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Subversionspotential

In „Abjekte Grenzgänge(r)“ analysiert Rebecca Weber Herrschaftssysteme, Körper und Geschlecht in lateinamerikanischen Romanen
Gaby Küppers

Zunächst muß zweifellos der Titel „Abjekte Grenzgänge(r)“ erklärt werden. Denn die Neuerscheinung von Rebecca Weber soll nicht nur im vielzitierten akademischen Elfenbeinturm Verwendung finden, gibt ihre Interpretationsmethode lateinamerikanischer Romane des 20. Jahrhunderts allgemein nützliche Instrumente für die Auseinandersetzung mit Herrschaftsmechanismen an die Hand.

„Abjekt“ ist im französischen und englischen Sprachraum gebräuchlich („abject“) und bedeutet „abstoßend“, „niederträchtig“, „gemein“. Im Deutschen berufen sich vornehmlich Wissenschaftler*innen auf diesen Begriff und beziehen sich dabei auf den Soziologen Georges Bataille, der in den 1930er-Jahren die Ablehnung der Elenden, Miserablen durch die übrige Gesellschaft bezeichnete. In den 1980er-Jahren arbeitete die Psychoanalytikerin und Literaturtheoretikerin Julia Kristeva die tiefenpsychologische Dimension, also den empfundenen Ekel, angesichts des „Abjekten“ heraus, man denke an Spinnen, Würmer, Maden. Judith Butler wiederum ging noch stärker auf den Aspekt des Körperlichen ein: Körper, die der Normvorgabe nicht entsprechen, am deutlichsten ist das bei der heterosexuellen Norm, werden marginalisiert.

Und natürlich abgewertet. Die „natürlichste“, weil zur Natur erklärten Hierarchie ist die zwischen Normmann und Normfrau, „überlegener Männlichkeit“ und „minderwertiger Weiblichkeit“, zwei Konstruktionen, denen sich offenbar eine Mehrzahl der Menschen, wenn auch vielfach leidend, unterwirft, um in den Genuß der Vorteile zu kommen, die die Mehrheitsgesellschaft Konformen bietet. Im deutschen Sprachraum bahnbrechend im Hinblick auf die Zurichtung von Männerkörpern und entsprechend „männliche“ Ablehnung (Abjektion!) von Frauenkörpern waren Klaus Theweleits „Männerphantasien“ (1977/78), ohne die Rebecca Webers Buch nicht denkbar wäre.

Es geht also in keinem Fall um Essenzen, sondern um Zuschreibungen und Beziehungen. Der Gesellschaftskörper (!) grenzt sich von den Körpern ab, die als eklig, monströs (Foucault) oder grotesk (Bachtin) deklassifiziert werden, grenzt sie aber nicht ganz aus. Denn gerade das Andere, gerade die Aversion gegenüber dem „Nicht-Ordentlichen“ stärkt dessen Solidität. Die symbolische Ordnung wird durch „Abjekte“ bestätigt, andererseits kann das „Abjekte“ diese unterlaufen und deren Illegitimität herausstellen. Es hat damit ein subversives Potential im Hinblick auf Ordnungen, von Staatssystemen über hegemoniale Geschlechterbilder bis hin zu Sexualitäten.

Womit wir mitten in der Thematik sind: Grenzgänge(r). Rebecca Weber hat sich in ihrer Doktorarbeit (hauptsächlich) mit Romanen aus vier Regionen Lateinamerikas beschäftigt, bei denen die Kritik an Herrschaftssystemen – autokratischen, diktatorischen, totalitären – eine zentrale Rolle spielt. Wie bei Promotionen unabdingbar, ist den eigentlichen Romananalysen eine Methodendiskussion vorangestellt, die die obigen Anrisse wesentlich vertieft. Die gute Strukturierung macht die Überlegungen recht einfach mitvollziehbar. Da den vier Romanen zudem jeweils eine ausführliche Einführung in Land, Literatur und Rezeption vorangestellt ist, kann man aber auch später in die Lektüre einsteigen.

„Der Kuß der Spinnenfrau“ des Argentiniers Manuel Puig (1932-1990) erschien 1976 unter der Videla-Diktatur und wurde sofort verboten. Gängige Interpretationen des 1985 verfilmten Erfolgsromans reichen von hollywoodianisch inspirierter Trivialliteratur über Schwulenepos bis Antidiktaturenroman. Rebecca Weber nimmt einen weiteren Aspekt in den Blick: in der Geschichte über den (vermeintlichen) Sexualstraftäter Molina, der mit dem politischen Gefangenen Valentín die Zelle teilt und den virilen Marxisten mit ausschweifenden Beschreibungen von wirklichen und erfundenen Liebesfilmen umgarnt, erkennt sie subversives Potential in einem scheinbar störenden Romanelement: in ausufernden Fußnoten, in denen der bekennende homosexuelle Autor Puig angeblich wissenschaftliche Diskurse zu Homosexualität zitiert und karikiert. Abjekt sind die schmutzige Zelle, Exkremente, schlechte Gerüche, der gefolterte Valentín, der seine stramme Männlichkeit zunehmend verliert, der sexuell uneindeutige Molina, der eine queere Romanze mit Valentín eingeht, das Verschwimmen der Rollengrenzen. Die gewalttätige Normhierarchie der Militärdiktatur wird so mithilfe abjekter Körper demontiert. Gleichzeitig wird zudem die Konstrukt- und Klischeehaftigkeit von Geschlechterbildern entlarvt.

Bei der bislang unübersetzten Chilenin Diamela Eltit (geb. 1949) bietet Phantasie wie die Molinas keinen Ausweg. In „Vaca Sagrada“ (dt. Heilige Kuh, 1991) ist es nicht primär die sexuelle Orientierung, die das gewalttätige Patriarchat der (hier) chilenischen Militärdiktatur unterläuft, sondern der abjekte Körper selbst (der Libertinage frönenden Francisca und des unmännlichen Manuel) mit seinen Körpersäften, insbesondere Blut – Blut als Menstruationsblut wie auch Blut der Gefolterten – der, unablässig beschrieben, Ekel hervorruft, auch beim Lesen. Die abjekten Körper in „Vaca Sagrada“ widersetzen sich dem Gebot der Konformität, scheitern aber letztlich, steigen weder auf noch aus. Rebecca Weber sieht dies als Metapher für die wirtschaftspolitische Stabilität des neoliberalen Chile. Man mag schmunzelnd einwenden, dass die Autorin die Analyse des Romans vor dem 18. Oktober 2019 abschloss. Seither ist das „chilenische Modell“ auf den Straßen (hoffentlich langfristig) effektiv in Frage gestellt.

Auch El Salvador hat eine Diktatur hinter sich. Scheint es. Edgardo Vega, eine der beide Hauptpersonen in „El Asco. Thomas Bernhard en San Salvador“ (1997), von Horacio Castellanos Moya (geb. 1957 in Honduras, aufgewachsen in El Salvador) lehnt den Neubeginn seines Heimatlands als gescheitert zutiefst ab. Daher sein „asco“ (Ekel). Nach Kanada ausgewandert, kehrt er nach San Salvador zurück, um eine Erbschaft zu regeln, und kotzt sich (abjekt!) gegenüber seinem ehemaligen Klassenkameraden Moya so richtig über Land und als obszön idiotisch bezeichnete Leute aus, hierin thematisch dem Österreicher Thomas Bernhard folgend. Die Abwertung El Salvadors folgt dem kolonialen Muster, nach dem Zentralamerika immer respektlos ausgebeutet wurde. Rebecca Weber erkennt hier die Sonderform des Auto-Abjekten: Vega offenbart das Scheitern hegemonialer weißer Männlichkeit gegenüber anderen Männlichkeitsmodellen, da er selbst rassistisch ist und in (Selbst-)Hass aufgeht.

Das gilt auch für den Diktator Rafael Leónidas Trujillo in der Dominikanischen Republik (1930-61). In „La Fiesta del Chivo“ (2000, dt. „Das Fest des Ziegenbocks“, 2001) konterkariert der peruanische Autor Mario Vargas Llosa (geb. 1936) dessen Machtvollkommenheit über seinen Körper. In einer grotesken Maskerade pudert Trujillo sich, um weiß zu erscheinen, und fördert die Einwanderung von Weißen, um die Bevölkerung aufzuhellen. Die (schwarzen) Haitianer*innen werden rassistisch als Unglücksbringende verunglimpft (und verfolgt). Trujillo nutzt Abjektion als Herrschaftsmechanismus. Rebecca Weber beschreibt diese vierte Variante der (Auto-)Dekonstruktion von Allmacht eines Alleinherrschers, deutet aber nur an, dass Vargas Llosa selbst beim wohl zentralsten Herrschaftsverhältnis, nämlich dem Geschlechterverhältnis, unreflektiert aus dem Blickwinkel weißer hegemonialer Männlichkeit schreibt. So muss wieder einmal eine Frau, die 14-jährige Urania, herhalten, um die Machtausübung Trujillos über seinen Staat zu versinnbildlichen, ein klassisches Bild. Alle anderen Frauen sind servil und unpolitisch – Staffage für den Roman. Trujillo wird impotent, als er sie, die Tochter eines Ministers, zu vergewaltigen versucht. Kurz darauf wird er von Verschwörern ermordet. Sprich: Ein wahrer Mann muss Sexprotz sein. Und von Männern getötet, nicht von einer Frau! Frauen leiten Unglück ein, mehr nicht. Die Dekonstruktion Trujillos wird über Urania in Szene gesetzt, sie wird damit Mittel zum Zweck. Ihre Emanzipation ist kein Thema. Auch 30 Jahre nach den Ereignissen sieht sie in jedem sich ihr nähernden Mann Trujillo.

Gerade wo ein geschlechterpolitischer Rollback im Gange ist, wäre die Anwendung des methodischen Ansatzes von Rebecca Weber nicht nur in der literaturwissenschaftlichen Praxis, sondern auch auf deren Praktiker*innen eine Herausforderung.