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Primera Línea: Heimkinder in der ersten Reihe

Beim Aufstand in Chile spielen marginalisierte Jugendliche eine wichtige Rolle

Primera Línea werden diejenigen genannt, die mit Straßenschlachten die Carabineros (Militärpolizei) sowie deren Wasserwerfer und Tränengasgranaten auf Abstand halten und damit die friedlichen Massen­kundgebungen überhaupt erst ermöglichen. Verteidiger*innen des Systems bezeichnen diese „Erste Reihe“ als Vandalen und Lumpen. Für die vielen Chilen*innen, die seit mehr als drei Monaten für ein gerechteres Land und ein Leben in Würde auf die Straße gehen, sind sie die Held*innen des Aufstands.

Alix Arnold

Über dem „Platz der Würde“, der früheren Plaza Italia im Zentrum von Santiago, hängt permanent ein Geruch von Tränengas. Nach Monaten der Auseinandersetzungen ist der Boden von den Wasserwerfern mit CS-Gas und anderen Giften getränkt. Dass hier trotz aller Repression immer wieder Tausende oder manchmal Hunderttausende demonstrieren können, ist den unglaublich mutigen Jungs und Mädels der Primera Línea zu verdanken, die in den Seitenstraßen mit wahrer Todesverachtung gegen die Carabineros kämpfen und diese damit wenigstens für ein paar Stunden in Schach halten. Selbst als der Platz im Dezember mit Gittern abgeriegelt wurde und 1000 Carabineros dort jegliche Demonstration unterbinden sollten, gelang es der Primera Línea, den Platz für die übrigen Demonstrant*innen wieder freizukämpfen.

Primera Línea ist keine Organisation. Aber sie ist bei allen Demonstrationen präsent – nicht nur im Zentrum von Santiago – und bestens organisiert. Die erste Schutzlinie wird von Menschen mit selbstgebastelten Schilden gebildet. Dahinter kommen diejenigen, die Steine, Molotow-Cocktails und andere Gegenstände werfen oder mit teils gigantischen Zwillen verschießen. Einige kümmern sich um die Gasgranaten, werfen sie zurück oder ertränken sie in Kanistern. Von hinten wird der Nachschub an Wurfmaterial geliefert. Die einen hacken das Pflaster auf, andere bringen die Steine nach vorne. In der umkämpften Zone sind kaum noch Pflastersteine zu finden. Im Januar ging ein Video durch die Netzwerke, das einen Lkw zeigt, der auf dem Platz kurz anhält und unter großem Jubel der anwesenden Demonstrant*innen einen Berg Steine abkippt. Um die vielen Verletzten bei den Demonstrationen kümmern sich Sanitätsbrigaden, die ebenfalls ein hohes Risiko eingehen, um Verletzte zu bergen und zu versorgen. Trotz der Härte der Auseinandersetzungen wird rund um den Platz aber auch viel gesungen, getanzt und gefeiert. Bands spielen mit mobilen Anlagen und Anwohner*innen sorgen mit Lautsprechern auf ihren Balkonen für den Soundtrack zum Aufstand.

Über die Zusammensetzung der Primera Línea wird viel spekuliert. Die meisten sind Jugendliche, aber es sind auch Ältere dabei. Neben den vielen schlecht ausgerüsteten Armen beteiligen sich Kinder reicher Eltern, mit Markenklamotten, guten Helmen und Gasmasken. Hinter den Tüchern und Masken stecken aber auch Anarchist*innen, Studierende, Arbeiter*innen, Angestellte und Fußballfans. Eine Gruppe in dieser Mischung wird fast immer besonders erwähnt: die Kinder aus den Heimen des SENAME. Servicio Nacional de Menores ist die staatliche Institution für Kinder- und Jugendschutz. Rund um den Platz sind viele Parolen gegen SENAME zu lesen, denn die Heime sind das Grauen. Im Jahr 2017 wurden nach dem gewaltsamen Tod einer Elfjährigen Ermittlungen zu den 1313 Todesfällen seit 2005 aufgenommen und 240 Heime überprüft. In sämtlichen staatlichen Heimen und fast 90 Prozent der privat betriebenen wurden Verstöße festgestellt, insgesamt 2071 Fälle von systematischer Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. In der Hälfte der Heime war es zu sexuellem Missbrauch gekommen. Die Kinder werden mit Psychopharmaka ruhiggestellt. Da nur bei 23 der Toten eine Obduktion durchgeführt wurde und bei vielen nicht klar ist, wo sie beerdigt wurden, äußerte ein Abgeordneter sogar den Verdacht des Organhandels.

Viele dieser Jugendlichen, die teilweise auf der Straße leben, die eine schreckliche Kindheit hinter sich und eine kaum bessere Zukunft vor sich haben, haben bei der Primera Línea ein neues Zuhause gefunden. Sie haben sich in die Gesellschaft hinein gekämpft und genießen die Sympathie der übrigen Demonstrant*innen. Von Gruppen wie den Lentejas Combativas (Kämpferische Linsen) werden sie mit Suppe versorgt; andere bringen Sandwiches und Getränke. Zu Silvester gab es speziell für die Primera Línea und Obdachlose ein großes Abendessen auf dem Platz der Würde – der Aufstand bringt neue Solidaritäten hervor.

Der Preis durch die Repression ist hoch. 31 Menschen sind in dem Aufstand schon gestorben und Tausende wurden schwer verletzt. Mehr als 400 Menschen haben Verletzungen an den Augen, da die Carabineros mit Schrotkugeln und Gasgranaten gezielt und aus nächster Nähe auf Gesichter zielen. Dem Wasser der Wasserwerfer haben sie Ätznatron beigemischt, das zu schwersten Verbrennungen führt. Neben Pfefferspray und Tränengas setzen sie unbekannte, noch giftigere Gase ein. 2500 Menschen sitzen in U-Haft, mehr als 23000 sind mit Anklagen konfrontiert. Viele wurden bei der Festnahme gefoltert und vergewaltigt. Um einzuschüchtern, wird wieder auf Methoden der Diktatur zurückgegriffen: Demonstrierende wurden von Männern in zivil in Fahrzeuge gezerrt und entführt.

Den Aufstand konnte all das bislang nicht aufhalten. „Sie haben uns alles genommen, sogar die Angst“ ist mehr als nur ein Spruch.