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Ergründung einer notwendigen Praxis

Das Buch „Unbedingte Solidarität“ von Lea Susemichel und Jens Kastner
Britt Weyde

Im September kursierte eine berührende Nachricht: Einige Jesiden, die in den letzten Jahren ins Rheinland gekommen und von Willkommensstrukturen bei Behördengängen unterstützt worden waren, sind nach Ahrweiler gefahren. Fotos zeigen sie bei der Essensausgabe und beim Schuttschaufeln. „Die Jesiden wollen den Deutschen etwas zurückgeben“, sagt einer von ihnen. Solidarität beruht auf Reziprozität. Für Menschen, die in einer Solidaritätsbeziehung stehen, kann Unterstützung also irgendwann auch in die andere Richtung erfolgen. Nicht im Sinne einer einfachen Tauschbeziehung, sondern als „erweiterte Wechselseitigkeit“, was die eingangs erwähnte Episode wunderbar veranschaulicht.

In den 15 Kurzessays und zwei Interviews des Sammelbands „Unbedingte Solidarität“ wird mehrfach darauf verwiesen, dass die Reziprozität der Solidarität aufgrund zu großer Unterschiede – etwa zwischen (privilegierten) Ehrenamtlichen und (ehemaligen) Geflüchteten – in eine asymmetrische Schieflage geraten kann (S. 98). Gleichzeitig betonen die Herausgeber*innen Lea Susemichel und Jens Kastner sowie die Autor*innen, dass radikale Solidarität gerade auf Differenzen beruht. Ist dies nicht der Fall, handelt es sich um ausschließende Solidaritätsvorstellungen, wie sie seit Ausbruch der Corona-Pandemie mantramäßig von Politiker*innen bemüht werden: „Dass die deutsche Bundesregierung genau an dem Tag die humanitäre Flüchtlingsaufnahme einstellte, als die Bundeskanzlerin in ihrer Rede an die Nation zu gemeinsamen solidarischen Handeln (…) aufrief, entspricht diesem exklusiven Solidaritätsverständnis“ (S. 293).

Auch von ganz rechts wird das Konzept der Solidarität bemüht, vor allem in der Anrufung von Gemeinschaft. In ihrem sehr anregenden Beitrag „Solidarität revisited. Die soziale Frage, die Wiederentdeckung der Gemeinschaft und der Rechtspopulismus“ entschlüsselt Silke van Dyk die „Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage“, sprich, wie die Krise der sozialen Reproduktion die „Kritik des radikalen Individualismus befördert“ und die „Suche nach gemeinschaftsförmigen Krisenlösungen und gemeinschaftsbasierter Solidarität vorantreibt“ (S. 108). Was in diesem Zusammenhang entsteht, nennt die Autorin „Community-Kapitalismus“, der eine offene Flanke nach rechts hat.

Neben eher pessimistisch grundierten Beiträgen, wie der von Sabine Hark („Schwierige Solidarität“), in dem sie unsere „post-emanzipatorischen Zeiten“ seziert und erklärt, warum Solidarität unter den aktuellen Bedingungen „subaltern“ geworden ist (S. 72), stehen optimistischere wie der von Bini Adamczak, die die „Vielsamkeit eines ausschweifenden Zusammenhangs“ (zu Recht) feiert. Sie nennt ermutigende Beispiele, weist auf die „Mühen der Solidarität, die Kraft geben wie Kraft kosten kann“ (S. 81) hin, ebenso auf die Tatsache, dass Solidarität „eine bereits machbare Erfahrung“ ist: Sie ist zugleich ein Verlangen danach, alle Verhältnisse umzustürzen, die ein solidarisches Leben für alle verunmöglichen (S. 87).

Die Philosophin Rahel Jaeggi erläutert die „Tatsache des Assoziiertseins (…), die Bereitwilligkeit, sich mit einer bestimmten Situation (…) zu identifizieren und solidarisch zu handeln. Das ‚Wir‘ der solidarischen Gruppe muss sich erst konstituieren, um zu sein. (…) Solidarität verwirklicht (aktualisiert) sich nur als gemeinsame Praxis“ (S. 64).

In dem Beitrag „Solidarität in Differenz oder: Mit Feminismen lernen“ wird dargelegt, dass Solidarität eine „bindende sowie interdependente Kraft“ ist. Solidarische Beziehungen bedeuten, dass sich auf eine „gegenseitige Verletzbarkeit“ eingelassen wird. Sie ist nicht interessengeleitete Praxis, sondern wird auch „über Gefühle artikuliert und generiert“ (S. 139). Darauf verweist auch Serhat Karakayali. In seinem theoriegesättigten Beitrag dröselt er das Spannungsfeld zwischen „Institution und Affekt“ auf und erzählt ein frappierendes Beispiel aus der Geschichte der internationalen Arbeitersolidarität: der Baumwollboykott gegen die Südstaatensklaverei im 19. Jahrhundert. Im Zuge dieser internationalen Boykottkampagne verloren etwa 300 000 Menschen in England ihre Arbeit. Und dennoch: „In zahlreichen Massen-Meetings erklärten Arbeiter*innen in Nordengland ihre Solidarität mit den Sklav*innen“ (S. 100).

Übrigens, auch die „ila“ kommt in dem Band zu Wort, in einem Interview über die Geschichte der Solidaritätsbewegungen: „Schreiben über Solidarität“.

Da es sich um einen Sammelband handelt, kommt es manchmal zu Wiederholungen, wenn etwa Emile Durkheims Unterscheidung zwischen „mechanischer“ und „organischer“ Solidarität mehrfach erklärt wird. Macht nichts, so bleibt das Konzept eher hängen! Eine Fülle weiterer spannender Gedanken und Ansätze hat die Rezensentin auf jeden Fall aus der Lektüre mitgenommen.