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Von Freuden und Pflicht

Robert Cohens Erzählung „Anna Seghers im Garten von Jorge Amado“
Gert Eisenbürger

Der eine oder die andere hat sicher als Schullektüre oder aus eigenem Antrieb die „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz gelesen, eine der wichtigsten literarischen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik. Der Roman beginnt damit, dass der in einer Besserungsanstalt inhaftierte Siggi Jepsen einen Aufsatz zum Thema „Die Freuden der Pflicht“ schreiben muss. Was ihm zunächst als Strafarbeit aufgebrummt wurde, wird für den Jugendlichen zu einer Möglichkeit, die Rolle seines Vaters zu reflektieren, der als Polizist geradezu fanatisch das Malverbot gegen einen von den Nazis als „entartet“ eingestuften Künstler umgesetzt hatte.

Die absurde Idee, dass Pflichterfüllung Freude bedeuten könne, war im preußischen Militärstaat, im Nationalsozialismus und auch noch lange im Nachkriegsdeutschland (Ost wie West) Teil der herrschenden Ideologie. Das, was als Pflicht bezeichnet wurde, wurde von den Herrschenden definiert und die Untertanen sollten sich dann gut fühlen, wenn sie sich den Vorgaben der Autorität unterwarfen, also gehorchten.

Jenseits solcher obrigkeitsstaatlicher Definitionen ist Pflicht eine ethische Kategorie und bedeutet, dass ein Individuum bestimmte moralische Grundsätze und Aufgaben für notwendig erachtet und sich danach richtet. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für soziales Verhalten, kann aber schnell in Widerspruch zu Freude und eigenen Bedürfnissen geraten, wenn etwa die eigenen Ansprüche im Gegensatz zu dem stehen, was man will oder wozu man Lust hat.

Der Widerspruch zwischen dem, was man tun möchte, und dem, was man tun muss oder meint tun zu müssen, ist ein zentrales Thema der Erzählung „Anna Seghers im Garten von Jorge Amado“ des in New York lebenden Schweizer Autors Robert Cohen. Obwohl alle im Text erscheinenden Personen real sind und Anna Seghers 1963 tatsächlich Brasilien besuchte und auch im Haus des Schriftstellerpaares Jorge Amado und Zélia Gattai in Salvador de Bahia zu Gast war, ist die Erzählung eine literarische Phantasie. Alles was Seghers, Amado und Gattai besprechen und besonders die Gedanken und inneren Monologe der deutschen Autorin entspringen alleine der Phantasie des Autors.

Solchen literarischen Texten stehe ich normalerweise eher skeptisch gegenüber. Ich habe ein ungutes Gefühl, wenn historischen Personen Gedanken angedichtet und Worte in den Mund gelegt werden, die sie zu Projektionsflächen für Themen und Konflikte machen, die Autor*innen bearbeiten wollen. Deshalb hat mich die vorliegenden Erzählung von Robert Cohen positiv überrascht, denn hier ist durchgängig zu spüren, dass es dem Autor nicht um eine eigene Nabelschau geht, sondern darum, den dargestellten Personen, allen voran Anna Seghers, gerecht zu werden.

Die 1900 in Mainz geborene Autorin war bereits Ende der Zwanzigerjahre zu einer der wichtigsten neuen Stimmen der deutschen Literatur geworden. Nach der Machtübernahme der Nazis musste die aktive Kommunistin fliehen und lebte zunächst im Pariser Exil. Die Besetzung Frankreichs durch nazideutsche Truppen zwang Seghers 1940/41, nun als Jüdin noch ungleich stärker gefährdet, zur erneuten Flucht. Über das Nadelöhr Marseille gelang ihr die Ausreise aus Europa. Nach einem kurzen, aber für ihr Schreiben wichtigen Aufenthalt auf der Karibikinsel Martinique kam sie 1941 nach Mexiko, wo sie bis zu ihrer Übersiedlung nach Ost-Berlin 1947 lebte.

Obwohl ihre Eltern von den Nazis ermordet wurden, sehnte sie sich in Mexiko nach einer Rückkehr in das Land, aus dem sie fliehen musste. Als Autorin wollte sie wieder in den deutschen Sprachraum, als Kommunistin hoffte sie auf einen sozialistischen Neuaufbau im Osten Deutschlands. Aus später veröffentlichten Briefen wissen wir, dass sie sich nach ihrer Rückkehr in Berlin sehr fremd fühlte. Sie beklagte die emotionale Kälte im Land, den Untertanengeist, nun auch gegen­über den Siegermächten, und den überall noch spürbaren Antisemitismus. Hier fühlte sie sich weitaus weniger zugehörig als in Mexiko, wohin sie als Fremde gekommen war, das sie aber trotz aller Widrigkeiten des Exils und eines schweren Unfalls, den sie nur knapp überlebte, lieben gelernt hatte.

Daraus entwickelte Robert Cohen sein Gedankenspiel: Was wäre, wenn Anna Seghers 1962 bei ihrem Besuch in Brasilien mit dem Gedanken gespielt hätte, nicht wieder nach Ost-Berlin zurückzukehren?

Undenkbar, wenn man dem vor allem nach der sogenannten „Wende“ gezeichneten Bild von Anna Seghers glauben mag. Sie wurde als die linientreue Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR bezeichnet und ihr wurde vorgeworfen, Verfolgten nicht beigestanden zu haben.

Doch das von Ressentiments geprägte Bild (Warum erdreistete sich auch eine hoch angesehene Autorin, sich für die DDR zu entscheiden?) wird der Autorin keineswegs gerecht, vor allem ignoriert es ihre Beweggründe, vor allem ihre tiefe Angst vor dem latenten Faschismus, den sie in der Bevölkerung der DDR oder auch Ungarns, woher ihr Mann László Radványi stammte, wahrnahm.

Anna Seghers war sicher keine unkritische Parteisoldatin, nahm Ungerechtigkeiten, Verbrechen und Widersprüche in der DDR sehr wohl wahr, kannte Zweifel. Ihr war das Schicksal Verfolgter auch keineswegs gleichgültig. Die Prager Autorin Lenka Reinerova, eine enge Freundin von Anna Seghers in Mexiko, die 1952 im Zuge stalinistischer Säuberungen in der Tschechoslowakei verhaftet worden und 15 Monate inhaftiert war, erzählte mir Ende der Neunzigerjahre, wie beschämt Anna Seghers bei der ersten Begegnung nach ihrer Haftentlassung war, dass sie nichts habe für sie tun können. Und natürlich wusste Anna Seghers, dass marxistische Exilierte, die wie sie nach dem Krieg in die DDR gegangen waren, sie aber später verließen, wie etwa Hans Mayer oder Ernst Bloch, keineswegs Konterrevolutionäre waren, als die sie die SED-Führung darzustellen suchte.

Vor diesem Hintergrund ist das Szenario, das der Erzählung zugrunde legt, keineswegs so unwahrscheinlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Seghers Liebe zu Lateinamerika bestand zeitlebens. Auch deshalb hat sie in ihrem Testament verfügt, dass die Tantiemen aus ihren Buchrechten in einen Preis fließen sollten, der jeweils zur Hälfte an junge deutsche und lateinamerikanische Autor*innen gehen sollte (lateinamerikanische Preisträgerin 2002 war übrigens Claudia Hernández aus El Salvador, vgl. Besprechung ihres neuen Romans in dieser ila).

So lässt Robert Cohen Anna Seghers resümieren, was dafür spricht, in Brasilien zu bleiben, und was dafür, in die DDR zurückzukehren. Dabei erweisen sich Freude und Pflicht als unvereinbare Gegensätze. Lateinamerika und Brasilien faszinieren sie, hier fühlt sie sich wohl wie lange nicht. Wunderbar ist, wie Cohen diese Begeisterung schildert, sie regelrecht spürbar macht, wenn er etwa einen Abend in einer Bossa-Nova-Bar oder ihre Teilnahme an einem Candomblé-Ritual beschreibt. Dem sinnlichen Erleben in Brasilien setzt er in ihren Überlegungen die kalten, rationalen Gründe für eine Rückkehr in die DDR entgegen, wo sie ihre Aufgabe sieht und wo sie doch gebraucht werde.

Neben Irmgard Keun ist Anna Seghers für mich seit langem eine Lieblingsautorin, die beiden Frauen haben für mich die besten Bücher des antifaschistischen Exils geschrieben. In diesem höchst ungleichen Autorinnen-Duo stand Seghers bei mir immer für Rationalität, Selbstkontrolle, Disziplin, Vorsicht und einen eher sparsamen Humor, während Irmgard Keun in nahezu allen Bereichen das Gegenteil verkörperte. Cohen erweitert dieses Bild und belegt mit Verweisen auf ihre literarischen Texte, dass Seghers sich auch auf vermeintlich Irrationales einlassen konnte. Denn sie wusste, dass sie nicht alles rational erklären konnte, vor allem nicht die eigene Verletzlichkeit und tiefe Verwundung. Der nähert sich Cohen in einer der berührendsten Passagen des Buches an, einem Tagtraum, in dem Anna Seghers eine Begegnung mit Franz Kafka in Prag imaginiert.

Das alles erzählt Cohen in dem kleinen Bändchen sehr behutsam und zurückhaltend. Vor allem findet er stets die richtigen Worte – was kann man Besseres über Literatur sagen.