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Das Kamel des Südens

Die Indigenen Patagoniens und Feuerlands wussten von und mit den Guanakos zu leben

„Das Guanako oder wilde Lama ist der charakteristischste Vierbeiner der Ebenen von Patagonien; für Südamerika ist es das Kamel des Orients“, schrieb der Naturforscher Charles Darwin in einem Expeditionsbericht über seine Weltumsegelung mit der HMS Beagle von 1831 bis 1836. „Es ist ein elegantes Tier, mit einem langen schmalen Hals und schlanken Beinen. Es ist überaus zahlreich in allen gemäßigten Zonen des Kontinents, im ganzen Süden bis zu den Inseln am Kap Hoorn. Es lebt meist in kleinen Herden von 12 bis 30 Tieren, aber an den Ufern von Santa Cruz sahen wir eine Herde, die mindestens 500 Tiere zählte.“ Das Guanako gibt es in Patagonien und Feuerland immer noch, aber ein Großteil der Population wurde ausgerottet, um seine Lebensräume für die Schafzucht nutzen zu können.

Laura Held

Das Guanako ist die größte wildlebende Säugetierart Südamerikas, kann über zwei Meter hoch werden (meist aber nur 1,50 m), mit einer Schulterhöhe von 1,20 Metern und einem Gewicht bis zu 120 Kilogramm. Es gehört zur Familie der Kamele. Neben den beiden in Asien und Afrika verbreiteten Arten, dem zweihöckrigen Trampeltier und dem einhöckrigen Dromedar, gibt es in Südamerika in der Gruppe der Kameliden vier „Kamele ohne Höcker“: die beiden heute noch wild lebenden Arten Vicuña und Guanako und die zahmen Lamas und Alpakas. Aus Guanakos wurden die Lamas und durch die Einkreuzung von Vikuñas wohl auch die Alpakas gezüchtet (wobei die Domestizierung vor über 4000 Jahren begann). Alle vier sind fertil miteinander kreuzbar.

Das Guanako hat einen kleinen Kopf, große Augen, lange, aufgerichtete und sehr bewegliche Ohren und die für Kamele typische hängende gespaltene Oberlippe, die mit den beiden schlitzartigen Nasenlöchern ein Y bildet. Es lebt in kleinen Gruppen, die meiste Zeit des Jahres ein Hengst mit seinen Stuten, die alle zwei Jahre ein Junges bekommen, ein Chulengo. Geschlechtsreife Tiere werden vertrieben und leben in Mädels- oder Jungsrudeln, bis es ein Macho (der Begriff bezeichnet im Spanischen männliche Tiere, später wurde er auch zur Bezeichnung eines bestimmten Typus von Männern benutzt – die Red.) schafft, sich eine eigene Herde zusammenzustellen. Manche Herden legen große Strecken zurück, andere bleiben ihrem Standort treu. Der Macho beziehungsweise Hengst markiert sein Terrain, indem er immer auf den gleichen Haufen mistet. Darwin maß bis zu 2,5 Meter Durchmesser.

Das Guanako ist ein Überlebenskünstler, extreme Hitze und Kälte machen ihm nichts aus. Es lebt am liebsten im offenen Grasland, kann aber auch auf Höhen bis zu 4500 Metern und in Wäldern überleben, am Meer oder im Schnee im äußersten Süden. Es frisst Gräser, Moose, Gestrüpp, auch Kakteen und kann – wie alle Kamelide – lange ohne Wasser auskommen. Es ist sehr schnell, kann schwimmen und ist wehrhaft: Gegen seine natürlichen Feinde, Pumas und Andenschakale, verteidigt es sich mit Tritten und Bissen – und spuckt aus einem seiner drei Mägen eine ätzende Flüssigkeit, weswegen in Chile die von der Polizei bei Demonstrationen eingesetzten Wasserwerfer Guanakos genannt werden.

Man schätzt, dass es vor der Ankunft der Spanier 30 bis 50 Millionen Guanakos in Südamerika gab. Es waren immer noch viele Millionen in Patagonien, als ab Ende des 19. Jahrhunderts der Süden Argentiniens und Chiles zum Eldorado der Schafzüchter wurde. Vor allem aus Schottland, Wales und Deutschland strömten Einwander*innen dorthin, um das „leere“ Land mit ihren Schafen zu bewirtschaften. Es wurden flugs Viehzuchtgesellschaften gegründet und Anteilsscheine überall in Europa verkauft. 50 Jahre nachdem die ersten Schafe nach Patagonien gebracht wurden, gab es schon 20 Millionen davon. Manche Schafzüchter, wie der aus Spanien stammende Kaufmann José Menéndez, der aus Litauen vor den Judenpogromen geflüchtete Moritz Braun und der portugiesische Walfänger José Noriega, brachten es mit brutaler Energie zu Ländereien, die größer als manche europäische Länder waren.

Und sie bauten Zäune aus Stacheldraht. Der verzinkte Draht mit den Stacheln wurde 1867 und 1873 gleich zweimal unabhängig voneinander in den USA patentiert. Erst mit seiner Hilfe gelang es, das Konzept des Privateigentums im einstigen „wilden“ Westen Nordamerikas durchzusetzen. Riesige Mengen Stacheldraht wurden produziert. Auch in den „wilden“ Süden Lateinamerikas wurde der Stacheldraht bereits unmittelbar nach seiner Erfindung in großen Mengen exportiert. Noch heute findet man überall in Patagonien Stacheldraht.

Und wer waren die Leidtragenden der Landbesetzung durch europäische Migrant*innen und Unternehmen? Die Indigenen, vor allem die Tehuelche-Ethnien1, die Feuerland-Indigenen und die Mapuche. Und auch die Guanakoherden, von und mit denen vor allem die nicht sesshaften Ethnien wie die Selknam in Feuerland2 seit Jahrhunderten lebten. Sie alle hatten andere Bezeichnungen für das Guanako: Luan (Mapuche), Püch’ua (Puelche), Nau (Tehuelche), Ióoun (Ona/ Selknam), laiel (Kawesqar), Amara (Yámana).

Das Land, das da von überwiegend europäischen Siedler*innen besetzt wurde und das die noch junge argentinische Nation in wiederholten Militärkampagnen, sprich brutalen militärischen Feldzügen gegen die indigenen Ureinwohner*innen, für sich beanspruchte (von General Rosas 1833/34 über General Roca 1878-1880 bis heute), war keineswegs leer, und die dort lebende Bevölkerung hatte sich seit vielen Generationen an die harten Lebensbedingungen angepasst.

Das Guanako war von den Anden im Norden bis zum Feuerland im Süden für die Indigenen ungeheuer wichtig und sicherte ihr Überleben: Es gab ihnen Fleisch, das Fett und das Fell wurde zu Kleidung verarbeitet und für ihre geräumigen Zelte und Lagerstätten zusammengenäht, aus den Sehnen wurden Bögen und aus den Oberschenkelknochen Musikinstrumente hergestellt. Die Tehuelche, die, nachdem die Spanier die Pferde eingeführt hatten, zu ausgezeichneten Reitern wurden, jagten die Guanakos zu Pferde, mit Pfeil und Bogen und Boleadores (traditionelle Lederlassos mit Wurfkugeln). Die Tehuelche trugen Mäntel aus Tierfellen (meist von Jungtieren), die mit geometrischen Mustern in verschiedenen Farben verziert waren. Sie wurden mit dem Fell nach innen getragen und an der Taille mit einem Lederband zusammengebunden.

Die Selknam hatten elf verschiedene Wörter für die unterschiedlichen Gua­nakos. Da Anfang des 20. Jahrhunderts noch sehr viele Selknam mit und von den Guanakos lebten, bevor die Indigenen Feuerlands unbarmherzig gejagt, ermordet und in Missionshäuser gesteckt wurden, wurden ihre Lebensweise, ihre Mythen und ihre Fellbearbeitung (wie auch die der Tehuelche) von zahlreichen europäischen Reisenden dokumentiert und beschrieben. Sie jagten mit jungen gezähmten Guanakos und Pfeil und Bogen, da Gewehre die Herden vertrieben. Um die Guanakobestände zu sichern, hatten sie – lange bevor in Europa der Naturschutzgedanke aufkam – Schutzgebiete, wo nicht gejagt werden durfte. Die Bezoare (verklumpte unverdauliche Reste von Nahrungsmitteln), die sie in den Mägen der erlegten Tiere fanden, galten als medizinische Produkte – und waren auch in den europäischen Wunderkammern und Apotheken begehrt, ebenso wie bearbeitete Guanakofelle. Anders als die Tehuelche trugen die Selknam Guanakofelle mit dem Fell nach außen.

Auch in ihren Mythen und Symbolen waren die Tiere allgegenwärtig: Ein springendes Guanako (die Tiere sind sehr gute Springer, erwachsene Tiere überspringen auch hohe Stacheldrahtzäune) war das Symbol für Krieg, ein Guanako auf den Hinterbeinen bedeutete einen Todesfall in der Familie. Eine schöne Legende erklärt, warum sich die Guanakos so gerne und oft auf dem Boden wälzen: Kore war ein schöner junger Mann. Eine junge Guanakostute verliebte sich in ihn, lud ihn zu Liebesspielen ein. Danach verwandelte sich Kore in ein Gebirge. Seit dieser Zeit wälzen sich die Guanakos gerne auf dem Boden und haben ihre typische Farbe.

Als die Siedler begannen, die Guanakos zu jagen und zu vertreiben, aber dafür „kleine weiße Guanakos“ in großer Zahl auftauchten, zerschnitten die Selknam die Stacheldrahtzäune und jagten die Schafe – es waren ja so viele. Das führte zur unbarmherzigen Verfolgung der Indigenen. Auf sie wurden Kopfgelder ausgesetzt, ein Pfund Sterling bekamen Landarbeiter und professionelle Killer pro getötetem „Indio“. Laut Kassenbericht zahlte José Menéndez, der „König von Patagonien“, seinem schottischen Vorarbeiter Alexander McLennan 412 Pfund Sterling.

Da Guanakos als Gefährdung für die Schafherden angesehen werden – sie sind Futter­kon­kur­-
­­r­enten –, durften die neuen Eigentümer sie in Pata­gonien unreguliert jagen und schießen. Zudem war ihr weiches und warmes Fell, vor allem das der Jungtiere, begehrt. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurden kunstvoll gemusterte Guanakodecken (Quillangos) und Mäntel, deren Herstellung sehr aufwändig ist, wichtigster Handelsartikel der Tehuelche. Der Export erlebte um 1870 einen Höhepunkt und ging dann – aufgrund der zunehmenden Verfolgung der Tehuelche – stetig zurück. Stattdessen wurden die Felle roh exportiert oder in den Städten bearbeitet. In Berlin und Leipzig lernten Kürschner sie zu behandeln, sie waren etwa als Autodecken im deutschen Kaiserreich sehr beliebt.

Noch bis 1993, als ein internationales Abkommen den Export von Guanakofellen aus Argentinien verbot, wurden jährlich 70000 Felle legal aus Argentinien exportiert. Guanakowolle, die von lebenden Tieren gewonnen wird, gehört heute zu den hochwertigsten Garnen der Welt und ist entsprechend teuer.

Heute leben nach Schätzungen noch zwischen 600000 und 800000 Guanakos in Südamerika. In Peru, Bolivien und Paraguay ist der Bestand ernsthaft bedroht. Der allergrößte Teil lebt in Argentinien, wo ihre Anzahl aber auch seit Jahren zurückgeht. Seit 1976 sind die Guanakos in Chile eine geschützte Art. Danach hat sich ihr Bestand in Feuerland angeblich von 20000 auf 200000 erhöht, deswegen dürfen sie dort wieder kontrolliert gejagt werden. Sie stehen unter Artenschutz, aber ihr Status gilt nach der Roten Liste der IUCN (International Union for Conservation of Nature) derzeit als „nicht besorgniserregend“, obwohl sie sich vor der Urbanisierung und dem Bergbau, den Viehherden und den Zäunen in unwegsame und weniger fruchtbare Gebiete zurückgezogen haben und von ihnen jedes Jahr (außer in den Naturschutzgebieten) weniger gezählt werden.

  • 1. Unter der Bezeichnung Tehuelche werden verschiedene indigene Ethnien zusammengefasst, die bis heute in Patagonien leben (Gününa Küne, Aónikenk u. a.). Sie hatten verschiedene, heute ausgestorbene Sprachen. Sie selber nannten sich Choanik oder Chonqui (Mensch oder Volk). Tehuelche, Puelche, Pehuenche etc. sind Fremdbezeichnungen der Mapuche, deren Kultur und Sprache die anderen Ethnien nach und nach übernahmen. Im 19. Jahrhundert wurden sie von der argentinischen Armee gewaltsam unterworfen.
  • 2. Selknam: Selbstbezeichnung einer Ethnie, die bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Feuerland lebte. Nach 1878 wurden sie bei der Kolonisierung der Isla Grande in wenigen Jahrzehnten ausgerottet. Ihre Kultur und Sprache gibt es nicht mehr.

Quellen: Bibiana Vilá: Camélidos sudamericanos. Buenos Aires: Eudeba, 2012. Christine Papp: Die Tehuelche. Ein ethnohistorischer Beitrag zu einer jahrhundertelangen Nichtbegegnung, Diss. Wien 2002