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Fortführung des ökonomischen Normalbetriebs mit anderen Mitteln

Timo Dorschs Buch „Nekropolitik. Neoliberalismus, Staat und organisiertes Verbrechen in Mexiko“
Gerold Schmidt

Am 19. Juni 2021 fuhr ein bewaffnetes Kommando des mexikanischen Golfkartells am helllichten Tag mit mehreren Fahrzeugen durch die Armenviertel der 700 000-Einwohnerstadt Reynosa im Bundesstaat Tamaulipas. Nach den bisherigen Erkenntnissen erschossen die Mitglieder des Kommandos völlig wahllos insgesamt 15 Menschen. Ihr wahrscheinliches Ziel: das Territorium der gegnerischen Gruppe Los Metros aufzumischen und die eigenen territorialen Ansprüche geltend zu machen. Die Opfer waren einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.

Der Vorfall zeigt, wie aktuell das Ende 2020 im Verlag Mandelbaum erschienene Buch „Nekropolitik. Neoliberalismus, Staat und organisiertes Verbrechen in Mexiko“ des Journalisten und Humangeografen Timo Dorsch ist. Dorsch gehörte zu den Organisator*innen des Kongresses „Geographien der Gewalt. Macht und Gegenmacht in Lateinamerika“, der Mitte 2019 in Frankfurt stattfand. Die Erfahrungen und Beiträge des Kongresses sind teilweise in sein Buch eingeflossen. Dem Autor geht es darum, am Beispiel Mexikos aufzuzeigen und zu verstehen, wie Gewalteskalationen in weiten Landesteilen und ein formal demokratischer Staat, der zahlreiche internationale Menschenrechtsvereinbarungen unterzeichnet hat, miteinander vereinbar sind.

Dabei verwendet er den Begriff der „Hybris“, verstanden als Verschmelzung scheinbar gegensätzlicher Teile, Akteure und Strukturen. Theoretisch bezieht er sich auf die Nekropolitik, ein Konzept, das in den vergangenen Jahren von Achille Mbembe in die postkoloniale Debatte eingebracht worden ist. Dorsch gibt die Definitionen der Nekropolitik „als letzte Ausprägung von Souveränität, die darin liegt, zu entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss“, „als gegenwärtige Form der Unterwerfung des Lebens unter die Macht des Todes“ wieder. Vor allem in den peripheren Staaten sei Nekropolitik „die Fortführung des ökonomischen Normalbetriebs mit anderen Mitteln“. Die Tötung von Menschen gewinne den Charakter „territorialer Inanspruchnahme“.

Dorsch zeichnet die politisch-wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Mexikos der vergangenen Jahrzehnte nach: Die zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft als Ganzes, der staatlichen Macht, der Drogenkartelle, kurz, die zunehmende Auflösung des sozialen Gefüges. Den Vormarsch des Neoliberalismus seit Anfang der 1980er-Jahre. Ein Ende des festen Paktes zwischen dem organisierten Verbrechen und der bis zum Jahr 2000 faktisch als Einheitspartei regierenden Institutionellen Revolutionären Partei PRI. Den Beginn des sogenannten Krieges gegen den Drogenhandel, der sich zugleich als Krieg gegen die Bevölkerung erwies. Bestandteil ist ebenso eine Einschätzung der widersprüchlichen Politik unter der aktuellen Regierung von Präsident Andrés Manuel López Obrador, einem zumindest auf verbaler Ebene entschiedenen Kritiker des Neoliberalismus und Protagonisten im Kampf gegen die Korruption und die Vermischung staatlicher und krimineller Strukturen.

Dabei gibt Dorsch seiner Überzeugung Ausdruck, dass Gewalt und kapitalistische Akkumulation nicht voneinander trennbar sind, dass die Gewalt bestimmte Funktionen in bestimmten Gesellschaftskonstellationen und im Kapitalismus erfüllt. In Mexiko ist es direkte Gewalt mit ihren in den Einzelheiten oft unvorstellbaren Grausamkeiten. Der Autor geht auf das ein, was er in Mexiko die „Prekarisierung der kriminellen Arbeitswelt“ nennt, in der die materielle Gewalt ausübenden Täter*innen das „Proletariat der Nekropolitik“ sind. Die Aussichten auf die Überwindung der Nekropolitik in Mexiko unter den gegebenen ökonomischen Verhältnissen und bei der nach wie vor herrschenden weitgehenden Straffreiheit schätzt er düster ein.

Der Einführung in die Nekropolitik und dem allgemeinen Teil zu Mexiko folgt das Herunterbrechen der dargestellten Überlegungen auf die Mikroebene, konkret den Bergbausektor und die Avocado-Industrie im Bundesstaat Michoacán. Die umfangreichen Recherchen des Autors und seine Interviews vor Ort geben einen sehr guten Einblick in diese Mikroebene. Das macht diesen Abschnitt besonders lesenswert.

Dorsch sieht sich selbst an der Schnittstelle von Journalismus und Forschung. Das führt manchmal zu einer Art zweigleisigen Darstellung, die dem Buch nicht immer guttut. Sprünge vor und zurück, eine Vielzahl von Informationen, die zum Teil etwas ungeordnet daherkommen, erschweren das Lesen. Der Begriff der Nekropolitik hätte nach Ansicht des Rezensenten noch besser fassbar gemacht werden können. Für eine so komplizierte Gemengelage wie in Mexiko gibt es keine einfachen Lösungen und Erklärungen, das spiegelt sich notwendigerweise im Buch wider.

Timo Dorsch liefert mit seinen Bewertungen eine Menge wertvoller Ansätze. Seine Ausführungen zur Gewalt, deren spezifische Ausdrucksformen immer einen konkreten, nicht immer sofort sichtbaren Hintergrund haben, sind erhellend. Das umfangreiche Literaturverzeichnis bietet zudem die Möglichkeit, sich mit Einzelaspekten noch eingehender zu befassen.