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Planetarische Grenzen klar erkannt

Rezension: Wolfram Stierles „Plädoyer für eine nachhaltige Entwicklungspolitik“
Werner Rätz

Der Leiter der Stabsstelle „Dialog werteorientierte Entwicklungspolitik“ im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit hat eine kritische Bilanz von genau 60 Jahren „Entwicklungspolitik“ vorgelegt. Ich setze „Entwicklungspolitik“, die zu Beginn „Entwicklungshilfe“ hieß und heute beschönigend „Entwicklungszusammenarbeit” (EZ) genannt wird, hier in Anführungszeichen, zum einen, weil es tatsächlich zitierte Bezeichnungen sind, zum anderen, weil sie alle drei voll mit Annahmen sind, die sie nicht offenlegen. Das weiß auch der Autor und benennt diese impliziten Inhalte offen und immer wieder. Er denkt nicht, dass mit der EZ Probleme gelöst werden könnten, sondern setzt vielmehr die Aussage Erhard Epplers, des ersten Ministers im BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), als Motto dem Buch voran: „Probleme lösen, das ist nicht meine Terminologie.“ Wir haben es also in gar keiner Weise mit einer Apologie bestehender Politik zu tun.

Nachdem er Entwicklungspolitik als „Aschenputtel“ der Politik und das BMZ als ebensolches des Bundeskabinetts identifiziert hat, erklärt er sie gleichzeitig zur „Königin der Herzen“ (S. 17), will sagen: Das BMZ hat zwar nichts zu sagen und Entwicklungspolitik rangiert im Machtgefüge der Interessen ziemlich hinten, führt aber den unwiderstehlichsten Diskurs. Wer wollte schon widersprechen, wenn behauptet wird, eine „bessere Welt ist machbar“ (S. 21)?

Im zweiten Kapitel gibt es einen Durchgang durch diverse Kritiken aus den sechs „Entwicklungsdekaden“ seit 1960. Auf 37 Seiten werden 29 Autoren bzw. Diskussionsansätze vorgestellt, darunter mit Aram Ziai, Ulrich Brand und Alberto Acosta auch drei ila-Autoren.

Die international bedeutsamsten Denker (26 Männer und nur drei Frauen, deshalb die männliche Form) sind dabei (unter anderem Prebisch, Frank, Illich, Wallerstein), wobei eine der Frauen (Ester Boserup) genau diesen genderblinden Fleck in der Entwicklungspolitik thematisiert: „Die vergessenen Frauen“ (S. 34). Die Geschlechterdisparität in der Darstellung hat also offenbar mehr mit der Vorstellung von Entwicklung zu tun als damit, dass Stierle Frauen ausblendet.

Es ist dem Autor durchaus bewusst, dass „eine grundsätzlichere Kritik“ der Entwicklungspolitik „möglich“ sein muss. So ist denn dann auch das dritte Kapitel überschrieben
(S. 63), in dem er diese Kritik in fünf Aspekten erläutert. Es geht um „Widersprüche und Aporien“, die bestehen „bleiben“ (S. 64-84), um „Komplexität und Kohärenz“, die „überfordern“ (S. 84-101), um gravierende globale Probleme, die zu „Omnipotenzfantasien verleiten“ (S. 101-120), um „Globalisierung und Partnerschaft“, die „misslingen“, und schließlich um „Weltanschauungen und Religion“ (S. 120-130), die „verunsichern“ (S. 131-136). Auch in diesem Kapitel bezieht sich Stierle auf eine große Zahl von Denkerinnen und Denkern, entwickelt seinen eigenen Argumentationsfaden entlang von deren Ausarbeitungen und den dazwischen bestehenden Widersprüchen, Inkonsistenzen, Lücken. Er entgeht weitgehend der Falle des Eurozentrismus, etwa in dem mehrfach aufgenommenen Menschenrechtsdiskurs, indem er andere Sichtweisen prominent zitiert (unter anderem Pankraj Michra), und macht deutlich, dass das Reden von der Nachhaltigkeit vor allem apologetische Funktion hat: „Das Nachhaltigkeitsviereck der Menschheit ist unbewohnt.“ (S. 84)

Die im Schlusskapitel diskutierten „fünf Zukunftskompetenzen für nachhaltige Entwicklung“ (S. 137) (Ambivalenz, Transformation, Modernität, Legitimität, Werte) zeigen sowohl, worauf der Autor hinauswill, als auch, was er ausblendet. Er vermisst eine „kultursoziologische Neubewertung der tradierten Ansichten von Fortschritt, Modernisierung und Moderne“ (S. 140) ebenso wie eine praktische Vorstellung von Transformation (S. 146ff), womit die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) der UNO nicht gut wegkommen, um dann zuzuspitzen: „Die Frage ist naheliegend, ob die Lebensweise der Industrienationen und ihrer Gesellschaften historisch nicht in einer Reihe mit Sexismus, Rassismus und Sklaverei landen wird: lange legal, zunehmend als illegitim erkannt und viel zu spät als illegal erklärt.“ (S. 153)

Was nicht vorkommt, auch hier nicht, sind Kämpfe und die, die sie führen. Es gibt keine politischen Bewegungen, keine um Selbstbefreiung ringenden Subjekte. Sie fehlen in der Analyse und tauchen auch bei Lösungsvorschlägen nicht auf.

Trotz dieser eklatanten Schwäche ist das Buch eine so kritische und radikale Auseinandersetzung mit dem Entwicklungsparadigma, wie es aus dem inneren Betrieb desselben eigentlich nicht erwartet werden konnte.