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Eine Geschichte aus Blut, Schweiß und Tränen (der anderen)

Die Landfrage in Patagonien

Für die argentinischen Eliten des 19. Jahrhunderts, die sich in der zukünftigen Hauptstadt Buenos Aires etablierten, war der Süden „die Wüste“. Folgerichtig nannten sie ihre Versuche, diese Wüste unter ihre Kontrolle zu bringen, Campaña del Desierto (Wüstenkampagne) oder Conquista del Desierto (Wüsteneroberung).

Roberto Frankenthal

Die Wüstenkampagne wurde zwischen 1833 und 1834 durchgeführt und geleitet von Juan Manuel de Rosas, der davor und danach (1829-1832 und 1835-1852) das Amt des Gouverneurs der Provinz Buenos Aires ausübte. Bis heute wird Rosas in Argentinien wegen seiner Haltung gegenüber den Kolonialmächten Frankreich und England und seines Einsatzes für eine föderale Struktur des Landes gewürdigt, aber in Bezug auf die „Wüste“ und ihre Einwohner*innen war er ein Kind seiner Zeit. Die Ureinwohner*innen Patagoniens hatten für Rosas und das damalige argentinische Establishment einfach keinerlei Rechte. Die „Wüste“ begann für die damalige Elite südlich der Hauptstadt Buenos Aires, rund 400 km in Richtung Patagonien. Dort, auf dem heutigen Boden der Provinz Buenos Aires, gab es eine Reihe von Befestigungen, Fortines genannt, die den Machtbereich des damaligen Staates begrenzten. Die südlich davon liegende „Wüste“ war zwar dünn besiedelt, aber menschenleer war sie keineswegs. Lange vor der spanischen Eroberung lebten hier Ranquele, Tehuelche und Mapuche, halbnomadische Stämme, die diesseits und jenseits der Anden siedelten.

Nach Angaben von Rosas befanden sich ca. 30 000 Eingeborene auf der argentinischen Seite der „Wüste“. Das erklärte Ziel seines Vormarschs war, diese Eingeborenen an den Rand der Anden oder wenn möglich über die Bergkette zu drängen, um den Machtanspruch der entstehenden landwirtschaftlichen Oligarchie auf die fruchtbare Pampa zu sichern. Rosas Truppen errichteten neue Fortines entlang der Flüsse Río Negro und Río Colorado. Der entfernteste Posten war auf der Insel Choele-Choel, in der Nähe der heutigen Stadt Bariloche, Provinz Río Negro. In einer Ansprache an die Truppen im März 1834 sagte er: „Soldaten, die wunderschönen Ländereien, die sich bis zum Fuß der Anden erstrecken und die Küsten bis zum Magellan (die Magellan-Straße im Südatlantik trennt Feuerland von Patagonien – R.F.), sind jetzt offen für unsere Söhne.“ Die Presse von Buenos Aires veröffentlichte bereits im Dezember 1833 Zahlen zum ersten Völkermord der argentinischen Geschichte: 3200 tote Indigene, 1200 Gefangene und angeblich 1000 befreite „Christen“, die Gefangene der Eingeborenen gewesen seien. (Quelle: Gaceta Mercantil, 24.12.1833).

Zwischen dem Ende der „Wüstenkampagne“ von Rosas und der „Wüsteneroberung“ durch General Roca (1878-85) befand sich Argentinien mehr oder weniger im Bürgerkrieg. Bis zum Jahr 1853 standen sich dabei vordergründig die Anhänger eines föderalen und die eines zentralisierten Staates gegenüber. Im Hintergrund wurden die Machtverhältnisse zwischen der Hafenstadt Buenos Aires und den Provinzen im Inneren des Landes geklärt. Während dieser Jahrzehnte gab es auch innerhalb der Provinzen militärische Auseinandersetzungen um die Organisationsform des Staates. Erst 1880 wurde der Status der Stadt Buenos Aires als Bundeshauptstadt festgeschrieben. Noch davor, zwischen 1865 und 1870, hatten Truppen Argentiniens, Brasiliens und Uruguays auf Druck Englands Paraguay angegriffen, um den dortigen Versuch einer autonomen Entwicklung mit Gewalt zu beenden.

Die eingeborenen Stämme im Süden hatten diese Zeit, in der das argentinische Militär in Paraguay gebunden war, genutzt, um sich einen Teil der Fläche Nordpatagoniens, die von Rosas 1833/34 erobert worden war, wieder anzueignen. Für die argentinische Oligarchie, die in der Pampa vor allem Rinderzucht betrieb, wurden die Angriffe der Indigenen zunehmend zum Problem, denn bei jedem Eindringen in die Pampa sicherten sich diese große Mengen an Viehbeständen und Gefangenen.

Die Einstellung gegenüber den Einwohner*innen der „Wüste“ seitens des Establishments hatte sich nicht verändert, niemandem in Buenos Aires wäre in den Sinn gekommen, dass die Indigenen lange vor ihnen da waren und ein historisches Anrecht auf das Land hatten. 1870 veröffentlichte der Offizier und Schriftsteller Lucio V. Mansilla sein Buch Una excursión a los indios ranqueles. Darin findet man Sätze wie „Wann wird in dieser Wüste die rosa Sonne aufgehen? Ja, wann? Erst dann wenn die ranqueles unterworfen, ausgerottet, zivilisiert oder wahre Christen geworden sind.“

1877 wurde der General Julio Argentino Roca zum Kriegsminister der argentinischen Regierung ernannt. Bereits Jahre zuvor hatte er erklärt: „Meiner Meinung nach ist die beste Lösung für das Problem der Eingeborenen, sie entweder dazu zu bringen, sich südlich des Río Negro niederzulassen, oder sie auszurotten, wie Rosas es fast erfolgreich durchgeführt hat.“

Ausgestattet mit modernen Winchester-Gewehren und erprobten Soldaten aus dem Bürgerkrieg und dem Krieg gegen Paraguay, besiegte die argentinische Armee die Stämme Patagoniens. Nach Aufzeichnungen einer Gruppe von Wissenschaftlern, die die Armee begleitet hatten, wurden dabei etwa 14 000 Ranquele, Tehuelche und Mapuche umgebracht. Mehr als 10 000 Menschen aus diesen Stämmen wurden gefangen genommen und nach Buenos Aires und in die Provinzen des argentinischen Nordwestens deportiert. Obwohl nominell die Sklaverei 1813 abgeschafft wurde, teilte die Zeitung El Nacional aus Buenos Aires mit: „...jeden Mittwoch und Freitag verteilt unser Wohltätigkeitsverein eingeborene Männer und Frauen an die Familien dieser Stadt“. Um nicht so wie in den USA die Überlebenden in Reservaten unterzubringen, wurden Familien und Sippen auseinandergezerrt und ihre Kinder an „gute Familien“ weitergereicht, damit sie sich an die Mehrheitskultur anpassten. Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen wurden im heutigen Río Negro zeitweilig mehrere Konzentrationslager eingerichtet, und eine Gruppe von Häuptlingen musste an einem Todesmarsch von 1000 Kilometern bis Carmen de Patagones teilnehmen. Die neu gewonnenen Ländereien in der „Wüste“ wurden hauptsächlich unter den Offizieren der Roca-Armee verteilt und an die Agraroligarchen der Provinz Buenos Aires.

Auf diesem historischen Hintergrund und wegen des kargen Bodens Patagoniens etablierte sich im Süden des Landes eine extensive Viehwirtschaft, hauptsächlich Schafzucht. Hier eine Liste der heutigen sechs größten Landbesitzer Patagoniens:

1.) Benetton-Gruppe (Italien): 900 000 Hektar in Neuquén (das entspricht der Fläche Zyperns, wo 1,1 Millionen Menschen leben – die Red.), Río Negro, Chubut und Santa Cruz. Seit 2002 befindet sich die Benetton-Gruppe im Konflikt mit der Mapuche-Familie Curiñanco-Nahuelquir. Benetton möchte diesen Konflikt durch eine Landspende beenden, die Mapuche möchten aber, dass ihre Eigentumsrechte anerkannt werden.

2.) Familie Menéndez-Braun (Argentinien): 750 000 Hektar in Chubut, Santa Cruz und Feuerland. Die Gründer dieser Familie führten den Vorstoß der Roca-Eroberung bis in den tiefsten Süden des Landes weiter. Einer der Verwalter von den Menéndez-Estancias in Feuerland ist für den Völkermord an der Selknam-Ethnie zwischen 1880 und 1905 verantwortlich (vgl. den Beitrag „Das Kamel des Südens“ in dieser ila). Auf der Estancia „La Anita“ in der Provinz Santa Cruz wurden 1921 mindestens 150 Landarbeiter nach einem mehrmonatigen Streik durch die Armee erschossen (vgl. den Beitrag „Das große Massaker“ in dieser ila). Heutzutage besitzt die Familie Supermarktketten, Werften, Versicherungen, Verlage u.a. Der frühere Kabinettschef in der Präsidentschaft von Mauricio Macri (2015-2019), Marcos Peña Braun, gehört auch zu dieser Familie.

3.) Lázaro Báez (Argentinien): 470 000 Hektar in 25 Estancias in der Provinz Santa Cruz. Der Bauunternehmer, der angeklagt wurde, Gelder für die Kirchners (Nestor Kirchner, Präsident von 2003-2007, Cristina Fernández de Kirchner, Präsidentin 2007-2015, z. Zt. Vizepräsidentin) zu waschen, saß während der Macri-Regierung mehrere Jahre in Haft und kämpft heute juristisch darum, seine beschlagnahmten Güter zurückzubekommen.

4.) Familie Sapag (Argentinien): 420 000 Hektar in der Provinz Neuquén. Die Nachkommen einer Einwanderer-Familie aus dem Libanon ließen sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Neuquén nieder. Die Söhne und Enkelsöhne der Familiengründer bestimmen seit den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Politik der Provinz. Zuerst auf kommunaler, dann auf provinzieller und zuletzt auf nationaler Ebene waren die Sapags die treibende Kraft hinter dem Movimiento Popular Neuquino, einer Provinzpartei konservativen Charakters, die fast immer mit dem Peronismus kooperierte.

5.) Gruppe Heilongjiang Beidahuang (China): 330 000 Hektar in der Provinz Río Negro. Der größte Teil des Besitzes befindet sich im mittleren Tal des Flusses Río Negro. Der Gouverneur der Provinz erteilte der Gruppe 2011 die Genehmigung, dort Soja anzubauen, aber ein Gericht erließ dagegen eine einstweilige Verfügung. Der Fall ist noch nicht entschieden.

6.) Familie Pérez Companc (Argentinien): 290 000 Hektar in der Provinz Chubut (das sind 40 000 Hektar mehr als die Fläche Luxemburgs, wo 580 000 Menschen leben – die Red.). Die während der letzten Militärdiktatur groß gewordene Erdöl-und Finanzgruppe verwaltet diesen Besitz aus steuerlichen Gründen durch eine in Uruguay ansässige Gesellschaft.
Während der Verfassungsreform von 1994 wurde der Artikel 75 Absatz 17 verändert und die Rechte der Indigenen wurden gestärkt. Seitdem gelten:

a.) Anerkennung der kulturellen und ethnischen Anwesenheit indigener Völker vor der Gründung des argentinischen Staates;

b.) Garantie für ihre Identität und eine zweisprachige interkulturelle Bildung;

c.) Anerkennung des gemeinschaftlichen Eigentums als juristische Personen auf dem Boden, den sie traditionell besitzen;

d.) Regulierung der Landvergabe an indigene Gruppen, um eine menschliche Entwicklung zu ermöglichen;

e.) das gemeinschaftliche Eigentum ist weder pfändbar, übertragbar oder veräußerlich und darf nicht mit Pfandrechten belastet werden.

Doch auch in Argentinien ist Papier geduldig, und die Wirklichkeit steht ziemlich im Widerspruch zu dem Ver­fassungstext. Besonders die Mapuche, die aus der Erfahrung der jahrzehntelangen Auseinandersetzung ihrer Verwandten auf der chilenischen Seite der Anden gelernt haben, bestehen darauf ihre Rechte durchzusetzen. In diesem Zusammenhang kam es 2017 zu einer Landbesetzung in Cushamen, in der Provinz Chubut. Die Mapuche erheben Anspruch auf einen Teil einer der Estancias der Benetton-Gruppe. Eine Gruppe von ca. 30 Männern, Frauen und Kindern besetzten die Fläche, die sie beanspruchen. Darunter war auch der Straßenkünstler Santiago Maldonado, der sich der Gruppe aus solidarischen Gründen angeschlossen hatte. Die argentinische Regierung mobilisierte mehrere Hundertschaften der Gendarmería (Grenzpolizei), um die Besetzung zu beenden. Während der Räumung versuchte Maldonado zu flüchten, indem er einen Fluss überquerte. Alle Indizien sprechen dafür, dass er dabei von der Gendarmería ermordet worden ist, allerdings wird der Fall immer noch vor Gericht untersucht. Tatsache ist, dass Maldonado ab dem 1. August 2017 „verschwunden“ war. Am 17. Oktober 2017 wurde seine Leiche gefunden. Um die brutale Gewaltanwendung zu rechtfertigen, stellte die damalige Sicherheitsministerin Patricia Bullrich die Landbesetzung als einen Teil der Aktivitäten der RAM (Resistencia Ancestral Mapuche – Angestammter Mapuche-Widerstand) dar. Als Grundlage dafür zitierte sie einen nachweislich erfundenen Nachrichtendienstlichen Bericht der chilenischen Carabineros, in dem behauptet wurde, die RAM sei mit der Unterstützung der baskischen ETA, der kurdischen PKK und der kolumbianischen FARC (drei Organisationen, die in Asien, Europa und Lateinamerika beliebte Feindbilder sind, aber politisch und organisatorisch kaum Gemeinsamkeiten haben – die Red.) aufgebaut worden.

Im November 2017 gab es einen ähnlichen Vorfall, diesmal im landschaftlich wunderschönen Lago Mascardi im Nationalpark Nahuel Haupi, in der Nähe von Bariloche. Die Mapuchegemeinde Lafken Winkul Mapu beansprucht dort einen Hügel oberhalb des Sees und besetzte ihn mit ca. 20 Personen. Dazu gehörte der in Bariloche ansässige 22-jährige Rafael Nahuel, der seine Mapuche-Wurzeln wieder entdeckt hatte. Eine bewaffnete Gruppe der Prefectura Naval (Küstenwache) stürmte den Hügel, um die Besetzung aufzulösen. Dabei wurde Rafael Nahuel nachweislich durch den Schuss eines Mitglieds der Prefectura getötet.

Das Muster ist immer ähnlich. Wenn die Nachkommen der argentinischen Urbevölkerung ihre verfassungsmäßig anerkannten Rechte beanspruchen, geraten sie fast immer in Konflikt mit wirtschaftlichen Interessen, die ihre Ländereien entweder aus landwirtschaftlichen (Cushamen), touristischen (Mascardi) oder anderen Gründen (Vaca Muerta) in Besitz genommen haben. Diese Interessengruppen haben in der Regel die Unterstützung der lokalen Behörden und bewegen die örtliche Justiz dazu, die besetzten Ländereien gewaltsam räumen zu lassen. Ausgestattet mit diesen Vollmachten, fühlen sich die Sicherheitskräfte (so wie ihre Vorgänger im 19. Jahrhundert) dazu berufen, die Landfrage in Patagonien auf ihre Art und Weise zu lösen.