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Neue Verfassung als Instrument zum Übergang in die Demokratie

Der Verfassungsprozess in Brasilien 1987-1988

Als zwischen 1980 und 1990 die Diktaturen in Südamerika abtraten, waren sie keineswegs besiegt. Zwar gab es in allen Ländern – unterschiedlich starke – Oppositionsbewegungen gegen die Militärregimes, aber nur in Argentinien (nach dem verlorenen Malwinenkrieg) und teilweise in Bolivien (wegen der starken Volksbewegung und internen Widersprüchen in den Streitkräften) waren die Militärs und ihre zivilen Verbündeten wirklich entscheidend geschwächt. In allen anderen Ländern bestimmten sie den Übergang zu „kontrolliert“ demokratischen Regierungsformen. Dazu gehörte auch, dass die während der Diktaturen gültigen Verfassungen zunächst in Kraft blieben beziehungsweise in Chile bis heute sind. Nur in Brasilien, wo der Wandel in Schritten über mehrere Jahre vollzogen wurde, schaffte es eine Allianz aus einer starken demokratischen Bewegung auf der Straße und Teilen des Bürgertums, eine neue Verfassung als ein Element des Übergangs durchzusetzen.

Luiz Ramalho

Er sprach in politischen Debatten ständig vom „livrinho“, dem Büchlein, und hielt die Druckausgabe der brasilianischen Verfassung hoch. Gemeint war die neue Verfassung Brasiliens, die „Constituição Cidadã“, „Verfassung der Bürger*innen“, genannt wurde. Dafür stand jener Ulysses Guimarães, langjähriger Kämpfer für die Demokratisierung, Vorsitzender der MDB (Brasilianische Demokratische Bewegung), der einzigen durch die Militärs zugelassenen Oppositionspartei, und zwischen 1985 und 1989 Parlamentspräsident, der genau über den Wert von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten Bescheid wusste.

Was war der Kontext der „Constituinte“, der Verfassunggebenden Versammlung, die von Februar 1987 bis September 1988 20 Monate lang tagte? Die Militärdiktatur, 1964 durch einen Putsch etabliert, ging in den 80er-Jahren dem Ende zu, sie erodierte. Einzelne terroristische Zellen der Militärs verübten zwar in dieser Zeit Attentate gegen progressive Medien, aber nach dem Amnestiegesetz von 1979 waren die wichtigsten Politiker aus dem Exil zurückgekehrt und/oder hatten bereits bei Wahlen 1982 und 1986 Regierungsmandate auf Ebene der Bundesstaaten errungen bzw. waren in den Kongress eingezogen. Was zum Übergang fehlte, war die Möglichkeit der Direktwahl des Präsidenten.

Die darauf bezogene Kampagne der demokratischen Opposition für Direktwahl („Diretas Já“) mobilisierte Massendemonstrationen innerhalb ganz Brasiliens. In São Paulo zählte eine Demo 1984 unglaubliche 1,5 Millionen Menschen, eine Million gingen in Rio de Janeiro auf die Straße. Der Versuch, durch eine Gesetzesvorlage im nach wie vor von den Militärs und der offiziellen Regierungspartei ARENA dominierten Parlament die Einführung der Direktwahl des Präsidenten (inzwischen der bedeutendste symbolische Akt für das Ende der Diktatur) durchzusetzen, scheiterte jedoch.

Aber die mobilisierte Opposition und insbesondere die im Widerstand gegen die Diktatur gestärkte organisierte Zivilgesellschaft (besonders aktiv waren beispielsweise die „Nationale Vereinigung der Anwälte“, die „Nationale Journalisten Union“, wissenschaftliche Organisationen, die „Brasilianische Bischofskonferenz“ und last not least die neu erstarkte Gewerkschaftsbewegung) setzte das Regime weiter unter Druck. Dies führte zum „sanften“ Bruch mit der Diktatur: 1985 wurde der Oppositionsführer Tancredo Neves „indirekt“, das heißt im von den Militärs konzedierten Parlament, zum Präsidenten gewählt, José Sarney, bis dahin aufseiten der Militärs, wurde Vizepräsident. In einer für die politische Geschichte Brasiliens typischen Tragik starb Tancredo Neves einige Tage vor der Amtsübernahme und José Sarney wurde der erste Präsident nach dem Abgang der Militärs. Man sprach in Brasilien von einer „transicão negociada“, einem zwischen den Militärs und der gemäßigten demokratischen Opposition ausgehandelten Übergang, eben einem „sanften“ Bruch.

Den Übergang zur Demokratie bestimmten zu Beginn die Militärs in deren Rhythmus und Grenzen selbst. Und die Kräfte des autoritären Regimes behielten auch nach dem Verlust ihrer führenden Rolle die Oberhand und damit eine große Verhandlungsmacht im historischen Prozess der Re-Demokratisierung. Die indirekte Wahl von Tancredo Neves und schließlich die Verfassunggebende Versammlung besiegelten dann die Rückkehr zur Demokratie.
Die Verfassunggebende Nationalversammlung wurde durch eine Änderung der von den Militärs 1967 aufoktroyierten Verfassung eingerichtet. Ihre Einberufung war eine Verpflichtung der Präsidentschaftskampagne von Tancredo Neves. Es lag dann in den Händen seines Nachfolgers José Sarney, diese Verpflichtung umzusetzen. Die Arbeit der „Constituinte“ wurde am 22. September 1988 nach der Abstimmung und Billigung des endgültigen Textes der neuen brasilianischen Verfassung abgeschlossen und am 5. Oktober 1988 verkündet.

Sarney hatte sich mit dem Vorschlag für eine Verfassunggebende Versammlung als zusätzliche Aufgabe des 1986 gewählten Parlaments durchgesetzt. Das stand im Gegensatz zu den Verfassunggebenden Versammlungen in Argentinien, Kolumbien, Venezuela, Bolivien, Ecuador und aktuell Chile, die alle separat gewählt wurden. Sie kumulierte ihre Funktionen mit denen der ordentlichen gesetzgebenden Gewalt des Kongresses. Diese Entscheidung hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die Arbeit der „Constituinte“, da sie zu einem Hin und Her zwischen der Alltagspolitik des Parlaments und der grundlegenden legislativen Arbeit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung führte.

Am Ende wurde die neue Verfassung mit 474 gegen 15 Stimmen bei sechs Enthaltungen im Parlament angenommen. Alle Parteien befürworteten die Annahme der neuen Verfassung bei der Schlussabstimmung, mit Ausnahme der PT, der drei Jahre zuvor vor allem aus den kritischen Gewerkschaften und basiskirchlichen Kreisen gegründeten Arbeiterpartei. Deren Symbolfigur und spätere Präsident Lula da Silva war übrigens selbst der mit den meisten Stimmen gewählte Abgeordnete des damaligen Parlaments. Lula und die PT sahen die Verfassung als übermäßig konservativ an. Er erklärte trotzdem am Ende, die mehrheitlich angenommene Verfassung bei der Verkündung zu unterschreiben und zu befolgen.

Die „Constituinte“ war danach der Ort, wo sich bis heute die im brasilianischen Parlament beherrschende Gruppe des „Centrão“ (Großes Zentrum) artikulierte: ehemalige Diktaturanhänger*innen, Politiker*innen, die die Nähe der Regierung brauchten, um an staatliche Ressourcen zu kommen, käufliche Figuren, die dafür sorgten, dass zu fortschrittliche Positionen nicht durchkamen.

Die Erarbeitung der Verfassung erfolgte in acht thematischen Ausschüssen. Dort wurden Entwürfe erstellt, die dann dem Plenum vorgelegt wurden. Dem Prozess wurde ein mächtiger Systematisierungsausschuss vorgeschaltet, der die Entwürfe entgegennahm und zusammenfasste. Entschieden wurde mit einer absoluten Stimmenmehrheit sowohl in den Ausschüssen als auch in den Plenarsitzungen, in denen die Vorlagen des Systematisierungsausschusses eingingen.

Durch intensive Lobbyarbeit gelang es der Zivilgesellschaft, viele „soziale Rechte“ in die Verfassung einzubringen, die Rechte von Indigenen und anderer ethnischer Minderheiten zu stärken und Partizipationsräume zu schaffen. Die Verfassung von 1988 ist und bleibt ein Meilenstein und eine Stütze von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten und eine wichtige Bastion in der Verteidigung der Demokratie angesichts der ständigen Angriffe des Präsidenten Jair Bolsonaro. Umso bedeutender wurde die Rolle des Verfassungsgerichts, das sehr häufig zur Abwehr der Angriffe Bolsonaros angerufen wird.