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Über das Wesen des Kolonialismus

Zwei neue Bücher von Maryse Condé
Gert Eisenbürger

Als die Vergabe des Literaturnobelpreises 2018 ausgesetzt wurde, riefen Kulturschaffende in Schweden zur Vergabe eines alternativen Literaturpreises auf. Leser*innen sollten das Preisgeld spenden und entscheiden, wer ihn bekommen sollte. Am Ende gab es ein eindeutiges Votum für die 1937 geborene Maryse Condé aus Guadeloupe. Die Wahl der erst- und einmaligen alternativen Literaturnobelpreisträgerin wurde auch in den hiesigen Feuilletons vermeldet, wobei relativ wenig über die Autorin und deren Bücher zu lesen war. Dafür gab es einige dümmlich-arrogante Kommentare, die Entscheidung der schwedischen Leser*innen wäre wohl primär der politischen Korrektheit geschuldet, weshalb die Preisträgerin Frau und schwarz hätte sein müssen.

Eine schwarze Frau ist Maryse Condé zweifellos, vor allem aber ist sie eine tolle Erzählerin. Ich habe mit großem Vergnügen und Erkenntnisgewinn einige ihrer Romane gelesen, allen voran Segu, die im 19. Jahrhundert im Reich von Mali angesiedelte Familiensaga, mit der sie international bekannt wurde. In dem Buch schafft sie es, eine spannende Geschichte zu erzählen und gleichzeitig die Welt einer feudalen Hochkultur und eines sozial, ethnisch und religiös ausdifferenzierten afrikanischen Reiches vor der kolonialen Eroberung lebendig werden zu lassen. Auch ihre anderen, meist historischen Romane erzählen Geschichten und Geschichte jenseits des kolonialen Blicks.

Nachdem bis 2001 mehrere Titel Maryse Condés auf deutsch erschienen waren, mussten ihre Leser*innen danach lange auf Übersetzungen ihrer neueren Bücher warten. 2011 brachte der Litraduktverlag den Roman „Victoire“ heraus, in dem sie die Geschichte ihrer Großmutter erzählt, die, selbst Analphabetin und des Französischen nicht mächtig, ihren Kindern Bildung und sozialen Aufstieg ermöglichte.

Nun legt der gleiche Verlag „Mein Lachen und Weinen – Wahre Geschichten aus meiner Kindheit“ vor. Obwohl es formal 17 abgeschlossene Erzählungen sind, können sie wie ein Roman gelesen werden, der die Kindheit und Jugend der Autorin in Pointe-à-Pitre, der Hauptstadt Guadeloupes, und ihre Studienvorbereitungsjahre in Paris reflektiert.

Ihre Eltern, das Ehepaar Bocoulon, gehörten zu den gut situierten Bildungsbürger*innen im La Pointe (wie Pointe-à-Pitre von seinen Bewohner*innen genannt wird) der vierziger Jahre. Ihre Mutter war eine der ersten schwarzen Lehrerinnen, ihr Vater Verwaltungsbeamter, der später eine Bank für Angehörige des öffentlichen Dienstes gründete. Die Familie zählte sich zu den „Grands Nègres“, den „Großen Schwarzen“, und grenzte sich in allem von der Masse der schwarzen Bevölkerung ab. Aber auch zu den Weißen und den „Mulatten“ 1 hielt man Distanz, wie in der Erzählung „Die schönste Frau der Welt“ sehr anschaulich dargestellt ist.

Bezugs- und Sehnsuchtsort der Eltern war Paris, wohin sie als französische Beamte alle zwei Jahre auf Staatskosten reisen konnten. Als die kleine Maryse in der Erzählung „Familienportrait“ kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal mit ihren Eltern dort war, gefiel ihr, dass sie einfach so auf der Straße spielen und toben durfte. In La Pointe (Kreol: Lapwent) war ihr das untersagt, weil ihre Mutter fürchtete, sie würde dort das Kreol der Nachbarskinder übernehmen, während sie in Paris sicher war, dass alle Spielkamerad*innen Französisch sprachen.

In den Erzählungen „Familienportrait“ und „Ferien im Wald“ zitiert die Autorin zweimal eine Aussage ihres geliebten großen Bruders Alexandre, ihre Eltern seien „zwei Entfremdete“, eine Bezeichnung, unter der sie sich als Kind nichts vorstellen konnte, die sie aber später als durchaus zutreffend erkannte. Auch wenn der Dünkel und das Abgrenzungsbestreben ihrer Eltern sicher das „normale“ Maß überstiegen, reflektierten sie doch vor allem die soziale und ethnische Segregation der Kolonialgesellschaft. So gelingt es Maryse Condé in scheinbar subjektiv-autobiografischen Kindheitsgeschichten, ein sehr anschauliches Bild der psychologischen Dimension des Kolonialismus zu zeichnen, vom Minderwertigkeitsgefühl vieler „Kolonisierter“ und dem Versuch, dieses durch Überanpassung zu kompensieren.

Die letzte Erzählung im Buch, „Olnel oder das wahre Leben“, endet damit, dass sich die Erzählerin in Paris zum ersten Mal ernsthaft verliebt, nämlich in einen älteren Studenten aus Haiti. Am Beginn von Maryse Condés ebenfalls in diesem Jahr erschienener Autobiografie „Das ungeschminkte Leben“ erfahren die Leser*innen, dass diese Beziehung zu einer ungewollten Schwangerschaft der gerade 18-jährigen Autorin führte. Als sie dies ihrem Partner Jean Dominique (später einer der bekanntesten Journalisten Haitis, der 2000 in Port-au-Prince ermordet wurde) eröffnet, reagiert dieser hocherfreut, um ihr am nächsten Tag mitzuteilen, er müsse umgehend zurück nach Haiti, um gegen François Duvalier zu kämpfen, der sich anschicke, eine Diktatur zu errichten. Ohne den Kindsvater und ohne familiären Rückhalt (ihre Mutter und ihr geliebter großer Bruder waren kurz zuvor gestorben) und von der Community der französischen Antillen wegen ihres vermeintlich unmoralischen Lebenswandels ausgegrenzt, muss sie mit ihrem Sohn (dem später vor allem in der französischen Schwulenszene bekannten Autor Denis Bocoulon) alleine klarkommen. Als sie dann noch an Tuberkulose erkrankt, gibt sie Denis zu einer Pflegemutter, während sie in einem Sanatorium in Südfrankreich behandelt wird. Dort überwindet sie die Krankheit und schafft sogar einen Studienabschluss an der Universität Aix-en-Provence. Zurück in Paris nimmt sie ihren Sohn wieder zu sich und beginnt einen Job im Unterrichtsministerium.

Ihr Freundeskreis besteht vor allem aus Afrikaner*innen. Dies und ihre Faszination für die Autoren der Négritude, vor allem Aimé Césaire aus Martinique, der eine schwarze Kultur und Gemeinsamkeit aller schwarzen Menschen propagiert, lässt in ihr den Wunsch reifen, in Afrika zu leben. Als ihre Bewerbung als Lehrerin in der damals noch französischen Kolonie Côte d‘Ivoire (Elfenbeinküste) vom französischen Unterrichtsministerium angenommen wird, geht sie 1959 nach Afrika, wo sie mit einer kurzen Unterbrechung fast elf Jahre leben sollte, neben der Elfenbeinküste in Guinea, Ghana und dem Senegal.

In ihrer Autobiografie erzählt Maryse Condé nicht ihr ganzes Leben, sondern im Wesentlichen ihre Zeit in Afrika. Und sie erzählt von ihren – durchweg unglücklichen – Beziehungen zu afrikanischen Männern. Noch in Paris hatte sie 1958 den aus Guinea stammenden Schauspieler Amadou Condé geheiratet, dessen Familiennamen sie bis heute trägt. Diese Beziehung war von Anfang an von vielen Missverständnissen und Widersprüchen geprägt. Dennoch begegnete ihr Amadou Condé stets mit Respekt, den die meisten ihrer späteren Partner und Väter ihrer drei Töchter oft vermissen ließen. Die gescheiterten Beziehungen stürzten sie immer wieder in schwere Krisen und Depressionen, in denen ihr und ihren Kindern gute Freundinnen oder befreundete Paare beistanden.

Neben diesen negativen persönlichen Beziehungserfahrungen bleibt auch das Verhältnis zu Afrika überwiegend schwierig. Anders als von den Autoren der Négritude proklamiert, erlebt sie keineswegs eine Verbundenheit aller schwarzen Menschen, sondern große Vorbehalte der Afrikaner*innen gegen Antillaner*innen, also Menschen aus der Karibik. Das lag zum einen daran, dass die französische Kolonialmacht viele Bürger*innen aus Guadeloupe und Martinique als Kolonialbeamt*innen oder eben Lehrkräfte nach Afrika schickte. Damit waren diese in den Augen vieler Afrikaner*innen Teil des Kolonialsystems. Zudem waren die Antillaner*innen vielen Afrikaner*innen zu „verwestlicht“, ohne Kenntnisse und Achtung der afrikanischen Traditionen.

Trotz ihrer problematischen Beziehungserfahrungen mit haitianischen und afrikanischen Männern sollten sie zwei afrikanische und ein haitianischer Intellektueller entscheidend beeinflussen. Politisch ist dies vor allem der Kapverdianer Amilcar Cabral, der Gründer der Befreiungsbewegung PAIGC (Partei für die Unabhängigkeit von Guinea Bissau und Cabo Verde) und vielleicht theoretisch reflektierteste Kopf der afrikanischen Freiheitskämpfer*innen. Neben der Lektüre der Bücher Frantz Fanons aus Martinique werden die Anregungen und Diskussionen mit Amilcar Cabral, dem sie in Guinea begegnet, für sie prägend. Literarisch haben sie ihre Freundschaft und ihre Gespräche mit dem haitianischen Autor Roger Dorsinville und dem senegalesischen Autor und Filmemacher Ousmane Sembène stark beeinflusst. Beide ermuntern sie zum Schreiben und unterstützen ihre ersten literarischen Versuche. Sembène sollte später auch mehrfach für sie Partei ergreifen, als afrikanische Intellektuelle ihr, der Antillanerin, nach dem Erscheinen ihres Romans Segu die Kompetenz absprechen, über Afrika zu schreiben.

Schon die gerade erwähnten Namen machen alle, die sich für die antikolonialen Emanzipationsbewegungen in Afrika und darüber hinaus interessieren, neugierig. Maryse Condé ist aber noch vielen anderen begegnet, die die afrikanische Politik und Kultur in den sechziger Jahren geprägt haben, neben Ousmane Sembène und dem 1973 von der portugiesischen Geheimpolizei ermordeten Amilcar Cabral etwa Ali Sékou Touré, Kwame Nkrumah, Julius Nyerere, Mario de Andrade, Wole Soyinka, dazu Malcolm X und Che – um nur einige Namen zu nennen. Auch darüber etwas zu lesen, machte für mich einen der vielen Reize des Buches aus.

  • 1. Die im Deutschen als diskriminierend empfundene Bezeichnung „Mulatte/Mulattin“ wird in der frankophonen Karibik, so auch von Maryse Condé, als Beschreibung einer sozialen Gruppe verwendet, die im differenzierten ethnischen Gefüge der Gesellschaften Haitis, Guadeloupes und Martiniques einen eigenständigen Platz einnimmt.