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Ohne Ethik gib es keine Zukunft

Warum Lucho und David die Wahlen in Bolivien gewonnen haben

Nach den Vorwahlumfragen schien es ein knappes Rennen zu werden. Nicht einmal die Strategen der MAS hatten mit einem derart deutlichen Sieg von Luis Arce Catacora und David Choquehuanca Cespedes bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Bolivien gerechnet. Am Ende waren es über 25 Prozent Vorsprung vor der Comunidad Ciudadana des sozialliberalen Carlos Mesa. Pablo Solón, unter anderem ehemaliger UN-Botschafter von Evo Morales und Leiter der nach seinem Vater benannten Stiftung Solón, analysiert die Gründe.

Pablo Solón

Da sind zunächst die desaströsen zehn Monate der Regierung von Jeanine Áñez. In dieser Zeit wurden zahlreiche Fälle von Korruption und Vetternwirtschaft bekannt. Während die Menschen unter der COVID-Pandemie und Quarantäne litten, verloren die Politiker*innen der alten Garde keine Zeit, sich die Taschen zu füllen. Und genauso wie zuvor unter der MAS-Regierung wurden diejenigen abgesetzt, die Untersuchungen gegen den Innenminister und das Umfeld der Präsidentin eingeleitet hatten. Statt den Rechtsstaat wiederherzustellen und die Umstände der Massaker von Senkata und Sacaba nach dem Rücktritt von Morales aufzuklären, wurde die Justiz gegen die politische Opposition eingesetzt.

Auch die Waldbrände von 2019 wiederholten sich 2020. Und statt die dafür verantwortlichen Gesetze zu annullieren, wurde die Agrarexportindustrie weiter begünstigt, mit der Verkürzung der Genehmigungsverfahren für gentechnisch verändertes Saatgut und der vollkommenen Freigabe von Agrarexporten, was zur weiteren Abholzung beiträgt. Wenn die Regierung von Morales die Agrarexportindustrie als Verbündeten hatte, dann war die Regierung unter Añez ihr direkt ausführender Arm. Mit all dem wurde deutlich, dass es schlechtere Regierungen als die der MAS geben konnte.

Zweitens hatte die Pandemie die schon länger andauernde wirtschaftliche Abwärtsentwicklung rapide verschärft, vor allem für die Menschen im informellen Sektor, die von der Hand in den Mund leben. Viele hoffen, dass mit dem ehemaligen Finanzminister der MAS der Aufschwung zurückkommt. Die Wahl 2020 war nicht von Konzepten, sondern von Ängsten und soziokulturellen Identitäten geprägt. Tatsächlich zeigten die Programme der MAS und von Carlos Mesas Partei Comunidad Ciudadana mehr Übereinstimmungen als Unterschiede. Die heftigen Angriffe der Regierung sowie des rechtskatholischen Kandidaten Luis Fernando Camacho aus Santa Cruz machten die MAS zum Opfer und schürten Ängste bei vielen Menschen indigener Herkunft. Die Rechte schürte die Angst vor einer Rückkehr von Evo Morales, die MAS die vor der Rückkehr einer rassistischen neoliberalen Rechten und vor der Wirtschaftskrise. Carlos Mesa fehlte das Verständnis für die Menschen an der Basis mit indigenen Wurzeln und er versäumte es, auf sie zuzugehen.

Sein Bündnis glaubte sich noch im Szenario von 2019, wo er auf die Stimmen derer zählen konnte, die zwar sein Programm nicht teilten, sich aber einer erneuten Kandidatur von Morales widersetzten. Carlos Mesa hoffte, dass sich die Wähler*innen im letzten Moment doch noch für ihn und gegen die MAS entscheiden würden. Doch die MAS gewann nicht wegen Evo, sondern trotz Evo. Der hatte versucht David Choquehuanca zugunsten des ehemaligen Außenministers Diego Pary an den Rand zu drängen, obwohl Choquehuanca der Wunschkandidat der, vor allem indigenen, Organisationen des Hochlandes war. Doch diese setzten sich gegenüber Morales zumindest teilweise durch, denn eigentlich wollten sie Choquehuanca als Präsidentschaftskandidaten.

Der Wahlsieg ist allerdings kein Blankoscheck. Wie Luis Arce selbst anerkannte, gebe es eine Reihe von Fehlern aus der vorherigen Regierungszeit der MAS, die korrigiert werden müssten. Unklar ist, auf welche Fehler er sich dabei bezieht und ob diese Regierung fähig ist, den 2005 angestoßenen Prozess des Wandels wieder aufzunehmen und zu erneuern. Das Wahlergebnis bestätigt auch nicht die These, dass die Ereignisse vom Vorjahr das Ergebnis einer rechten Verschwörung waren und dass der Internationale Progresismo (der Mitte-Links-Regierungen) erneut gesiegt hat. Verschiedene Vertreter*innen der indigenen Bauernorganisationen haben grundlegende Kritik am Vorgehen der traditionellen Linken und ihren Strategien zum Machterhalt geäußert.

Und so liegt der Schlüssel weniger in der künftigen Regierung als in der Fähigkeit der Basisorganisationen, sich wieder selbst zu vertreten und im Bündnis mit städtischen Bewegungen eigene Vorschläge einzubringen. Die neue Regierung wird anders sein als die unter Evo Morales, schließlich haben sich sowohl Kontext als auch interne Machtverhältnisse in der MAS verändert. Luis sagt, dass er keine Marionette von Morales sein wird, doch in der Vergangenheit hat er ihm gegenüber wenig Eigenständigkeit gezeigt. Auch ist zu erwarten, dass die neue Regierung bald unter Erfolgsdruck gerät. Die Abnahme der Devisenreserven, der Druck auf die Geldwertstabilität durch die Abwertungen in den Nachbarländern und die Rezession erschweren die Realisierung des Wahlversprechens auf wirtschaftliche Stabilität, Wirtschaftswachstum und die Erfüllung der Ansprüche der Bevölkerung. Das von Arce seit 2015 angewandte Rezept, Geld durch Erhöhung der Auslandsverschuldung in die Wirtschaft zu pumpen, ist nicht nachhaltig. Es ist Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen und über die Grenzen des extraktivistischen Wirtschaftsmodells zu diskutieren, das die Regierung von Evo Morales verfolgt hatte.

Bolivien benötigt dafür einen Versöhnungs- und Dialogprozess. Dies kann wie in der Vergangenheit über Konzessionen, etwa an die Bergwerkswirtschaft, die Agrarexportwirtschaft oder die Privatbanken geschehen. Die Alternative wären die in der Verfassung von 2009 verankerten Mechanismen. Die neue Regierung kann sich für die Verschärfung des bisherigen Wirtschaftsmodells ohne Rücksicht auf Verluste entscheiden, oder aber für das Verfassungsprinzip der sozialen Funktion von Besitz und der Rechte der Mutter Erde sowie der Förderung der Agrarökologie. Luis Arce steht mit seinem Vorschlag, massiv Biotreibstoff zu produzieren, für das bisherige Wirtschaftsmodell, David Choquehuanca äußert seine Zweifel.

Ein weiterer zentraler Punkt ist die Gewaltenteilung. Evo Morales zielte darauf, alle Instanzen des Staates zu kontrollieren und gegen seine politischen Gegner einzusetzen, die Justiz, das Parlament, den Wahlgerichtshof, die Ombudsstelle oder den Rechnungshof. Selbst die Kontrolle der Presse war ein Charakteristikum der Regierung Morales. Sollte diese Strategie fortgesetzt werden, dürfte es bald wieder zu Protesten kommen. Dies wird sich an der Frage zeigen, wie mit der Korruption unter der Morales-Regierung umgegangen wird. Mit Luis Arce (gegen den selbst Anklagen vorliegen, Anm. d.Übers.) und David Choquehuanca wird die Bevölkerung weniger nachsichtig sein als mit Evo, denn Korruption in Zeiten des Booms ist etwas anderes als in Krisenzeiten.

Unter den früheren Regierungen der MAS ist eine neue Bürokratie und Bourgeoisie entstanden, Vertragsnehmer des Staates, Handel, Schmuggel, Bergwerkskooperativen oder die mit dem Drogenhandel verbundene Kokaproduktion. Diese neuen Eliten hatten starken Einfluss auf die Entscheidungen der Regierung Morales. Nur durch eine Stärkung der Autonomie der bestehenden und neuer sozialer Bewegungen kann dem entgegen getreten werden. Wird es die bolivianische Gesellschaft schaffen, die Ethik über den politischen Utilitarismus zu stellen? Dafür braucht es eine offene und ehrliche Debatte in den Organisationen. Wenn nicht, gibt es keine Zukunft.

Kürzung und Übersetzung: Peter Strack