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Eine Frauengeschichte von einem selbstbestimmten Leben

Eine Festschrift würdigt die argentinisch-österreichische Aktivistin Cristina Boidi
Laura Held

Wenn du nicht kämpfst, bist du verloren! „¡Si no luchas, estás perdida!“ Der programmatische Titel steht auf dem Buchcover, in Großbuchstaben auf der Umschlagseite, dann noch einmal auf dem Titelblatt, und als Graffito auf der Seite vier, wo der Titel erklärt wird. Als ob er einer Erklärung bedarf! Die Geschichte lautet wie folgt: Kurz bevor die Philosophin Maria Cristina Boidi 1974 „aus politischen Gründen“ von ihren Lehraufträgen an der Universität Santa Fe, ihrer Heimatstadt in Argentinien, enthoben wurde, bewarb sie sich als Direktorin für eine neu gegründete Mittelschule ebendort. Sie widmete sich ihrer neuen Aufgabe mit großem Enthusiasmus. Am 11. November 1975 wurde sie an ihrem Arbeitsplatz von Beamten der Provinzpolizei in Zivil verhaftet und verschwand für lange Zeit in einer Gefängniszelle. Im Jahr 2018, als sie als erste Schulleiterin der „E.E.M. Nr. 264 Constituyentes“-Mittelschule dort geehrt wurde, wo Schergen der Diktatur sie einst abführten, malte eine Gruppe von Schüler*innen im Hof der Schule dieses Graffito.

Diese Geschichte samt Spruch passen sehr gut zu der Geehrten. Das im Wiener Spittelberg-Verlag für die Grüne Bildungswerkstatt 2021 erschienene Buch ist eine vielstimmige Hommage an Cristina Boidi zu ihrem 80. Geburtstag. Über 100 Frauen und einige wenige Männer haben sich mit Geschichten, Essays, philosophischen Betrachtungen, Gedichten, Zeichnungen und vielen Fotos an dem Buch beteiligt. Alle Beiträge sind auf Spanisch und Deutsch zu lesen. Sie erzählen einigermaßen chronologisch das Leben einer mutigen und kämpferischen Frau, deren Leben zweigeteilt wurde.

Die erste Hälfte ihres Lebens verbrachte sie in Santa Fe in Argentinien, bis sie festgenommen und jahrelang eingesperrt wurde. Die zweite Hälfte lebte sie in Wien in Österreich, wo sie sich zusammen mit Freundinnen und Mitstreiterinnen für die Selbstorganisation migrantischer Frauen einsetzte. Frauen, wie sie selbst eine war, zu einer gemacht wurde, als sie 1979 ohne Deutschkenntnisse in Wien im Exil landete. Der Kampf für Frauenrechte, Migrantinnenrechte, auch und vor allem von Sexarbeiterinnen, war bei ihr immer gepaart mit einer scharfen politischen Analyse der globalen Situation von Migrantinnen und dem unerschütterlichen Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen und zusammen mit anderen für die Veränderung der Verhältnisse zu kämpfen.

Wer ist Cristina Boidi? Auf dem Cover ist eine ältere Dame zu sehen, die lacht und trinkt und mit den Händen redet. Von ihrem Leben erzählt in diesem Buch am schönsten Ulrike Lunacek, langjährige LGBTI-Aktivistin, Bundes- und Europapolitikerin der Grünen in Wien. Sie hielt 2015 die Laudatio anlässlich der Verleihung des Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um das Land Wien an María Cristina Boidi, eine der vielen Ehrungen der letzten Jahre für sie.

Geboren wurde Cristina Boidi 1941 in Santa Fe, einer der größten Städte Argentiniens. Sie wuchs in einer großen (Vater und Mutter hatten sehr viele Geschwister) bürgerlichen Familie auf. Das Haus und der in Argentinien unvermeidliche Grillplatz standen offen für Verwandte und Freundinnen und Freunde, später auch für ihre politischen Compañeras und Compañeros. Reden, kommunizieren, streiten, sich einsetzen, Farbe bekennen – das alles waren schon früh ihre Markenzeichen. Schon als Kind sagte sie, dass sie nie heiraten würde, sie galt als rebellisch. Sie stürzte sich in die Bewegungen der zu Ende gehenden 1950er-, der 1960er- und der beginnenden 1970er-Jahre, beeinflusst von der cubanischen Revolution, Philosophie und Politik, der Theologie der Befreiung, von Feminismus, Marxismus, Psychoanalyse und den studentischen und Gewerkschaftskämpfen. Sie engagierte sich politisch bereits als Philosophiestudentin, später als Professorin und Lehrerin, war Vorstandsmitglied der argentinischen Lehrer*innen- und Professor*innen-Gewerkschaft.

Als 1976 die Militärs auch in Argentinien putschten, wurde sie wie viele andere verfolgt, schwer gefoltert und dann ins Gefängnis Devoto bei Buenos Aires gebracht. Sie überlebte mit viel Glück und musste 1979 ihr Land verlassen. Österreich war nicht ihr Wunschziel, aber sie landete in Wien. Im Jahr 1980 bekam sie dort politisches Asyl. Sie lernte Deutsch, kämpfte jahrelang darum, dass ihr argentinischer Universitätsabschluss anerkannt wurde, und sie begann – geschult in gewerkschaftlichen Bewegungen – die lateinamerikanischen Frauen im Exil zu organisieren. Es gab damals keine Deutschkurse oder sonstige Unterstützung für Frauen. Deswegen gründete sie zusammen mit anderen Frauen 1985 LEFÖ (Lateinamerikanische Emigrierte Frauen in Österreich), eine Initiative von und für Flüchtlingsfrauen aus Lateinamerika. Fast vier Jahrzehnte widmete sie ihre ganze Kraft und Energie der Selbstorganisation von Frauen, vor allem von Migrantinnen. Die Diskussionen um Exil, Migration, Frauenhandel und Sexarbeit in Wien, in Österreich und in Europa prägte sie entscheidend mit.

In dem Buch ist vieles zu erfahren über die Familie und ihre Einwanderungsgeschichte aus Italien nach Argentinien. Mitstreiterinnen berichten über die gewerkschaftlichen Aktivitäten und nächtelangen Debatten. Erschütternd ist das Protokoll ihrer Folterungen, das sie 2009 im Rahmen der Prozesse gegen die Verantwortlichen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Zeugin für einen Mitgefangenen (und ebenfalls Gefolterten) verfasste. Auch ihre Akten aus den Archiven der Militärdiktatur sind abgedruckt. Kampfgefährtinnen aus dieser Zeit kommen zu Wort, ebenso wie später die vielen Freund*innen, Schüler*innen, Weggefährt*innen ihres immer eminent politischen Lebens. Dazwischen ist ein Bruch – Cristina Boidi redet und erzählt gerne und viel, aber über die Zeit der Folterungen und Demütigungen sprach sie nicht, wie immer wieder in den Beiträgen erwähnt wird.

Etwa die Hälfte der Beiträge kommt aus Argentinien, die anderen aus Österreich. Einige der österreichischen Schreiberinnen haben lateinamerikanische, andere iranische, marokkanische oder sudanesische Wurzeln. Im argentinischen ersten Teil sind es neben der Familie oft Professorinnen, Lehrerinnen und Gewerkschafterinnen, im Wiener Teil Politikerinnen, Sozialarbeiterinnen, Therapeutinnen, Kreative, Künstlerinnen. Alle sind sie Aktivistinnen und Freundinnen. Für sie ist Cristina, wie sie sie nennen, „la gorda Boidi“, „die Meisterin“, „die Seele von LEFÖ“, „role model“, „Visionärin“, „Kämpferin für die vielen“, „eine Rebellin“, „Symbolfigur der Unbeugsamkeit“, „Pionierin“ oder schlicht eine „beständige Mitstreiterin“. Besondere Beiträge sind den Organisationen LEFÖ, Tampep (Europäisches Netzwerk für Gesundheitsförderung und Menschenrechte von Sexarbeiterinnen) und der „Frauensolidarität“ in Wien, für deren gleichnamige Zeitschrift Cristina Boidi etliche Artikel schrieb, gewidmet.

LEFÖ ist heute weit über Wien hinaus zu einer Institution geworden (siehe Kasten) und ist Treffpunkt, Lernlabor, Beratungsstelle, Wohnungsvermittlung und vieles andere mehr für „Migrantinnen. Illegalisierte, Marginalisierte, Stigmatisierte. Hausarbeiterinnen, Sexarbeiterinnen, Erntehelferinnen, Saisonarbeiterinnen, Tänzerinnen und Kellnerinnen, Masseurinnen, Ehefrauen, Au-pairs“, wie Mitherausgeberin Faika El-Nagashi schreibt, die elf Jahre zusammen mit Cristina Boidi für LEFÖ arbeitete. Die zweite Herausgeberin, María Rosa Pérez Abellá, ist die Lebensgefährtin der Geehrten. Sie beschreibt in ihrem Beitrag „La Perla“ die Enthüllung der Skulptur „Las Hijas de Evita“ (Evitas Töchter) im ehemaligen geheimen Haft- und Vernichtungslager „La Perla“ in der argentinischen Provinz Córdoba 2018 in Gedenken an drei „Verschwundene“, an der Cristina Boidi teilnahm. Es war das erste Mal, dass sie die Kraft fand, eines der geheimen Haft-, Folter und Todeszentren in Argentinien zu besuchen (auch die Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis in Europa konnte sie nicht betreten). Mit einer der Verschwundenen, Graciela María de los Milagros Doldan, alias „Monina“, Armen-Anwältin und Anführerin der politisch-militärischen Bewegung Sabino Navarro (einer Dissidentengruppe der Montoneros) war Cristina Boidi eng befreundet. „Die Zeremonie“, schreibt María Rosa Pérez, „war auch eine Gelegenheit der Revanche.“ Cristina Boidi war lange Herz, Seele und Motor von LEFÖ. Auch Tampep hat sie 1993 mitgegründet und mitgestaltet. LEFÖ und Tampep machten Frauenhandel und Sexarbeit dezidiert zu ihrem Themenschwerpunkt, was ihnen innerhalb der Frauenbewegung nicht nur Zustimmung eintrug.

Frauengeschichte, sagt die Sozialwissenschaftlerin und Kulturvermittlerin Petra Unger in ihrem Beitrag, ist die „Königinnendisziplin“ der feministischen Erzählung, ein Akt der Selbstermächtigung und der Solidarität. Dasselbe gilt für dieses Buch: Es ist eine Frauengeschichte, ein Akt der Selbstermächtigung und der Solidarität.