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Verlust eines großen Intellektuellen

Nachruf auf den argentinischen Schriftsteller Horacio González (1944-2021)
Sandra Schmidt

Der Parque Centenario, einer meiner liebsten Orte an Sonntagen in Buenos Aires, besonders im Hochsommer. Es ist Mitte Januar 2016, als mir dort ein Grüppchen von 30 bis 40 Leuten auffällt, die stehend oder im Gras sitzend, einige ältere Jahrgänge auf mitgebrachten Stühlen, einem Mann lauschen, der über den neuen Präsidenten Macri spricht. Das ist doch, genau: Horacio González. Ich hatte gerade seinen Auftritt vor der Nationalbibliothek gesehen, als deren Direktor er am Tage des Amtsantritts von Macri nach zehn Jahren zurückgetreten war, allerdings nur auf YouTube. Allein das war faszinierend. Nun steht dort dieser Mann, geboren 1944 in Buenos Aires, Anfang der siebziger Jahre kurz bei der FAP (Fuerza Armada Peronista, peronistische Stadtguerilla) und den Revolutionären Peronisten engagiert, ab 1976 im brasilianischen Exil und seit Rückkehr 1983 Soziologie-Professor an der Universität Buenos Aires (UBA), in der einen Hand ein Mikro, mit der anderen schiebt er ständig Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er hat kein Skript, es wirkt wie das ausgesprochene Denken. Die Sätze sind schwierig, das Denken mäandert. Obschon die politische Intention (es geht darum, eine zivilbürgerliche Opposition gegen Macri zu formieren) auf einer klaren Haltung basiert, benennt González die Widersprüche und Tücken in vielfach verschachtelten Nebensätzen gleich mit. Postmodern würde man sagen: rhizomartig, und wer weiß, ob er damit einverstanden gewesen wäre. Zufällig wohne ich also dem ersten Treffen in der Macri-Ära von Carta Abierta (Offener Brief) bei, einer losen Vereinigung von Intellektuellen und Kulturschaffenden, die 2008 just in der Nationalbibliothek entstanden war und als deren geistiger Kopf González vielen gilt.

Nach einigen Redebeiträgen einigt man sich auf ein nächstes Treffen am gleichen Ort und der offizielle Part dieser komplett informellen Veranstaltung ist beendet. Ich nehme meinen Mut zusammen und spreche González, der mit einigen anderen weiterdiskutiert, an. Ich sei eine deutsche Journalistin und würde ihn gern interviewen. „Si, claro, kein Problem“, so die prompte Antwort. Ehe ich mich versehe, schreibt er Handynummer und Adresse in mein Notizbuch. Eine gute Woche später stehe ich vor einem schwarzen Eisentor eines dieser schönen alten Häuser im Viertel Boedo. Mit vielen Fragen und gehörigem Respekt. Horacio öffnet mit einladender Geste, stellt mich kurz seiner Lebensgefährtin vor, der Folklore-Sängerin Liliana Herrero. Ein befreundeter Anthropologe, der in den neunziger Jahren bei González studiert und seine berühmten, in Vorortzügen abgehaltenen Universitätsseminare selbst miterlebt hat, hatte mich vorgewarnt: Ich solle mich auf ausschweifende Antworten einstellen und gar nicht erst versuchen, einen Fragenkatalog abzuarbeiten. Den habe ich trotzdem dabei und Horacio erweist sich nicht nur als beeindruckender Erzähler, sondern auch als guter Zuhörer. Schneidend klar, wo es um Präsident Macri („abscheulich“) geht; eher ausschweifend, wo es historische Entwicklungen zu erklären gilt und diese ganz eigene Art der undogmatischen Verknüpfung von Traditionen, Schulen, Theorieentwürfen aufscheint. Ob man deutschen Leser*innen knapp erklären könne, warum Macri diese Wahl gewonnen habe, will ich wissen: „Wenn der Leser Hans Magnus Enzensberger oder Alexander Kluge heißt, dann schon.“ Horacio lacht: „Ansonsten bin ich mir nicht sicher.“ Er schöpft aus einem unendlichen Reservoir: Kautsky, Foucault, Bakunin, Lacan, René Char und Laclau, Gramsci, und am liebsten: William Cooke. Meine etlichen Nachfragen zum Peronismus amüsieren ihn sichtlich. Drei Stunden verfliegen. Über die eigenen Schriften, auch die Romane (nichts davon ins Deutsche übertragen) und sein zehnjähriges Schaffen als Bibliotheksdirektor hat er kaum ein Wort verloren. Universalist sei er, humanistisch-kritisch, mit Sympathien für die kulturelle Sensibilität der trotzkistischen PTS. „Es gibt in vielerlei Hinsicht Hoffnung!“ Das gibt er mir damals mit auf den Weg.

Nach wochenlangem Auf und Ab, über das Liliana teilweise via Twitter informierte, ist Horacio González am 22. Juni gestorben, an einem Krankenhauskeim, nachdem er die kritischste Phase seiner schweren Covid-Erkrankung bereits überstanden hatte. In Argentinien trauerten nicht nur politische Weggefährt*innen, auch konservative Medien beklagten den Verlust eines großen Intellektuellen. Das Text-Musik-Projekt „Mojones de la Patria“, an dem González gemeinsam mit Liliana, Sängerin und Ex-Kulturministerin Teresa Parodi und dem Gitarristen Juan Falú zuletzt gearbeitet hatte, kam Ende August in Buenos Aires zur Aufführung.

Das 2016 geführte Interview mit Horacio González ist nachzulesen in der ila 394 („Gebildete Populisten und unkultivierte Eliten“).