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Von den Lebenslügen eines in Brand gesteckten Landes

„Lieder für die Feuersbrunst“ von Juan Gabriel Vásquez
Britt Weyde

Er gilt aktuell als einer der wichtigsten Schriftsteller Kolumbiens. Eins ist sicher: Der 48-jährige Juan Gabriel Vásquez, der in Bogotá geboren ist und prägende Lebensjahre in Europa gelebt hat, ist ein bedeutender Chronist seines Landes. Neben den Entwicklungen in seinem Heimatland, das den Jahrzehnte langen bewaffneten Konflikt noch lange nicht überwunden hat, treibt den Schriftsteller das um, was wir vielleicht Mikro-Geschichte nennen können: die Historie einzelner Personen und ihrer Angehörigen sowie die Art und Weise, wie das menschliche Gedächtnis Erlebnisse ablegt, verarbeitet, verdrängt, verzerrt, beschönigt, ausschmückt, auslöscht, kurz: erinnert. Unsere eigene Erinnerung kann uns trügen, wie wir manchmal mit Erschrecken feststellen. Für Länder, in denen zum Beispiel Wahrheitskommissionen Bürgerkriegsgräuel und Menschenrechtsverletzungen aufarbeiten, ist diese Erkenntnis durchaus heikel.

In seinem frisch erschienenen Band „Lieder für die Feuersbrunst“ durchdringt Vásquez also in neun Erzählungen Geschichte und Geschichten. Vier davon sind bereits an anderer Stelle publiziert worden, zum Teil bereits vor über zehn Jahren. Das spielt für Literatur nicht unbedingt eine Rolle. Doch zum Beispiel bei der Erzählung „Flughafen“, in der der Autor von einem Komparsenjob für einen Film des Regisseurs Roman Polanski berichtet (mit ausgerechnet Johnny Depp in der Hauptrolle), wird die Leserin stutzig: Die meisten Schlagzeilen über das Regie-Genie Polanski drehten sich in den letzten zehn Jahren um neue und alte Vergewaltigungsvorwürfe und -verfahren. Johnny Depp ist übrigens auch diskreditiert, er gilt als „Ehefrauenschläger“. All das findet in der Erzählung, die wie andere Storys in dem Band auch so wahrhaftig klingt, dass sie der Erfahrung des Autors entsprungen sein könnte, mit keinerlei Silbe Erwähnung. Das hinterlässt einen geschichtsblinden Eindruck, lässt sich aber mit Blick auf das Datum der Erstpublikation nachvollziehen: 2008.

Einige der Erzählungen klingen wie gesagt so „lebensecht“, dass sie direkt aus dem Nähkästchen des Autors zu stammen scheinen, etwa „Der Doppelgänger“, in der die Feigheit eines jungen Mannes im Zentrum steht, der sich dem Leid der Familie seines besten Freundes nicht stellen mag. Oder die Geschichte „Schlechte Nachrichten“. Hier trifft der Ich-Erzähler auf den auskunftsfreudigen US-amerikanischen Helikopterpiloten John, der am ersten Kneipenabend die intimsten Momente seines Lebens vor ihm ausbreitet. Dass John mit seinem erzählenden Erinnern seine Erinnerung und damit auch die Geschichte zu (ver)formen sucht, erfährt der Erzähler bei der Konfrontation mit der Vergangenheit.

Andere Geschichten, wie etwa „Frau am Ufer“ oder „Die Frösche“, könnten ihren Ausgangspunkt im Leben naher Angehöriger oder Freund*innen des Autors haben. Im Zentrum von „Frau am Ufer“ stehen eine Fotografin, ein rechter Politiker und dessen Mitarbeiterin, während das Personal in „Die Frösche“ aus Koreakriegsveteranen und deren Ehefrauen besteht. Amnesie und Lebenslügen bilden die großen Themen in diesen beiden Geschichten. Nebenbei erfährt die Leserin von einer verblüffenden, wohl bis in die 60er-Jahre weitverbreiteten Methode der Schwangerschaftsfrüherkennung: dem sogenannten Froschtest. In dieser Erzählung beeindruckt die brillante Verschränkung der Zeitebenen.

Viele Geschichten handeln vom Militär oder vom Krieg, beziehungsweise von der alles durchdringenden Gewalt in Kolumbien. So auch eine der stärksten Storys des Bandes, „Die Jungen“. Sie spielt in Bogotá während der Dekade des sogenannten Narcoterrorismus Mitte der 80er- bis Mitte der 90er-Jahre, als Bombenattentate und Ausgangssperren den Alltag in der Hauptstadt bestimmten (ähnlich wie in Vásquez‘ Roman „Das Geräusch der Dinge beim Fallen“, siehe ila Nr. 379). Hier zeigen sich das Erbe der Gewalt und wie sie perpetuiert wird.

Ein weiteres Highlight ist „Der letzte Corrido“, eine Art Tourtagebuch. Ein Journalist schildert die Ereignisse während der Tour einer mexikanischen Corrido-Band durch Spanien. Hinter der Zugeknöpftheit der Musiker verbirgt sich die schmerzhafte Vorgeschichte der Band, vor allem die ihres ehemaligen charismatischen Band-Leaders. Zu guter Letzt die Erzählung „Lieder für die Feuersbrunst“. Darin verdichten sich die Historie und Tragik Kolumbiens anhand einer Familienbiografie, die sich durch das letzte Jahrhundert zieht: eine konzise Verknüpfung von Mikro- und Makro-Geschichte auf weniger als 50 Seiten, die der Autor meisterhaft zelebriert.