Die neue „Republik“ des Nayib Bukele
„Ich bin im Kugelhagel aufgewachsen, heute bin ich 50 und sage ‚Nein zur Wiederwahl‘. Keinen Tag länger. Art. 154 der Verfassung“ war auf zahlreichen Plakaten zu lesen, die Demonstrant*innen am 15. September mit sich trugen, am 200. Jahrestag der Unabhängigkeit El Salvadors. Das US-amerikanische El-Salvador-Solidaritätskomitee CISPES schätzt, dass an die 12 000 Leute an dieser Demo teilnahmen, der wohl größten seit dem Amtsantritt von Präsident Nayib Bukele am 1. Juni 2019. „Der Regierung gelang, was in Zeiten der Zersplitterung als sehr schwierig galt: Bewegungen und Bürger*innen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Interessen in einer Demo zu vereinigen“, kommentierte die Jesuitenuniversität UCA. Aus deren Zeitschrift Proceso stammt auch der folgende Beitrag.
Der 3. September 2021 ging für die salvadorianische Bevölkerung mit der Nachricht zu Ende, dass die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofes, deren Neubesetzung Nayib Bukele und seine Verbündeten am 1. Mai 2021 erzwungen hatten, grünes Licht für die unmittelbare Wiederwahl des Präsidenten der Republik für eine weitere Amtsperiode ab 2024 gegeben habe. Sofort wiesen zahlreiche Jurist*innen darauf hin, dass dieser Beschluss selbst verfassungswidrig ist. Tatsächlich verbietet die Verfassung die unmittelbare Wiederwahl eines Präsidenten in drei Artikeln (Nr. 88, 152 und 154) ausdrücklich und entzieht sogar allen, die sich für eine solche Wiederwahl aussprechen, die Bürgerrechte (Artikel 75). Aber in El Salvador gibt es längst keinen Rechtsstaat mehr, und deshalb sind alle juristischen Interpretationen der Ereignisse der letzten Tage wertlos. Das Wort des Präsidenten ist inzwischen das einzige Gesetz, und es wird von seinen Verbündeten und Untergebenen in allen drei Staatsgewalten umgesetzt. Das ist der Kern der Strategie, mit welcher der Bukele-Clan sein autoritäres Regime festigt und den Staat für die eigenen Interessen kooptiert. Am 7. September folgte der nächste Schritt. In einer Nachtsitzung des Parlaments (in dem Bukeles Partei Nuevas Ideas (Neue Ideen) und deren Verbündete die absolute Mehrheit haben, A.d.Ü.) wurde ohne lange Diskussion, ohne Beratung in den Ausschüssen und ohne Information der Bevölkerung das Bitcoin-Gesetz verabschiedet. Unmittelbar danach kaufte die Regierung für über 200 Millionen US-Dollar Bitcoins. In der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes der UCA (IUDOP) sprachen sich sieben von zehn Befragten dafür aus, das Bitcoin-Gesetz gleich wieder aufzuheben. Weit davon entfernt sind einige ausländische „Bitcoiners“, Freunde des Präsidenten und seiner Brüder, hellauf begeistert davon, dass El Salvador und seine Bevölkerung zu Versuchskaninchen gemacht werden, um zu sehen, welchen Gewinn man aus dem Bitcoin-Gesetz schlagen kann.
In diesem Stil wird seit dem Amtsantritt von Präsident Bukele regiert. Es wird improvisiert, Menschenrechte werden verletzt, die Staatsfinanzen und die natürlichen Ressourcen werden geplündert. Bukele und seine Verbündeten setzen nicht nur Millionen von US-Dollar an öffentlichen Mitteln für ihr Bitcoin-Geschäft ein, sondern sie verteilen auch Tag für Tag an große Unternehmen Baugenehmigungen, die die Umwelt zerstören, geben Unternehmen, die ihre Präsidentschaftskampagne finanziert haben, Konzessionen für Infrastrukturprojekte und bevorzugen sie bei der öffentlichen Beschaffung, entlassen Tausende von öffentlichen Angestellten, entziehen den Gemeinden und sozialen Projekten die Finanzierung und machen Haushaltskürzungen bei der Gesundheitsversorgung und im Bildungswesen, während sie die Mittel für die Streitkräfte und für ihren Propagandaapparat erhöhen.
Die Interessen der regierenden Koalition unter Führung von Nuevas Ideas haben Vorrang, auch wenn die millionenschwere Regierungspropaganda nicht müde wird zu verkünden, all dies geschehe „zum Nutzen des Volkes“. (Es handelt sich nicht um eine formale Regierungskoalition, vielmehr stimmen die rechte GANA-Partei, die alte Militärpartei PCN und die Christdemokratie immer gemeinsam mit Nuevas Ideas ab. A.d.Ü.)
Klar ist auch, dass es nicht nur um Geschenke für die Verbündeten geht, sondern dass wir es mit einem neoliberalen Modell zu tun haben, das noch aggressiver ist als jenes der ultrarechten ARENA-Regierungen (1989 bis 2009). Ganz im Stil des verstorbenen Ex-Präsidenten Francisco Flores (der von 1999 bis 2004 amtierte, A.d.Ü.) hat Bukele alle Gesprächskanäle mit zahlreichen sozialen Sektoren abgebrochen, kriminalisiert seine politischen Gegner, diffamiert sie in den sogenannten sozialen Netzwerken, verfolgt sie und lässt sie von seiner servilen Polizei und der ebenso servilen Staatsanwaltschaft einsperren.
Viele dieser Sektoren haben am 7. September ihre Unzufriedenheit demonstriert, als sie gegen das an diesem Tag in Kraft tretende Bitcoin-Gesetz und gegen die Reformen des Richterlichen Laufbahnrechtes und des Organischen Gesetzes der Generalstaatsanwaltschaft auf die Straße gegangen sind. Mit dem Gesetz über die richterliche Laufbahn werden alle Richter*innen zum Rücktritt gezwungen, die über 60 Jahre alt sind oder länger als 30 Jahre diesen Beruf ausgeübt haben. (Davon betroffen ist auch der Richter Jorge Guzmán, der seit Jahren mit großer Konsequenz den Prozess gegen die Verantwortlichen für das Massaker von El Mozote führt. A.d.Ü.) Die sozialen Bewegungen scheinen zu neuem Leben erwacht, und der Widerstand gegen das Bukele-Regime wird wahrscheinlich weiter wachsen. So wie die neue „Republik“ Bukeles und seiner Verbündeten aussieht – ein autoritäres, neoliberales Regime, das die Nachhaltigkeit des Landes und das Leben der Verletzlichsten bedroht –, scheint der einzige Ausweg in der sozialen Organisierung zu liegen und in der Suche nach einem Minimalkonsens zwischen allen, die den autoritären Vormarsch aufhalten wollen. Mittel- und längerfristig müssen daraus ein neues politisches Subjekt und ein neues politisches Projekt erwachsen, die auf eine Veränderung der strukturellen Bedingungen zielen, die uns dahin gebracht haben, wo wir heute sind.