gibt es einige Radios, „Arutam“ und „Las Cascadas“ zum Beispiel. Im Amazonastiefland ist der wichtigste Sender „La Voz de la CONFENIAE“, der seit kurzem eine Lizenz hat. Hier sind es vor allem indigene Frauen, die die Programme machen, zum Beispiel über traditionelles Wissen und Medizin.

JILV: Dabei dürfen wir die vielen Sender der Befreiungstheologie nicht vergessen, ERPE in Riobamba zum Beispiel.

Mit dem neuen Rundfunkgesetz von 2013 schienen Gemeinderadios einfacher an Lizenzen zu kommen. Nun soll es eine Reform geben, die dieses Gesetz komplett umwälzt. Die Verteilung der Frequenzen etwa wird abgetrennt vom restlichen Gesetz und nicht mehr als politische, sondern als technische Frage behandelt. Unabhängige Medienschaffende kritisieren, dass das zu einer Stärkung der großen traditionellen Medien führt und es damit eine neoliberale und antidemokratische Reform ist. Was ist eure Einschätzung und inwiefern beeinflusst das eure Arbeit?

JILV: Schon 2008 mit der Verabschiedung der neuen Verfassung haben wir einige progressive Artikel zur Demokratisierung der Medien durchgesetzt. Das Gesetz von 2013 enthält den großartigen Satz, dass sich das Radiospektrum in drei Sparten teilt: 33 Prozent staatliche Sender, 33 Prozent private und 34 Prozent für Gemeinderadios. Das bedeutet, dass der Hauptakteur die Bürger*innen sind, nicht der Staat oder die Unternehmen. Es blieb aber ein Wunschtraum, denn umgesetzt wurde das Gesetz nie. Ein anderer Artikel besagte, dass jede natürliche oder juristische Person nur eine Frequenz besitzen darf. Auch das wurde nicht umgesetzt. Ein anderer besagte, dass Ausländer nur einen geringen Anteil der Frequenzen besitzen dürfen, aber der mexikanische Unternehmer Ángel González, alias „El Fantasma“, hat unzählige. Warum wurde nichts davon umgesetzt? Weil die Regierung Correa keinerlei Interesse an einer Demokratisierung hatte. Die 14 Lizenzen für indigene Radios, von denen Tachi sprach, sollten nicht das Wort demokratisieren, sondern Propaganda für Bergbau- und Erdölunternehmen machen.

TAI: Als diese Radios dann über den indigenen Widerstand gegen diese Projekte sprechen wollten, wurden sie bedroht und mundtot gemacht.

JILV: Eines dieser Radios wollte unsere bergbaukritische Radionovela „Killarikocha“ senden. Daraufhin erhielten sie einen Anruf von Fernando Alvarado von der staatlichen Kommunikationsbehörde SEGCOM. Er erinnerte sie daran, dass es sich um staatlich erteilte Lizenzen handelt und sie diesen Inhalt nicht senden dürften. Mit der ersten Reform des Mediengesetzes wurde es noch schlimmer. Nun sollten „bis zu“ 34 Prozent der Lizenzen an Gemeinderadios gehen. Das heißt, schon wenn es eine einzige Frequenz für ein Gemeinderadio gibt, hat der Staat sein Soll erfüllt.

TAI: Mit der aktuellen neoliberalen Regierung gibt es keinerlei politischen Willen, die Gemeinderadios, die ja die Stimme der zivilgesellschaftlichen Opposition sind, zu stärken. Redefreiheit gibt es somit nicht.

Die aktuellen Reformen sind also keine Kehrtwende, sondern eher die Fortsetzung einer Entwicklung, bei der die progressiven Inhalte des Mediengesetzes nicht umgesetzt werden?

JILV: Ganz genau. Auch das Gesetz von 2013 hatte seine Haken, etwa eine starke staatliche Kontrolle. Aber es hatte auch sehr gute Artikel. Die aktuellen Reformen eliminieren nun das Schlechte, aber auch das Gute. Das führt zu einer rechtlichen Leerstelle, wovon die gleichen Unternehmer wie eh und je profitieren. In ganz Lateinamerika gibt es gerade einen Backlash: Die progressiven Gesetze in Argentinien, Uruguay und Bolivien wurden gekippt, in Frage gestellt oder nicht umgesetzt. In Peru, Zentralamerika und Mexiko gibt es generell wenige Initiativen. Wir sind noch sehr weit davon entfernt, von einer Demokratisierung zu sprechen. Und ohne Demokratisierung keine Meinungsfreiheit. In Lateinamerika gibt es keine Meinungsfreiheit, weil die Medien in den Händen von wenigen konzentriert sind.

Gibt es in Ecuador Gegeninitiativen?

JILV: Die Koordination von Gemeinde- und Bildungsradios CORAPE macht gerade eine wichtige Kampagne, um die Verteilung der Frequenzen zu verteidigen.

TAI: Das Aufbäumen von all den vielen kleinen Gemeinderadios, an dem vor allem junge Leute beteiligt sind, mit vielfältigen Aktionen, vor allem über das Internet. Das ist auch eine Art des Widerstands.

Wie die „Wambra“ zum Beispiel?

TAI: Ja, das ist eine der stärksten Initiativen gerade, sie haben sich über das Radio hinaus zu einem wichtigen alternativen und investigativen Medium entwickelt. Da sind junge, gut ausgebildete und leidenschaftliche Leute am Werk.

Zum Schluss eine schwierige Frage: Welche eurer Produktionen empfehlt ihr unserem Publikum?

TAI: Besonders gefällt mir ein Radioclip über das Stillen: „Un rico postre cremoso“ (Ein sahniger Nachtisch). Nicht um Mutterschaft zu verherrlichen, aber er ist sehr süß und liebevoll gemacht.

JILV: Für das deutsche Publikum: Wir waren so frei, eine Radionovela über das Leben von Rosa Luxemburg zu machen. Außerdem empfehlen wir die Serie über Dolores Cacuango, eine indigene Anführerin aus Ecuador.

TAI: Alle Radionovelas sind gut geworden. Nicht nur, weil sie Frauenleben erzählen, sondern vielleicht auch, weil sie unsere neuesten Arbeiten sind. Sie sind das Produkt von vielen Jahren Erfahrung und drücken das aus, was wir wirklich sagen wollen. Unser aktuelles Projekt ist eine Radionovela über Ana Fabricia Córdoba, eine Schwarze Menschenrechtsaktivistin aus Kolumbien, die 2011 ermordet wurde. Übermorgen reisen wir nach Medellín, um Interviews und Aufnahmen dafür zu machen.

Das Interview führte Mirjana Jandik am 5. Juni 2022 über Zoom.