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Der Ausgang aus der unverschuldeten Unterdrückung

Im Roman „Tomar tu mano” beschreibt Claudia Hernández die Funktionsweise des Patriarchats
Gaby Küppers

So war es, so ist es, so wird es immer sein: „Er will sie auf den Knien“, lesen wir, bevor noch die erste von 300 Seiten des neuen Romans „Tomar tu mano“ (2021) der Salvadorianerin Claudia Hernández (geb. 1975) endet. Das ist wörtlich gemeint, aber das Kommende wird zeigen, dass damit auch der Platz von Frauen aus männlicher Sicht beschrieben ist. Ein Vater züchtigt zu Beginn des Romans seine Tochter, weil sie sich unerlaubt auf das Grundstück gegenüber gewagt hatte. Anders gesagt: weil das Mädchen dem Gesetz des Vaters nicht gehorchte. Dieses unhinterfragt zu befolgen muss sie noch lernen. Körperlich.

So ist es ein Leben lang, viele weibliche Leben lang. Die Kontrolle der Männer ist immer da, seien sie Vater, Liebhaber, Onkel, Nachbar. Unterwerfung, Missbrauch und Gewalt sind im häuslichen Raum allgegenwärtig. Schlimm, aber nicht zu leugnen ist, dass auch die in den patriarchalen Verhältnissen domestizierten Frauen mitmachen. Auch sie vertreten die Meinung, Frauenarbeit sei unmännlich, Frauen hätten sittsam auf ihre Heirat zu warten und Männer vergriffen sich nun mal an hübschen Mädchen. Die Mutter maßregelt die Tochter, die Nachbarin schweigt, wenn nebenan der (temporäre) Hausherr Frauen und Kinder zusammenschlägt, die Tante schaut weg, wenn sich ihr Mann die Kleine ihres Bruders nimmt. Die Rollenbilder werden für ehern gehalten.

Sie sind alle Gefangene einer Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren gilt: Der Onkel nimmt den Neffen zu nächtlichen Aufträgen mit. Niemand redet darüber, dass sie, Onkel und Neffe, für Banden und Paramilitärs Schmiere stehen, Menschen entführen, foltern, sie töten. Nachfragen ist unausgesprochen lebensgefährlich. Ermorden oder ermordet werden.

Gewalt bringt Gewalt hervor. Sexualisierte Gewalt. Die Männer haben keine Namen, und auch die Frauen und Mädchen nicht. Denn es könnte jede und jeder sein. Man verortet sie unwillkürlich im ländlichen Milieu El Salvadors. Dem Land also, aus dem Claudia Hernández stammt, die Autorin dieses neuen, auch diesmal wieder unweigerlich Gänsehaut hervorrufenden Romans angesichts der latenten und oft auch manifesten Grausamkeit auf jeder Seite. Aber die Personen könnten auch sonst wo in Zentralamerika agieren. Oder, warum eigentlich nicht, irgendwo auf der Welt. Denn es geht um die allgegenwärtigen Spielregeln des Patriarchats.

Wobei von Spiel keine Rede sein kann. Das stärkste Symbol männlicher Macht drückt bittersten Ernst aus: die Waffe – das Gewehr der Todesschwadronen, die Machete des Bauern, aber auch des misstrauischen Partners in einer Beziehung. Auf der emotionalen Ebene ist es die Eifersucht, die sich nur zu Anfang einer Beziehung als Liebe tarnt und schnell umschlägt in offen behauptetes Besitzrecht, das der Mann – es ist immer der Mann – als verletzt betrachtet. Frauen können nur abstreiten und Strafen erdulden. Solange Frauen es nicht schaffen, das Haus oder die Gemeinde zu verlassen, um sich zu bilden und/oder ein eigenes Einkommen zu haben, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich in einem Teufelskreis zu drehen.

Im Beschreiben dieser fatalen Situation ist Claudia Hernández Meisterin. Während der Plot des Romans gleichsam zwischen den Fingern zerrinnt, weil Szenen überblendet werden und die namenlosen Figuren sich unmerklich in andere – natürlich immer desselben Geschlechts – verwandeln, werden aus der Geschichte die vielen Geschichten all der Männer und Frauen, die ihre kulturell zugeschriebenen Rollen mit „Natur“ verwechseln.

Der Verzicht auf Namen und die Überblendtechnik machten schon Claudia Hernández’ ersten Roman „Roza, Tumba, Quema“ (2017, s. ila 414) über den Krieg im vertraglich beschlossenen Frieden El Salvadors, wie ihn Frauen empfinden, ebenso wie den folgenden, „El Verbo J“ (2018, s. ila 432), über Migration und Transsexualität zu außergewöhnlich packenden Parabeln über Geschlechter- als Gewaltverhältnisse. In ihrem neuen Roman hat Claudia Hernández den Dialog als Stilmittel und – im wörtlichen Sinne – Ausdruck perfektioniert. Der Roman ist gleichsam ein einziger Chor aus vielen Stimmen. Ein Hör-Buch aus kurzen Sätzen, lakonischen Feststellungen, verschlucktem Schmerz, Meinungen, am Herd ausgesprochen, am Steuer, am Fenster.

Und dann verpasst man, gefangen von der vermeintlichen Ausweglosigkeit von Leben in der Gewalt, fast die Hinweise auf das Türchen aus dem Käfig:

„Warum wollte sie einen anderen Mann, fragte er.

Warum sollte sie überhaupt einen wollen“, dachte sie

(S. 148, Übersetzung G.K.)

Und später:

„Die Frau, die er hatte, hat ihn verlassen.

Wegen eines anderen?

Wegen ihrer selbst.

Sie ist lieber allein.“ (S. 268, Übersetzung G.K.)

Das ist der erste Schritt. Sich nicht mehr als Besitz eines Mannes zu denken. Und dann der Schluss, der den Romantitel lieferte: „Tomar tu mano“. Sie – eine der vielen Sies – nimmt die Hand, die eine andere ihr reicht. Nur gemeinsam sind die Frauen stark, könnte die Sentenz sein. Aber Happy Ends und einfache Lösungen sind Claudia Hernández’ Sache nicht.

Zu schade, dass die Romane dieser herausragenden Autorin, Anna-Seghers-Preisträgerin 2004, bislang ins Englische, Französische und Schwedische übersetzt wurden, aber nicht ins Deutsche.