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Mit dem Fahrrad der Armut entkommen

Ecuador und Kolumbien gehören zu den erfolgreichsten Radsportnationen

Im Jahr 2019 gewann mit Egan Bernal erstmals ein kolumbianischer Sportler die Tour de France, die bedeutendste Radrundfahrt der Welt. Bereits 2014 hatte Nairo Quintana Rojas den Giro d’Italia und 2016 die Vuelta a España gewonnen, die beiden nach der Tour der France renommiertesten Etappenrennen. Den Giro d’Italia 2019 gewann der Ecuadorianer Richard Carapaz. Im Ende Mai zu Ende gegangenen Giro 2021 errang wiederum Egan Bernal den Gesamtsieg. Nicht nur die Männer, auch Kolumbiens Radrennfahrerinnen machen vor allem im Bahnradsport von sich reden, wo aber auch die Cubanerinnen in der Weltspitze fahren

Gert Eisenbürger

Eine äthiopische Freundin erzählte einmal, in ihrem Heimatland gebe es einen scherzhaften Dialog: „Sie ist der Armut entkommen!“ – „Wie denn?” – „Sie ist schneller gelaufen!“ Damit wird auf die internationalen Erfolge der oft aus bescheidenen Verhältnissen stammenden äthiopischen Langstreckenläufer*innen verwiesen, die bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen fast immer zu den Medaillengewinner*innen in den Wettbewerben über 5000 Meter, 10 000 Meter und den Marathonläufen gehören und danach mit Start- und Preisgeldern sowie Werbeeinnahmen gut verdienen.

Etwas Ähnliches könnte man über viele der ecuadorianischen und kolumbianischen Radprofis sagen. Anders als die international erfolgreichen chilenischen und argentinischen Tennisspieler*innen kommen viele der südamerikanischen Radrennfahrer*innen nicht aus der Elite, sondern aus ärmeren, häufig bäuerlichen Familien der Anden. Auch hier ähneln die immer wieder reproduzierten Geschichten denen aus dem äthiopischen Hochland. Heißt es bei den Afrikaner*innen, sie seien jeden Morgen im Laufschritt zur nächstgelegenen, viele Kilometer entfernten Schule gelaufen, wird Vergleichbares auch von südamerikanischen Radrennfahrern berichtet, die den Schulweg mit extremen Höhenunterschieden auf alten Fahrrädern bewältigen mussten.

Auch wenn die eine oder andere dieser Geschichten einen wahren Kern hat, gehören sie doch meist in den Bereich der Mythen. Richtig ist aber, dass der Sport jungen, motivierten Menschen aus dem äthiopischen wie auch dem andinen Hochland eine Perspektive bietet, den schwierigen Lebensbedingungen in ihren Herkunftsregionen zu entkommen. Das hier verwendete Gendern ist übrigens für die äthiopischen Langstreckenläufer*innen seit Jahrzehnten angemessen, beim Radsport in Kolumbien ist die zunehmende Präsenz von Frauen eher ein jüngeres Phänomen, aus Ecuador gibt es überhaupt erst sehr wenige Fahrerinnen.

Liest man etwa bei Wikipedia die Kurzbiografien der international bekannt gewordenen Radprofis aus Ecuador und Kolumbien, fällt neben der erwähnten andin-bäuerlichen Herkunft, eine Ausnahme bildet hier Superstar Egan Bernal, der aus einem armen Barrio der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá stammt, das infolge einer von Aktivist*innen der damaligen Guerillagruppe M19 organisierten Landbesetzung errichtet wurde, auf, dass stets bereits ihre Väter im Radsport aktiv waren oder sich zumindest dafür begeisterten. Begabungen bei ihren Kindern/Söhnen wurden entsprechend früh erkannt und gefördert. Das war möglich, weil es in Kolumbien, anders als etwa in Bolivien oder Peru, auch in der Provinz Radsportclubs, Velodrome, Bahn- und Straßenrennen sowie qualifizierte Trainer gab.

Kolumbien hat eine im lateinamerikanischen Vergleich lange Radsporttradition. Bereits in den 1930er-Jahren gab es regelmäßige Radrennen. Im Jahr 1938 wurde in Cali die Asociación (später Federación) Colombiana de Ciclismo gegründet, 1951 fand zum ersten Mal die nationale Rundfahrt Vuelta a Colombia statt.

International bekannt wurden kolumbianische Radsportler in den 1980er-Jahren, allen voran Luis Alberto Herrera, der mehrere der berüchtigten schweren Bergetappen der Tour de France und zwei Mal die Bergwertung der Tour gewann und drei Mal unter den ersten zehn in der Gesamtwertung war. Damals verfolgte ich häufig in der ARD die Berichterstattung über die Tour de France und ärgerte mich darüber, dass die Reporter im noch völlig selbstverständlichen Alltagsrassismus Herrera immer nur „die kolumbianische Bergziege“ nannten, eine Bezeichnung, die ihnen bei einem starken europäischen Bergfahrer nicht über die Lippen gekommen wäre. Die hießen eher „Gipfelstürmer“.

Die Grundlagen der kolumbianischen Radsporterfolge wurden also bereits früh gelegt. Ecuador verfügte nicht über eine ähnliche Infrastruktur von Trainingsmöglichkeiten und regelmäßigen Wettkämpfen. Der erwähnte Giro-Sieger 2019, Richard Carapaz, und die anderen international erfolgreichen ecuadorianischen Radprofis, wie Jefferson Cepeda, Jhonatan Narváez, Jonathan Caicedo oder Byron Guamá kommen aus der an Kolumbien angrenzenden Provinz Carchi, wo es enge Verbindungen zwischen beiden Ländern gibt. Fast alle haben ihre ersten Rennen in Kolumbien gefahren, Richard Carapaz ging bereits als 15-Jähriger nach Bogotá und wurde dort als Radrennfahrer ausgebildet.
Waren es anfangs vor allem regionale, später auch größere nationale kolumbianische Firmen und Wirtschaftsverbände wie Café de Colombia, die den Radsport in Kolumbien förderten, begann sich mit den zunehmenden Erfolgen auch der kolumbianische Staat für die Radrennfahrer zu interessieren, vor allem in der Regierungszeit des ultrarechten Präsidenten Álvaro Uribe (2002-2010). Nicht etwa, weil Uribe besonderes Interesse am Radsport hatte, sondern weil er international wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen immer stärker in die Kritik geriet. Vor allem seine engen Verbindungen zu den rechtsextremen terroristischen Paramilitärs und der Skandal um die sogenannten Falsos Positivos (um zunehmende Erfolge bei der Guerillabekämpfung zu suggerieren, ermordeten Militärs in ländlichen Regionen, aber auch in den städtischen Armenvierteln wahllos junge, oft dunkelhäutige Männer, steckten die Leichen in Guerillauniformen und präsentierten sie dann den Medien als in Gefechten mit der Armee gefallene Guerilleros. Die nach den Friedensverträgen zwischen der Regierung und der FARC eingerichtete „Sonderjustiz für den Frieden“ JEP geht inzwischen von 6402 ermordeten Jugendlichen und jungen Männern aus) veranlassten Uribe und seine Regierung, nach positiven Schlagzeilen zu suchen. Die Erfolge der kolumbianischen Radfahrer, manche sogar mit indigenem Aussehen, boten sich da an. Im Rahmen der PR-Kampagne Colombia es Pasión, die vor allem darauf zielte, internationale Investoren anzulocken, förderte der kolumbianische Staat auch den Radsport, unterstützte neue Leistungszentren, sportmedizinische Einrichtungen und Rennställe.

An Peinlichkeit kaum zu überbieten ist das in diesem Zusammenhang erschienene Buch „Colombia es Pasión. Wie eine Generation kolumbianischer Radrennfahrer die Tour de France eroberte und eine ganze Nation beflügelte“ des britischen Sportjournalisten Matt Rendell (in dem auf Radsport spezialisierten Bielefelder Covadonga-Verlag, 2020). Neben biografischen Reportagen über die bekannten kolumbianischen Radrennfahrer ist das Werk vor allem ein Loblied auf die Regierung Uribe. Dass in einem Buch die Sportpolitik einer Regierung gepriesen wird, während bei Menschenrechtsverletzungen weggeschaut wird, ist schon schlimm genug, kommt aber leider immer wieder vor. Rendell geht jedoch noch weiter. Relativ unvermittelt zwischen den einzelnen Radfahrerhistörchen streut er immer wieder Passagen über die Erfolge der Regierung Uribe bei der Modernisierung des Landes und der Bekämpfung der FARC-Guerilla ein, welche für Rendell für (fast) alles Schlechte in Kolumbien verantwortlich war. Als Quellen für seine Darstellung der jüngeren Geschichte Kolumbiens nennt er im Anhang einzig die Memoiren der Präsidenten Uribe und Santos. Das ist ungefähr so, als wenn sich der Autor eines Buches zur Fußball-WM in Katar bei der Darstellung der jüngeren Geschichte des Landes ausschließlich auf die Memoiren des Emirs von Katar berufen würde.

Natürlich beflügelten die internationalen Erfolge der ecuadorianischen und kolumbianischen Radprofis die Radsportbegeisterung in beiden Ländern. Dieser Enthusiasmus, die vorhandene Infrastruktur und die staatliche Förderung führten dazu, dass sich immer mehr Jugendliche fürs Radfahren interessierten, und zwar Jugendliche beiderlei Geschlechts. Seit 2016 gibt es neben der oben erwähnten Kolumbienrundfahrt der Männer auch eine fünftägige Vuelta a Colombia Femenina.

Damit reagierte der kolumbianische Radsportverband auf die wachsenden internationalen Erfolge kolumbianischer Profiradrennfahrerinnen wie Diana Peñuela, Liliana Moreno oder Mariana Pajón, die zweimalige Olympiasiegerin (2012 und 2016) im BMX (Bicycle Motocross, ein eigentlich unsinniger Name, weil die Räder eben keinen Motor haben). Bereits bei den Olympischen Spielen 2004 hatte María Luisa Calle als erste kolumbianische Radsportlerin als Drittplatzierte eine Medaille gewonnen. Die Bronzemedaille war ihr nach einem positiven Dopingtest zunächst aberkannt, dann aber wieder zuerkannt worden. Im Jahr 2006 wurde sie Weltmeisterin im Scratch, einem Ausdauerfahren auf der Bahn.

Dass es für weibliche Erfolge keine erfolgreichen männlichen Vorbilder braucht, zeigen die cubanischen Radrennfahrerinnen, die in den letzten beiden Jahrzehnten vor allem im Bahnradfahren erfolgreich sind. Während die cubanischen Männer international im Radsport keine größere Rolle spielen, gewann Yoanka González Pérez bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 die Silbermedaille im Punktefahren, nachdem sie bereits 2004 Weltmeisterin im Scratch geworden war. Ihre Kollegin Yumari González errang 2007 und 2009 den Weltmeisterinnentitel in der gleichen Disziplin. Auch Lissandra Guerra, Marlies Mejías und Arlenis Sierra gehörten in den letzten Jahren zur Weltspitze im Bahnrennsport, wobei insbesondere Arlenis Sierra auch bei Straßenrennen erfolgreich ist.