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Die Ruhe nach dem Sturm hält nicht ewig

In „Mi vida y el Palacio“ von Helena Uran Bidegain ergreift die Tochter eines 1985 im kolumbianischen Justizpalast Ermordeten das Wort
Gaby Küppers

Am Vormittag des 6. November 1985 drangen 35 Mitglieder der Guerillagruppe M-19 in den Justizpalast in Bogotá ein. Wenig später begann eine dramatische Rückeroberungsschlacht durch das Militär. Am 7. November verkündete der Oberbefehlshaber der Streitkräfte das Ende des Gefechts. Über 100 Menschen waren tot, etliche blieben verschwunden, mindestens 38 endeten in Massengräbern. Der Justizpalast, durch Bomben schwer beschädigt, war in weiten Teilen Ruine. Staat und Militär übernahmen die Deutungshoheit über die Ereignisse und die Verantwortlichkeiten: „Das Vaterland wurde vor der Subversion gerettet.“ Erst 20 Jahre später begannen ernsthafte Ermittlungen, doch die offizielle Wahrheit gilt bis heute.

Eigentlich ist alles gesagt über den Sturm auf den Justizpalast in Bogotá. Sollten man und frau meinen. Doch auf Deutsch spuckt Google beim Stichwort „Sturm auf den Justizpalast“ zuerst denjenigen von 1927 in Wien aus. Enttäuschend auch der deutsche Wikipedia-Eintrag. Die magere Chronik geht zwar auf die Ereignisse in Bogotá ein, trägt jedoch eindeutig die Handschrift eines Vertreters der offiziellen Lesart. Zum 20. Geburtstag der freien Enzyklopädie wäre es an der Zeit, so etwas richtigzustellen. Rund 30 Bücher über die Ereignisse sind dagegen auf Spanisch erschienen. Das mindestens 31. Buch kam zum 35. Jahrestag des Justizpalasts in Flammen heraus, ein bemerkenswertes Buch über ein verordnetes Schweigen und dessen Unhaltbarkeit.

Die Lektüre lohnt sich. Schließlich geht es um den Ausgang aus einem ganz persönlichen Trauma. Autorin ist die Tochter von Carlos Horacio Uran Rojas, 1985 stellvertretender Staatsanwalt im Justizpalast und Autor militärkritischer Schriften, und von Ana María Bidegain, heute in Florida lehrende Befreiungstheologin. Helena Uran Bidegain ist zehn Jahre alt, als sie am 6. November 1985 mit ihrer Mutter und ihren drei Schwestern vergeblich auf die Rückkehr des Vaters aus dem Justizpalast wartet. Dort ereignet sich Dramatisches.

25 Männer und zehn Frauen der M-19 waren kurz vor Mittag in den Justizpalast zu einer „bewaffneten Anklage“ eingedrungen. Sie wollten ein politisches Gerichtsverfahren gegen Präsident Belisario Betancur erzwingen, dem sie Wortbruch bei den Friedensverträgen des Vorjahres vorwarfen. Das Husarenstück kam nicht wirklich überraschend. Blauäugig hatten Angehörige der damals wegen ihrer waghalsigen Operationen durchaus populären M-19 die Pläne den Medien gegenüber erwähnt. Auch das Militär, aufgrund kurz zuvor gelungener M-19-Aktionen auf Rache aus, war im Bilde. Nun bot sich die Gelegenheit zum Gegenschlag. An besagtem Vormittag fehlten am Gebäudeeingang der übliche Polizeischutz und die Metalldetektoren. Kaum waren die Guerilleros drinnen, waren Militär und Scharfschützen zur Stelle, 5300 Bewaffnete wurden zusammengezogen - gegen 35 Guerilleros!

Eine Stunde später tauchen Panzer auf, um 14 Uhr zerstören zwei davon das Eingangsportal und fahren (!) in das Justizgebäude. Der Gerichtspräsident fleht die Militärs draußen über Lautsprecher an, nicht weiter zu schießen, sondern zu verhandeln, Präsident Belisario Betancur solle ihn anrufen. Der reagiert nicht. Es ergeht eine Anweisung an die Radiostationen, nicht über den Justizpalast zu berichten. Am Abend verfügt Kommunikationsministerin Noemi Sanín, heute noch prominent im politischen Geschäft, ein inländisches Fußballspiel im Fernsehen zu übertragen. Das passiert sonst nie.

Zuvor streuen die Fernsehnachrichten das Gerücht, die M-19 handle im Auftrag des Drogenhändlers Pablo Escobar und zerstöre Akten der Auszuliefernden. Völlig falsch, aber diese Version ist bis heute in der „Narcos“-Serie von Netflix als die gültige zu besichtigen. Von den im Justizpalast befindlichen Akten über 1800 Prozesse gegen Militärs wegen Folter und Menschenrechtsverletzungen kein Wort. Auch nicht von den Drohungen der Militärs an die Adresse der Richter wegen eben dieser Anklagen.
Noch an demselben Abend wussten die Guerilleros, dass ihre bewaffnete Schnapsidee gescheitert war. Doch das Militär wollte keine Verhandlungen, sondern den totalen Sieg.

Mit der Bombardierung und schließlich Erstürmung des Gebäudes am Nachmittag des 7. November war der Horror indes nicht zu Ende. Zwar gelten die Militärs seither als die Retter des Vaterlandes, und die Toten und Verschwundenen gehen offiziell auf das Konto der besiegten Guerilla. Doch belegen Videoaufzeichnungen, dass viele vom Militär „Befreite“ in deren Kommandozentrale Casa de los Floreros gebracht wurden, von wo sie nie wieder auftauchten. So auch Horacio Uran Rojas. Eine Freundin der Familie fand ihn Tage später als N.N. in der Militärpathologie, offensichtlich gefoltert und erschossen. Wer die Verschwundenen fortan suchte und das Militär als Täter verdächtigte, galt als Nestbeschmutzer*in und, schlimmer noch, Guerillasympathisant*in.

Im Jahr 1987 gibt die Familie Uran Bidegain dem immer heftigeren Druck, nicht weiter an den Fall zu rühren, nach und verlässt das Land. Eine Odyssee beginnt: nach Uruguay, zurück nach Bogotá, dann USA, Baskenland, Madrid und wieder Bogotá. Helena Uran, immer noch stumm über das Erlittene, beginnt dort ein Politologiestudium, wird Avianca-Stewardess, landet in Hamburg und schließlich in Berlin. Erst dort, wo sie die deutsche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und Menschen aus Konfliktgebieten von Chile über den Balkan bis Afrika kennenlernt, beginnt sie die offizielle Geschichte für sich selbst zu entflechten. Die Fragen ihres Sohnes, nunmehr exakt so alt wie sie beim Sturm auf den Justizpalast, helfen, ihren Vater als Opfer politischer Gewalt zu begreifen. Und zu erkennen, dass dies kein Einzelschicksal ist. Das Ergebnis ist das vorliegende Buch.

Die Stationen bis hierher entlarven einen Staat, der sich schlichtweg militärischer Selbstherrlichkeit unterwirft. Im Jahr 1996, gut zehn Jahre nach dem Blutbad, gelang es dem unermüdlichen Rechtsanwalt Eduardo Umaña Mendoza als Vertreter der ermordeten Cafeteria-Angestellten, ein Massengrab öffnen zu lassen. Er ermittelte. Zwei Jahre später wurde er erschossen. Helena Uran traf seinen Sohn Camilo viel später in Berlin und erkannte Parallelen. Im Jahr 2005, 20 Jahre nach dem Massaker, unternahm erstmals (!) eine Sonderstaatsanwältin, Angela María Buitrago, ernsthafte Nachforschungen und fand als Beweis für die Ermordung Urans Brieftasche in einem Militärarchiv. Fünf Jahre später erklärte sie den Fall zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Damit verjährt er nicht mehr. Als Buitrago drei verdächtige Generäle einbestellte, wurde sie entlassen. Seither ruht der Fall in Kolumbien. Angela Buitrago kennen heute viele als Mitglied der internationalen GIEI-Kommission zur Aufklärung der Ayotzinapa-Morde an 43 Studenten in Mexiko.

Im gleichen Jahr gelang Richterin María Estela Jaque die erste Verurteilung, trotz Prozessbehinderungen. Coronel Plazas Vega musste wegen der Cafeteria-Toten für 35 Jahre in Haft; die Richterin dafür ins Exil nach Deutschland. Im Jahr 2015 wurde das Urteil revidiert und Plazas Vega freigesprochen. Zwei Jahre zuvor hatte sich der Interamerikanische Gerichtshof (CorteIDH) des Falls angenommen. Die Familie Uran Bidegain war bei der Sitzung des CorteIDH in Brasília anwesend. Die Verlogenheit der kolumbianischen Regierungsvertreter dort war nicht zu überbieten; erst 2015 kam die Regierung der Verurteilung zur öffentlichen Entschuldigung nach. Ein Trauerspiel. Andere Teile des Urteils, etwa eine schnelle Aufklärung der Ereignisse, überhört sie bis heute. Als einziger General wurde Arias Cabrales 2019 wegen fünf Verschwundener aus der Justizpalast-Cafeteria verurteilt. Im Jahr 2020 ordnete das Sonderstrafgericht JEP dessen Freilassung an.

Vom „harten Vaterland der Straflosigkeit“ spricht Pepe Mujica, der ehemalige Staatspräsident von Uruguay, in seinem lesenswerten Vorwort zum Buch. Er weiß, worum es geht, verbrachte er doch selbst zwölf Jahre in Isolationshaft in einer Diktatur.

Schicksal, Zweifel und Selbstzweifel angesichts ermordeter Familienangehöriger teile Helena Uran Bidegain mit (Aber-)Tausenden Familien des Kontinents. Francisco De Roux, prominentes Mitglied des Jesuitenforschungszentrums CINEP, der selbst am 6. November 1985 die verängstigte Familie besuchte, beschließt das Buch mit einer würdigenden Rekapitulation der 35 Jahre langen Suche der Autorin nach der Wahrheit.
Im Jahr 1986 erschien ein Artikel von Uran Rojas posthum in Le Monde Diplomatique. Er machte darin den Großgrundbesitz als Grund dafür aus, dass in Kolumbien kein Frieden möglich sei und die Friedensverträge von 1984 scheiterten. Klarer konnte man den Kern der Politik Präsident Álvaro Uribes (2002-2010) und seine bis heute andauernde fatale Obstruktion der Friedensverträge zwischen Regierung und FARC-Guerilla nicht voraussagen. Die Geschichte wiederholt sich, solange sie nicht aufgearbeitet ist – und solange die Militärs das Sagen haben. Das wusste Horacio Uran. Und das wurde sein Vermächtnis. Wie es das überaus wichtige Buch seiner Tochter zeigt.

Helena Uran Bidegain, Mi vida y el Palacio: 6 y 7 de Noviembre de 1985,
Editorial Planeta 2020, 224 Seiten, Zu beziehen (auch als E-Book) über
http://abebooks.com oder direkt beim Verlag selbst: https://www.planetadelibros.com