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Es bedarf dringend eines Dialogs

Stimmen zum Streik aus Kolumbien
Bettina Reis

Es ist der 30. Mai 2021, in Kolumbien überschlagen sich die Ereignisse. Gab es vor wenigen Tagen noch leise Hoffnungen, dass der Forderungskatalog der Protestierenden am Verhandlungstisch abgearbeitet werden könnte, hat sich die Regierung von Präsident Duque jetzt wohl voll für den militärischen Weg entschieden. In Schlüsselregionen sollen jetzt auch die Streitkräfte – und nicht nur die Polizei – zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung eingesetzt werden. Schon vor dieser Entwicklung hatte die ila-Redaktion Freund*innen in Kolumbien um ihre Einschätzung der Massenproteste gebeten und sie gefragt, was neu daran ist und was die Zukunft verheißt. Im Folgenden Situationsberichte und Kommentare aus Cali, Bogotá und Medellín.

In den Medien wird Cali nach dreieinhalb Wochen anhaltender Proteste mittlerweile als „Hauptstadt des Widerstands“ oder „Epizentrum des Terrors“ bezeichnet. Was mit einem Generalstreik am 28. April gegen eine Steuerreform begann, hat sich zu einer Dauerblockade der Stadt entwickelt. Seit mittlerweile über vier Wochen sind die Zufahrtsstraßen und zahlreiche Verkehrsadern innerhalb der Metropole von Protestierenden verbarrikadiert. In den letzten Wochen sind 10 000 Polizisten und 2100 Militärs aus dem ganzen Land entsandt worden. Zuletzt hat Präsident Iván Duque in der Nacht des 28. Mai auf einer Stippvisite in der Stadt verfügt, weiter Militär nach Cali zu beordern. Die Stadt ist zum militärischen Ziel geworden. Resultat: Allein in Cali wurden über 60 Menschen von Sicherheitskräften, von Polizei in Zivil und paramilitärischen Gruppen ermordet. Hunderte Menschen liegen verletzt im Krankenhaus oder werden notdürftig von freiwilligen Hilfssanitäter*innen aus den Vierteln versorgt. Ganz zu schweigen von den zahllosen Verschwundenen, von denen bisher weiterhin jede Spur fehlt.

Tagsüber am 28. Mai, also genau einen Monat nach Streikbeginn, als wieder Zehntausende Menschen in Cali auf den Straßen lautstark protestierten, wurden mindestens zehn Menschen an verschiedenen Blockadepunkten umgebracht. Es gibt Beweisvideos, die zeigen, wie Polizisten und bewaffnete Zivilisten gemeinsam auf Demonstrant*innen schießen. Der Staatsterror der ultrarechten Regierung, die weiterhin felsenfest davon ausgeht, dass es sich bei den Protestierenden um „Vandalen“ handelt, ist jeden Tag spürbar. Der Schmerz über die vielen Toten sitzt unfassbar tief.

An den verschiedenen Blockadepunkten in der Stadt versammelt sich vor allem eine junge Generation, die für eine hoffnungsvolle Zukunft und ein Land in Frieden protestiert und kämpft. Die Jugendlichen wollen einen grundlegenden Wandel in Kolumbien. Anwohner*innen und Nachbar*innen solidarisieren sich mit den Protestierenden, spenden Essen und Medikamente oder organisieren Kulturevents. Es entstehen neue Begegnungsorte, wo Austausch stattfindet und eine solidarische Gemeinschaft gelebt wird – eine Erfahrung, die in einem Bürgerkriegsland keineswegs selbstverständlich ist. Trotz der permanenten Bedrohung sind viele Menschen weiterhin fest entschlossen, sich der Repression nicht zu beugen. Es bedarf dringend eines Dialogs, der die legitimen Forderungen der Protestierenden, vor allem der jungen Generation, ernst nimmt und politische Lösungen für die Krise findet. Doch das lehnen Regierungspartei und Präsident ab. Sie führen weiter Krieg gegen die eigene Bevölkerung.

Die Verhandlungen scheinen kaum noch ein Ausweg zu sein. Während die Regierung weiter militarisiert und die Regierungspartei „Centro Democrático“ am 29. Mai bekanntgegeben hat, dass es keinen Dialog mehr mit dem nationalen Streikkomitee geben soll, bestehen die Protestierenden an den Blockaden darauf, dass Präsident Duque zurücktritt. Niemand dort ist bereit für einen Dialog, wenn keine Garantien auf die Unversehrtheit des Lebens bestehen und die Morde täglich weitergehen. „Die korrupten Politiker haben uns alles genommen, sogar die Angst. Jetzt fehlt nur noch, dass sie uns das Leben nehmen“, erklärt mir ein Jugendlicher hinter den Barrikaden. Es ist zu befürchten, dass wir in Cali noch viele weitere Tote zu betrauern haben werden.

Ein Beobachter in Cali, 29. Mai 2021, aus Sicherheitsgründen anonymisiert

Solche Proteste wie jetzt gab es noch nie. In ihnen kommt eine geballte gesellschaftliche Empörung zum Ausdruck, eine Entrüstung wegen der historisch gewachsenen Ungleichheit in unserem Land, die sich während der Pandemie verschärft hat. Breite Bevölkerungsschichten, besonders die Jugendlichen, fühlen sich ihrer Zukunft beraubt. Die Proteste machen auch die tiefe Krise der demokratischen Institutionen deutlich: 30 Jahre nach der Verabschiedung der Verfassung von 1991 ist der soziale Rechtsstaat ein ersehntes Ziel, aber keinesfalls Realität. Der Staat hat auf die zivilen Proteste mit exzessiver Gewalt und vielfältigen Menschenrechtsverletzungen geantwortet. Es wurden bewusst Narrative (von Vandalismus, Terrorismus u.ä.) konstruiert, um die Proteste zu disqualifizieren. Die staatliche Reaktion belegt auch, dass die Regierenden keinerlei „Tuchfühlung“ mit der Mehrheitsbevölkerung und ihren Sorgen haben. Die Interessen des Establishments werden verteidigt, aber nicht die Grundrechte der Menschen.

Seit 2011 haben sich die sozialen Proteste in Kolumbien verändert. Merkmale dieser „neuen Generation“ von Protesten sind unter anderem: die Führungsrolle von Gewerkschaften und sozialen Organisationen ist schwächer geworden, dagegen übernimmt die Jugend eine herausragende Rolle. Es gibt nicht nur eine, sondern vielfältige Agenden, die bei den Mobilisierungen zusammenfließen und über den eigentlichen Auslöser des Protests – in diesem Fall die Steuerreform – hinausgehen. Es geht also gleichzeitig um die Agenda der Feministinnen, die der ethnischen Minderheiten, der Studierenden, um die Friedensagenda, um den Ruf nach demokratischen Reformen usw. Hervorzuheben sind auch die vielfältigen künstlerischen Ausdrucksformen und die kreative Aneignung des öffentlichen Raums bei den Protesten.

Wie wird sich dieser Prozess weiterentwickeln? Im Augenblick lautet die Antwort des Staates: Zuckerbrot und Peitsche. Auf der einen Seite wird Dialog angeboten, auf der anderen mit Gewalt agiert und diese legitimiert. Die internationale Gemeinschaft muss deshalb den Druck verstärken, damit sich der Dialog durchsetzt, der auf vielen Ebenen geführt werden muss. Es muss weiterhin darauf insistiert werden, dass die Interamerikanische Menschenrechtskommission und die zuständigen Gremien, wie die UN-Arbeitsgruppen für Verschwindenlassen und für Folter, ihre Arbeit im Land machen können; ebenso dass die Militärhilfe von Seiten der USA suspendiert und die demokratische Klausel des Freihandelsvertrags EU-Kolumbien angewendet wird. Diese Forderungen können bei den Solidaritätsbekundungen, die sich rund um den Erdball entwickelt haben, vorgetragen werden. Dass es eine so breite internationale Solidarität gibt, ist auch ein Merkmal dieses neuen Protestzyklus.

Lourdes Castro, Menschenrechtsanwältin in Bogotá, 26. Mai 2021

Es ist unglaublich, was gestern, am 28. Mai, bei den Demonstrationen geschehen ist. Zwar wurden schon bei früheren Protesten „Zivile“ gesichtet, die auf Demonstrierende schossen, aber gestern agierten sie völlig dreist und offen. Selbst die großen Medien konnten nicht mehr leugnen, dass Zivilpersonen, mit Kurz- und Langwaffen ausgestattet, die Polizei unterstützten. Bisher geschahen diese Übergriffe vornehmlich nachts, wenn die UN-Delegationen und andere Beobachter*innen abgezogen waren.

Hier in Medellín ist es anders als in Bogotá und Cali, wo Jugendliche aus und in den Armenvierteln so bezeichnete „Widerstandspunkte“ (Blockaden) aufrecht erhalten. Hier führen die Demonstrationen zwar durch die Armenviertel, aber es gibt dort keine „Widerstandspunkte“. Der im Hintergrund agierende Paramilitarismus würde das nicht zulassen. Die Menschen in den Armenvierteln haben sogar Angst, mit „Töpfeschlagen“ ihren Unmut zu äußern oder ihre Sympathien für die Proteste offen zu zeigen. Bei den Demos ist viel Anspannung zu spüren, die Angst vor denen, die sichtbar und unsichtbar die Proteste kontrollieren, geht um. Hier ist eine Art Ruhe vor dem Sturm. Den Leuten ist klar, dass sie wachsam sein müssen. Sie demonstrieren mit, hüten sich aber, dass man davon in ihrem Viertel erfährt.

Es ist sehr beeindruckend, all diese Jugendlichen auf der Straße zu sehen, mit ihrer Musik, ihren Slogans, ihren künstlerischen Initiativen – laut und kreativ. Neu bei diesen Protesten ist sicherlich, wie darüber berichtet wird. Alles geht über das Internet und viele werden zu Reporter*innen vor Ort. Die Jugendlichen sind dabei höchst aktiv und lernen schnell. Gestern begannen zum Beispiel alle Videos mit Ort und Datum der Geschehnisse. Auch das Phänomen der „ersten Linie“ ist neu, also derjenigen, die in der ersten Reihe die Protestierenden vor Polizeiübergriffen schützen. Das ist ein Ausdruck von: „Wir haben nichts mehr zu verlieren!“ Es ist interessant, wie sich die jungen Leute für diese Einsätze schulen, wie sie sich rund um die Gemeinschaftsküchen versammeln und wie sie es geschafft haben, ihre Mütter einzubeziehen und viele Menschen in ihren Vierteln zu sensibilisieren.

Es gibt große Angst vor dem, was jetzt kommen wird, und dass die staatliche Antwort auf diesen kollektiven Aufschrei von „Es ist genug! Wir können nicht mehr!“ sehr hart sein wird. Es ist alles ungewiss, gleichzeitig aber so gut wie sicher, dass es zu einem Massaker kommt. Diese Aussichten sind sehr schmerzhaft.

Anyela Heredia, Mitarbeiterin der Zeitung „El Colectivo – Periodismo para la Utopía“ in Medellín, 29. Mai 2021